Gleich geht es los. Fünf Stunden Autofahrt nach Muitu. Muitu heißt auf Samisch Erinnerung. So haben Päivi und ihr Mann Antti ihr Grundstück genannt – immerhin haben sie dort eine 3000 Jahre alte Feuerstelle gefunden, am Inarisee. Viel weiter im Norden geht nicht. Natur und Klima sind hier extremer als im "Süden". Die Menschen leben im Rhythmus der Natur.
Gleich hinter Rovaniemi fährt Päivi an Korvatunturi vorbei – hier wohnt der Weihnachtsmann. Er hat die erste Reisewelle in den 80er-Jahren befördert – damals kamen Touristen sogar per Concorde. Mittlerweile ist der Tourismus der wichtigste Wirtschaftsfaktor in Lappland.
Man lockt mit der Ruhe, aber mit Touristen ist es nicht ruhig
Der Haken: "Man lockt die Gäste mit der unberührten Natur und der Ruhe. Aber wenn immer mehr kommen, ist es nicht mehr still und ruhig."
Die Natur leidet unter immer mehr Menschen, Motorschlitten, Lärm. Dazu kommen der Klimawandel und der boomende Bergbau. Alles zusammen gefährdet auch die Rentierzucht, ein Kernstück der samischen Kultur.
Die Fahrt führt durch die endlose, teils noch unberührte Tundra. Immer wieder Schilder mit Rentierwarnungen – und dann auch ein Rentier.
"Rentiere stehen ja dumm rum und sind ziemlich klein. Wenn man einen Unfall hat, ist das für Menschen nicht so gefährlich. Aber gerade in der Jagdzeit im September muss man wegen der Elche aufpassen. Vor allem in der Dämmerung und früh morgens."
Sucht jemand Zuflucht, stehen die Saunatüren überall offen
Zwei Stunden später taucht der Inari-See zwischen den Kiefernstämmen auf. Die Zufahrt ist holprig, sie führt vorbei an einem selbst gebauten Schuppen mit Brennholz.
Die Heizung war nicht an, im Haus sind es 15 Grad. Aber die Holzscheite liegen fertig gestapelt im Ofen – das ist Tradition in Lappland: Wenn in der Einöde jemand in Not gerät und Zuflucht in der Wärme sucht, stehen die Saunatüren überall offen.
Päivi liebt das Geräusch von Feuer. Vielleicht, meint sie, weil es den Menschen in den Genen liegt – es ist oder war ja lebensnotwendig.
Als nächstes kommt das Feuer in der Sauna, der Kessel neben dem Ofen ist mit Seewasser gefüllt. Im Winter kann es anderthalb Stunden dauern, bis die Sauna warm ist – Zeit genug, um ein Eisloch zu bohren, um an Wasser für den Kessel zu kommen.
Geschwommen wird zu jeder Jahreszeit – auch bei neun Grad
Die Sauna ist nach einer halben Stunde warm. Am Steg baumelt ein Thermometer im Wasser. Neun Grad. Aber geschwommen wird zu jeder Jahreszeit.
Nach der Sauna setzt sich Päivi in ihren Schaukelstuhl, öffnet eine Flasche Bier. Nur eine große Fensterfront trennt den Raum vom See und einem ganzen Feld aus Heidelbeeren. Angeblich sammelt jeder Finne im Schnitt zehn Liter Beeren pro Jahr.
"Also Antti und ich haben dieses Jahr allein 45 Liter Moltebeeren gesammelt. Dazu 20 bis 40 Liter Preiselbeeren und ebenso viele Heidelbeeren. Das ist wenig im Vergleich zu den andern hier. Aber wahrscheinlich schon mehr, als die Städter sammeln."
"Ich brauche keine drei Wochen Urlaub, ein Tag im Wald reicht"
Päivi steigt in ihre Gummistiefel, und zieht die Kapuze gegen den Nieselregen über.
Der Wald fängt direkt vor der Haustür an. Er riecht nach Tanne und weichem grünen Moos.
"Der Wald ist für mich ein Entspannungsort, gerade nach dem intensiven Workshop, dem Alarmmodus die ganze Woche. Wenn ich in der Natur einfach atme, ist alles gut. Ich brauche keine drei Wochen Urlaub. Ein Tag im Wald reicht. Der Wald ist vielen Finnen sehr wichtig, das hat schon religiöse Züge. Bevor das Christentum nach Lappland kam, vor 300, 400 Jahren, haben die Menschen hier an die Natur geglaubt, an Waldgötter. Der Wald ist ihnen heilig, das ist tief verwurzelt."
Es gibt Beeren und es gibt Bären
Der Wald spielt auch wirtschaftlich eine tragende Rolle. Trotz der Krise der Papierindustrie generiert die Forstwirtschaft immer noch 20 Prozent der Exporte. Früher war es die klassische Papierindustrie, heute denkt man um und weiter: Es werden zellulose-basierte Textilfasern entwickelt, oder Pilze für Kosmetika genutzt.
Es gibt Beeren und es gibt Bären: Päivi entdeckt einen Haufen Bärenkot.
"Elchkot sieht ganz ähnlich aus. Der Unterschied: Bärenkot ist ganz schwarz, auch innen. Und hier, das ist von einem Rentier. So kleine Dinger."
Und dann findet sie nicht nur einen Steinpilz, sondern gleich drei Matsutake, "Männyntuoksuvalmuska": Dieser Pilz kostet auf dem Markt bis zu 1.000 Euro pro Kilo.
"Der Wald rückt die Verhältnisse zurecht"
"Der Wald rückt die Verhältnisse zurecht: Die großen Bäume, die Natur, bewahren den Menschen davor, sich zu wichtig zu fühlen. Du bist ein so kleiner Teil. Und die Natur ist viel stärker. Die Finnen sind ein bescheidenes Volk, wir loben uns selten, wie gut wir sind. Vielleicht liegt das daran, dass wir so einen Bezug zur Natur haben und verstehen, wie klein wir sind und wie groß die Natur."
Zurück im Haus brät Päivi die Pilze an, dazu gibt es Renke, selbstgefischt.
"Man muss eine Abmachung machen mit sich selbst"
In ein paar Jahren, wenn sie in Rente geht, will Päivi mit ihrem Mann ganz hier leben. Sie weiß, was das bedeutet. Im Alter an einem Ort sein, von dem das nächste Spital 100 Kilometer entfernt ist.
"Wenn ich einen Herzinfarkt habe oder mir die Axt ins Bein schlage, kann es sein, dass ich hier sterbe. Man muss sich das gut überlegen. Man muss eine Abmachung machen mit sich selbst."