Es ist immer die erste Adresse für Päivi Tahkokallio, wenn sie nach Helsinki kommt: Das Café Ekman auf dem Bulevardi im Zentrum, hundert Meter entfernt vom Ostseehafen:
"Es ist ein sehr altes Café. Als ich nach Helsinki kam zum Studieren, war es das erste, in das ich gegangen bin. Und es sieht noch haargenau so aus!"
Aber sonst hat sich viel verändert in der finnischen Gesellschaft, die als so beispielhaft gilt: Pisa, Wohlfahrtsstaat, Aufrichtigkeit. Tatsächlich gibt es auch hier Korruption, sagt Päivi. Allein schon, weil sich die Leute in kleinen Kreisen bewegen und kennen.
Die Selbstmordrate ist nicht nur unter Jugendlichen hoch
Päivi kennt die Stadt auch bei Nacht, kennt ihre rohen und tragischen Seiten, wenn Betrunkene auf den Bürgersteigen liegen. Die Selbstmordrate ist nicht nur unter Jugendlichen hoch. Kürzlich wurde bekannt, dass ein Drittel der Polizisten in Helsinki in rassistischen Kreisen aktiv ist. Päivi glaubt, dass das daran liegt, dass Finnland klein ist und abgelegen, und als Gesellschaft immer sehr homogen und lutherisch geprägt war.
"Wenn jetzt Leute mit anderen Religionen kommen, ist das furchteinflößend. Wir waren so lang unter uns, da entsteht leicht so ein 'Das ist unsers'. Aber man muss sich mal klarmachen, was heißt es, als Finnisch zu sein: Jeder hat jemanden in der Familie, der von woanders kam, es gibt kein 'reines' Finnischsein. Diese Leute vergessen, dass viele Finnland verlassen haben, um Sicherheit und Arbeit zu finden. Sie vergessen, dass man uns aufgenommen hat, in Schweden und den USA."
Finnland hat Nokia-Depression überwunden
Aber spätestens seit dem Terroranschlag in Turku im Sommer ist für viele Finnen eine Welt zusammengebrochen. Finnland ist keine Insel mehr. Die Regierung hat sich schon darangemacht, die Asylgesetzgebung zu verschärfen.
Und noch etwas hat sich verändert: Finnland hat sich von seiner Nokia-Depression erholt, viele Ex-Nokianer haben mit ihrem Know-how neue Unternehmen gegründet. Dass die Wirtschaft erstmals nach zehn Jahren wieder wächst, hat sie auch einem Start-up-Boom zu verdanken – und einem Mentalitätswandel.
"Unsere Jugend ist mutiger, als wir es waren"
"Die Finnen stehen traditionell gern mit den Füßen fest auf dem Boden, sie sind vorsichtig: Man macht nur, was bestimmt funktioniert. Die jüngere Generation tickt anders, auch digitaler. Mit erfolgreichen Start-ups wie Rovio oder Supercell bewegen sie sich in der Spielewelt, das ist neues Terrain. Die Gründer wussten ja nicht, ob's klappt, sie haben einfach gemacht. Unsere Jugend ist mutiger, als wir es waren."
Päivi findet, dass diese neue Stimmung das Land nicht nur technologisch und digital weiter bringt. Finnland wandle sich zum Testlabor. Es wird experimentiert. Das Kunstmuseum Ateneum allerdings hält sich an die Tradition: Banner kündigen eine Sonderausstellung zu Alvar Aalto an, DEM finnischen Designer und Architekten. Päivi ist ins Museumcafé gekommen und hat eine Flasche Wein bestellt.
"Die unberechenbare Großmacht neben uns"
Auch Päivis Mann Antti, ein Politikjournalist, ist gerade auf Geschäftsreise in Helsinki. Als er im Café ankommt, umarmen sich die beiden erst einmal. Päivi steht dabei fast auf Zehenspitzen: Sie ist klein und zart, er groß und bärig. Antti hat ein gutmütiges Gesicht, er beginnt von seinem Tag zu erzählen: Von seinem Interview mit dem Premierminister. Ein Thema: Die Beziehung zu Russland – sie ist kompliziert. Schon der Gedanke, dass Russland Finnland angreifen könnte, sei für die ältere Generation ketzerisch, sagt Antti.
"Die alte Politikergeneration fürchtet Russland immer noch. Es ist eben die unberechenbare Großmacht neben uns. Aber auch wenn das Szenario weit hergeholt ist, es ist nicht undenkbar: Sollten Nato und Russland sich bekämpfen – bleibt Finnland dann neutral?"
Kleine Test-Eingriffe von russischer Seite
Päivi bezeichnet sich als Patriotin. Und fragt sich oft, was das eigentlich bedeutet. Und weil ihr Mann Antti auch noch Chefredakteur der Lappland-Zeitung Lapin Kansa ist, sind finnische Politik- und Gesellschaftsfragen oft Thema beim Abendessen. Meistens sind sich beide ziemlich einig. Zum Beispiel, als 2013 der Ukraine-Konflikt ausbrach. Damals fürchteten viele Finnen, dass Russland versuchen könnte, seine Machtsphäre auch wieder nach Westen auszudehnen. Päivi und Antti glaubten nicht ernsthaft an einen Einmarsch. Aber Sorgen macht ihnen der Nachbar schon.
"Es gibt keinen großen offenen Krieg, aber schon eine Art Hybridkrieg. 2015 zum Beispiel öffnete Russland ganz im Norden bei Salla die Grenze für Flüchtlinge. Das war ein Test, wie Finnland sich verhalten würde. Oder das AKW, das gerade im westfinnischen Pyhäjoki mit russischer Beteiligung gebaut wird. Die Russen sind froh, dass sie durch diese große Investition im Westen die Hände mit im Spiel haben. Immerhin geht es um die Versorgungssicherheit. Und wenn die teilweise in russischer Hand ist, ist das auch ein wirkungsvolles politisches Druckmittel."
In der Bar der Kaurismäki-Brüder läuft kein Tango
Als das Museumscafé schließt, beschließen Antti und Päivi, noch auf einen Absacker in das Jugendstil-Viertel Eira zu wechseln. In der Moskwa-Bar, die den Kaurismäki-Brüdern gehört, bestellen die beiden einen ziemlich finnischen Salmiakschnaps. Nur: Heute läuft kein finnischer Tango, wie man ihn aus den Filmen kennt – sondern russische Polka.