Päivi holt ein dampfendes Brot aus dem Ofen und zeigt auf einen Holzstuhl, der nach Markendesign aussieht, tatsächlich aber von ihrem Mann Antti gefertigt ist: in der Schule, im Werkunterricht.
Dieser Beitrag gehört zur fünfteiligen Reportagereihe "Was ist finnisch?" in der Sendung "Gesichter Europas.
Weil man damals keine Nägel hatte, sind auch die Verbindungsstücke aus Holz – ein Symbol dafür, warum Finnland zum Ingenieursland geworden ist:
"Finnland war bis zum Zweiten Weltkrieg ein armes Land, dünn besiedelt sowieso. Wenn man was brauchte, machte man es selbst. Ich bin 60, ich habe als Kind nähen gelernt, meine Mutter machte alle Kleider selbst. Man war und ist es gewöhnt, selbst ein Lösung zu finden. Wenn ich einen Stuhl brauche, muss ich mir eben eine Konstruktion einfallen lassen. Und von da ist es nicht weit zu technologischen Lösungen."
"Sisu" heißt, dass man nicht nach- oder aufgibt
Solange das Brot abkühlt, will Päivi noch Holz hacken: Vorräte für den Winter.
"Das ist ein guter Kontrast zur Kopfarbeit, bei der man nicht immer ein sichtbares Ergebnis hat. Beim Holzhacken sieht man, was man getan hat. Außerdem ist physische Arbeit ein Teil von mir, ich brauche sie."
In Finnland setzte die Urbanisierung erst in den 60er-Jahren ein, noch die Elterngeneration von Päivi bestand fast durchweg aus Bauern. Man lebte draußen in der Natur – die sich auch in vielen Namen widerspiegelt. Meri, Meer, ist ein Vorname, oder Lumi, Schnee. Das Tahko aus Päivi Tahkokallio bezeichnet einen runden, geschliffenen Stein. Kallio heißt Felsen.
Und was im Leben mit der Natur alle verbindet, sei Sisu, sagt Päivi. Sisu heißt, dass man nicht nach- oder aufgibt. Sisu heißt, der Finne lässt sich nicht unterkriegen, auch wenn die Lage aussichtslos scheint.
"Wir sind hier wenige Leute in einem großen Land"
"Klar gibt’s Sisu auch woanders. Aber wir sind hier wenige Leute in einem großen Land. Wir mussten immer allein klarkommen, auch unter der Herrschaft von Schweden und Russen. Wir haben die Unabhängigkeit ja erst seit 100 Jahren, und wir haben sie hart erkämpft. Das war eine schwere Zeit, ebenso wie der Krieg. Alles musste weiterlaufen damals. Im Winter sowieso – und das ist ja die Hälfte des Jahres hier oben."
In Muitu kommt der Schnee im Oktober, und er geht im Mai. Auch bei 40 Grad Frost muss alles funktionieren, die Kinder zur Schule gehen. Wenn das Auto nicht mehr anspringt, geht man wenn möglich zu Fuß. Man sieht die Dinge pragmatisch. Im südfinnischen Eurajoki entsteht neben einem neuen AKW gerade ein Endlager. Begeistert sind die Leute nicht, aber sie sagen sich: Immerhin bringt das Arbeitsplätze und Steuereinnahmen. Protestiert hat kaum jemand.
Rovaniemi wurde von den Nazis niedergebrannt
Zurück in Rovaniemi. Ein kleiner Ort, flache, schmucklose Häuser. Hier lebt Päivi seit acht Jahren, mit einem Zwischenjahr in Berlin. Und sie sieht Parallelen zwischen beiden Städten.
"Sie sind ästhetisch nicht preisverdächtig. Aber das macht sie interessant. Man will wissen, was dahinter steht. Ich finde die Atmosphäre, die Art, eine Stadt zu sein, vergleichbar. Beide haben eine harte Kriegsvergangenheit: Berlin hat seine Nazi-Geschichte und in Rovaniemi waren Wehrmachtssoldaten stationiert, die auf ihrem Rückzug die Stadt abfackelten."
Jahrelang lebten damals mehr deutsche Soldaten als finnische Einwohner in Lappland, zusammen mit den Finnen kämpften sie gegen Russland. Als diese aber mit den Russen einen Friedensvertrag schlossen, mussten die Deutschen abziehen. Freundschaften und Liebesbeziehungen gingen in die Brüche.
"Das war traumatisch. Es ist 70 Jahre her. Das ist einerseits eine kurze Zeit. Aber die Erinnerung des Menschen in diesen Dingen ist lang."
In Berlin sei Geschichte präsent, in Finnland schweige man
Der Unterschied zwischen Rovaniemi und Berlin: In Berlin sei Geschichte immer präsent, in Ausstellungen oder Diskussionen. In Finnland schweige man. Päivis Vater erkrankte nach dem Krieg an Schizophrenie. Auch er hat nie erzählt, an welchen schlimmen Erlebnissen sein Verstand zerbrochen ist.
"Ich denke, ich kann einfach nur wertschätzen, dass er und seine Mitstreiter für die Unabhängigkeit gekämpft haben, dafür, dass Finnland finnisch bleibt. Das Finnischsein ist durch die Kriegserfahrungen entstanden, vielleicht darf man das so sagen. Bestimmt hat auch die lange Fremdherrschaft mit dem Schweigen zu tun: Man wollte nicht bestraft werden, also war man gehorsam, schluckte alles runter und schwieg."
Mit dem Tango ließ sich alles Unausgesprochene sagen
Dafür kreierten die Finnen eine Musik voller Poesie und mit einer Leidenschaft, mit der sie gern über ihre russischen Herrscher geklagt hätten: Mit dem Tango konnten sie alles Unausgesprochene sagen. Das Lied "Siks' oon mä suruinen" – "So traurig und allein" machte den Tango endgültig zur Volksmusik.
In Finnland ist vieles eben oft leichter getan als gesagt. Deshalb gilt auch einfach nur Da-Sein als Kommunikation. Konkrete Taten, Hilfsbereitschaft. Und es gibt durchaus Finnen, die pausenlos reden.