"Wir haben schon viele Finnen kennengelernt, aber wir sind nie an sie herangekommen. Hier in Posio fühlen wir uns endlich nicht wie Flüchtlinge, sondern wie Menschen. In unserer eigenen Familie. Wir wissen, dass der Workshop viel kostet, auch viel Zeit. Das wissen wir zu schätzen, weil wir wissen, dass Zeit für euch Finnen etwas sehr Kostbares ist."
Dieser Beitrag gehört zur fünfteiligen Reportagereihe "Was ist finnisch?" in der Sendung "Gesichter Europas.
Sechs Asylbewerber, sieben Einheimische. Eine lange Tafel. Vor den Fenstern Kiefernzweige, Heidelbeeren, vom Haus führt ein steiler Steg hinunter zum See.
Die Runde hat gegessen, es ist spät geworden. Moein kommt aus dem Irak. Er stellt fest: Der typische finnische Mann verliert nicht ein Wort zu viel.
"Wäre ich hier Asylbewerber – ich würde verrückt werden"
Päivi Tahkokallio setzt dem Abend ein Ende. Sie trägt eine markante schwarze Brille, und knallrote Farbe auf den Lippen. Die 60-Jährige ist strategische Designerin: Sie organisiert Designmessen wie die Arctic Design Week, und Events oder Seminare, die den Gesellschaftswandel abbilden.
Die demografische Entwicklung zum Beispiel – oder eben den Zuzug von Flüchtlingen. Einen Anstieg von 822 Prozent hat es in Finnland zuletzt gegeben – aber auch nur, weil vorher quasi keine da waren.
"Wenn ich hier Asylbewerber wäre und so isoliert leben würde für zwei Jahre – ich würde verrückt werden."
Päivi ist bewusst, dass viele Finnen Vorurteile gegenüber Asylbewerbern haben. Nicht zufällig sitzen die Rechtspopulisten seit ein paar Jahren in der Regierung.
Vorurteile: bei Zusammenarbeit schwer aufrechtzuerhalten
Päivi und die Flüchtlinge sind fast Nachbarn, alle leben im selben Ort, in Rovaniemi anderthalb Stunden von hier. Aber bisher haben sie in getrennten Welten gelebt. Aus diesem Bewusstsein heraus ist auch ihr neues Projekt entstanden, mit dem sie die Menschen zusammenbringen will: Wenn man gemeinsam etwas auf die Beine stelle, sei es schwer, Vorurteile aufrecht zu erhalten.
Also hat sie diesen Workshop organisiert: Einheimische und Flüchtlinge verbringen fünf Tage miteinander: Unter Anleitung der berühmten finnischen Keramikkünstlerin Anu Pentik entwerfen sie in der nördlichsten Keramikwerkstatt der Welt Teller und kochen zusammen.
Keine Selbstverständlichkeit in Finnland, wo die Menschen eher für sich sind, und verschlossen.
"Finnen brauchen einen Rahmen, um sich zu öffnen"
"Das ist auch so ein Mythos. Aber die Finnen brauchen Zeit. Und einen Rahmen, in dem sie sich öffnen können. So wie diese Woche – hier geht das ganz einfach!"
Als Päivi am nächsten Morgen zum Frühstück kommt, singen die Männer erst mal laut für sie.
Ali ist längst wach, wegen seiner Alpträume. Also ist er früh aufgestanden, und hat Würstchen gebraten. Daneben hat er finnisches Roggenbrot drapiert, in einem Topf köchelt der Haferbrei. Päivis Mitstreiterin Karoliina holt eine Schüssel mit Moltebeeren aus dem Kühlschrank.
"Do you know these...? Lakka?
Sie sehen aus wie orangefarbene Brombeeren. Auf Englisch heißen sie Wolkenbeeren.
Alle Flüchtlinge hier sind von der Abschiebung bedroht
Die Iraker scannen die Nachrichten. In Mekka wurde jemand regelrecht abgeschlachtet. Seit zwei Jahren sind sie hier, alle erzählen eine Geschichte von Folter und Verfolgung. Und alle sollen abgeschoben werden: Nicht erst seit dem Anschlag in Turku verfolgt die Regierung eine rigide Flüchtlingspolitik.
Dabei fühlen die sechs Männer sich hier am Ende der Welt fast schon wie Zuhause. Auch, wenn Ali sich wundert, dass seine finnische Freundin immer Pläne für den Tag macht, so durchorganisiert ist. Heute hat aber auch er einen klaren Plan: Kochen für 30 Gäste aus dem Ort, die am Abend zum Essen eingeladen sind. Bis dahin ist noch viel zu tun.
Die Truppe fährt noch weiter raus, 20 Kilometer Landstraße nach Timisjärvi, zu einer alten Rentierfarm, heute ein Kunstzentrum, wo das Abendessen stattfinden soll.
Den Tisch für 30 Personen bauen sie vor dem Essen selbst
Kurz nach ihrer Ankunft kniet der irakische Bauingenieur Hossein zusammen mit einem strohblonden Schreiner vor ein paar Holzbalken im Kies. Sie bauen einen Tisch, auf dem später das Essen und die selbst gemachten Teller stehen sollen. Auch in der Küche laufen die Vorbereitungen.
Es ist eine besondere Woche für beide Seiten. So viel Emotionalität ist selten in Finnland.
"Manchmal sehe ich Finnen mit Hunden und frage mich: Warum seid ihr nicht mit Freunden unterwegs? Die Leute hier sind isolierter, ihr bester Freund ist der Hund."
"Wenn ein Finne dir was verspricht, das ist ein Vertrag"
"Okay, sie sind gern in ihrer Sicherheitszone, aber wenn man auf sie zugeht, sind sie sehr freundlich. Die Männer sind still. So wie Topi. Er hört zu und redet nicht viel. Er drückt sich mit Taten aus, wie ein typischer Finne. Das ist pur und echt. Was die Finnen sagen, kommt von Herzen, ist keine Formalität. Das spürt man. Und wenn ein Finne dir was verspricht, das ist ein Vertrag. Das mag ich."
Abgesehen vom Eislochfischen mag Moein auch die Natur: Genauso echt sei sie wie die Menschen. Und unberührt. Tatsächlich ist sie den Finnen heilig.
Lied zum nationalen Tag der Natur
Päivi steht vor dem ersten Gast im Kunstzentrum, dem Chor Lapin Ruskan Naiset – und kündigt das erste Lied zu Ehren des nationalen Tags der Natur an, der weltweit einzigartig ist.
Dann singt der Chor die Nationalhymne – und alle sind begeistert.