In Deutschland werde die Frage "Was ist deutsch?" immer wieder gestellt. Auch viele berühmte deutsche Persönlichkeiten, von Richard Wagner bis hin zu Theodor Adorno, hätten sich in ausführlichen Essays mit dieser Frage beschäftigt. "Etwas vergleichbares gibt es nirgends", sagte der Germanist Dieter Borchmeyer im Dlf.
Deutsch zu sein habe im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation zunächst einmal bedeutet, die deutsche Sprache zu sprechen. In diesem Vielvölkerreich sei die deutsche Sprache als Volkssprache dominierend gewesen. Deutsch zu sein sei keine politische, sondern eine kulturelle Angelegenheit gewesen.
"Deutschland existiert als politische Einheit, als Nation im modernen Sinne, erst seit 1871. Vorher gab es das längst verfallene, zur Hohlform gewordene Heilige Römische Reich deutscher Nation, bis Napoleon das 1806 aufgelöst hat - und danach gab es nur noch die reine Kleinstaaterei." Das sei auch schon vorher das Problem gewesen, sonst wäre der 30-jährige Krieg gar nicht möglich gewesen. "Politisches und geistiges Deutschland war nie identisch", so Borchmeyer. Das habe auch Schiller gemeint mit seinen Worten: "Wo das gelehrte beginnt, hört das politische auf".
"Unter dieser Schizophrenie hat Deutschland auch vielfach gelitten"
Die Zweiteilung - Deutschland als Kulturnation und Deutschland als Staatsnation - sei etwas Problematisches. "Unter dieser Schizophrenie hat Deutschland auch vielfach gelitten."
Heute sei Schillers Satz nicht mehr aktuell, denn es gebe, ausgenommen von Österreich und der deutschsprachigen Schweiz, außerhalb des politischen Deutschlands "leider keine deutsche Kultur mehr". Früher sei die deutsche Kultur in den baltischen Ländern verbreitet gewesen, sie sei als Elite-Kultur angesehen worden. In Polen und Russland sei die deutsche Kultur vor allem durch die Juden repräsentiert gewesen, die dann von den Nationalsozialisten ausgerottet worden seien.
"Heute gibt es keine echten deutschen Provinzen mehr außerhalb des politischen Deutschlands. Die Kulturnation ist auf die politische Nation geschrumpft."
"Europa und Nation nicht gegeneinander ausspielen"
Er glaube nicht daran, dass das Pendel in Deutschland zum starken Nationalismus ausschlage, so Borchmeyer. Die AfD sei zwar die stärkste Oppositionspartei im Bundestag, "aber es gibt doch die europäische Gegenrichtung, die doch immer noch dominiert. Vor allem unter den Intellektuellen denkt man doch europäisch. Aber ich glaube, es ist ganz gefährlich, wenn man immer so tut, ach wir wollen doch keine Deutschen, wir wollen nur noch Europäer sein. Wenn man das tut, verschafft man der neuen Rechten zusätzliche Stimmen."
Man sollte beides im Gleichgewicht halten, es gebe kein Europa ohne Nationen, meint Borchmeyer. Europa sei ein Konglomerat von nationalen Traditionen und Mentalitäten - anders als in Amerika. "Europa und Nation sollte man nicht gegeneinander ausspielen, sondern beide ins Gleichgewicht bringen." Dann werde die neue rechte Bewegung absterben.
Dieter Borchmeyer: Was ist deutsch?: Die Suche einer Nation nach sich selbst
Rowohlt Verlag, Berlin 2017. 1056 Seiten, 39.95 Euro.
Rowohlt Verlag, Berlin 2017. 1056 Seiten, 39.95 Euro.