"Wir alle stehen auf den Schultern von Karl Marx", formulierte vor mehr als 50 Jahren der Sozialwissenschaftler und Jesuitenprofessor Oswald von Nell Breuning. Ungewöhnlich für einen katholischen Theologen. Aber konsequent. Nell Breuning trug sicher zum Überleben mancher linker Gedanken mehr bei als viele Salon-Linke. Robert Misik kommt in seinem bewusst kurz gehaltenen Buch zu einem ähnlichen Urteil, das er auf den italienischen Kommunisten Antonio Gramsci stützt, der 1937 starb:
"Wir sind heute alle Marxisten, irgendwie. Man muss leider hinzufügen: Viel zu viele sind heute Vulgärmarxisten, irgendwie. Aber vielleicht kann man diesen beiden Sätze auch in einem vereinen: Wir können heute gar nicht mehr nicht Marxisten sein - wir können es bloß auf klügere oder dümmere Weise sein."
Wenn man von der Linken in Deutschland spricht, dann denken viele zunächst an die gleichnamige Partei, was viele verärgert, die sich auch außerhalb der Partei als links definieren, viele Sozialdemokraten etwa. Syriza in Griechenland und Podemos in Spanien,sowie der neue Labour-Chef im Vereinigten Königreich Jeremy Corbyn sind neue linke Hoffnungsträger. Der Wiener Journalist Misik beschreibt, was sie als Linke vereint,
"Gemeinsam ist ihnen und ihren Projekten, das sind ja auch zum Teil Parteiprojekte, nicht nur individuelle Projekte, dass sie mal wieder deutlich machen, dass es nicht nur eine Politik der Mitte ist, die sozusagen keine Alternativen mehr kennt, wo die Wähler schon allein deswegen frustriert sind, weil sie das Gefühl haben, ich kann die einen wählen oder die anderen, aber das Ergebnis ist das Gleiche. Nehmen wir Tsipras, nehmen wir Iglesias von Podemos, nehmen wir auch Bernie Sanders in den USA, nehmen wir Corbyn dazu, die natürlich auch punkten mit diesem Attribut: Sie sind anders, sie sind noch echt, sie sind authentisch. Das heißt, man nimmt ihnen ab, für ihre Überzeugungen zu stehen und nicht nur irgendwelchen Wahlumfragen, die sozusagen irgendeine Mitte ausweisen, eine imaginäre, an die man sich anpasst, dass sie denen nicht nur nachdackeln gewissermaßen."
Zersplitterung führt mitunter zu geringer Durchsetzungskraft der Linken
Zentrale These des Buches von Robert Misik: Die Ideen der Linken seit Karl Marx seien mittlerweile zu Sedimenten im Getriebe unserer Ideenwelt geworden, und gerade darin beweise sich die Stärke einer Philosophie, so Misik: Wenn sie in den Alltagsverstand eingeht und ihre Postulate von vielen Leuten wie selbstverständlich geteilt werden .
"Es gibt sozusagen, wie kann man das nennen, ein Mosaik linker Grundpostulate , die alle sich theoretisch begründen lassen, selbst von vielen Leuten geteilt werden, die diese Theorien gar nie gelesen haben. Dazu gehört natürlich eine Vorstellung von sozialer Gerechtigkeit, dass jeder Mensch das Recht hat, in Würde zu leben und die gleichen Möglichkeiten zu haben, ein gewisses Minimum nicht unterschreiten soll. Dazu gehören aber auch Vorstellungen, was macht ein gelungenes Leben aus? Wenn man sich das anschaut, wo kommt das eigentlich her, dann sind da Theoriebausteine von der Entfremdungskritik Marx drin, genauso wie von Sartres Existenzialismus."
Der Autor ist ein Vielschreiber und lotet nahezu im Jahresrhythmus aus, wie die Linke sich im 21. Jahrhundert neu aufstellen muss. In seinem neuesten Buch reißt Misik vieles an, was in den 167 Jahren seit Veröffentlichung des "Kommunistischen Manifestes" auf dem Ideenmarkt gedruckt worden ist. Manche der Theorien haben sich als nicht haltbar erwiesen, weil der Kapitalismus sich wendig angepasst hat. So reift bei vielen Linken die Einsicht, dass im demokratischen Wettbewerb bestehen können muss.
"Sehr viele Linke haben heute ein instinktives Bewusstsein davon, dass soziale und demokratische Fortschritte nur dann glücken können, wenn es gelingt, eine Mehrheit oder zumindest eine relevante Minderheit der Bürger mit einem linken Narrativ zu überzeugen und die verschiedenen Milieus und Subgruppen der Linken dazu zu bringen, an einem Strang zu ziehen - Gramsci hätte gesagt, wenn es gelingt 'einen historischen Block' zu formieren. Die zersplitterte Linke, die sich den hegemonialen Ideen unterwirft und das Bild von Geschlagenen vermittelt, wird dazu nicht in der Lage sein."
Statt der Linken sind gegenwärtig die Rechtspopulisten im Vormarsch, von Finnland bis Österreich, von Großbritannien über Frankreich bis Polen. Was hindert die Linke in Europa daran, Mehrheiten zu erringen?
"Erstens mal, dass man sich angepasst hat an eine imaginäre Mitte und damit Glaubwürdigkeit verloren hat. Dass man auch einen Politikertypus hochkommen hat lassen, der erst mal gesagt hat, oh wir sind modern und nicht mehr so verstaubt. Und fünf, sechs Jahre später haben die Leute das Gefühl gehabt, alle schauen gleich aus. Also, dass man das Gefühl hat, es gibt da einen Elitentypus von Politik, der die normalen Leute nicht mehr vertritt."
Robert Misik erörtert, wie John Meynard Keynes und seine Wirtschaftstheorie von der heutigen Linken in Teilen umgesetzt wird - zumindest versuchen es die, die regieren. Gleichzeitig beklagt er, dass in der modernen Linken zu wenige sich wirklich mit der Wirtschaft und ihren makroökonomischen Aspekten auseinandersetzen.
"Wahrscheinlich ist es das Akkurateste, wenn man sagt, dass die keynesianische Wirtschaftstheorie, angereichert durch eine Prise Grundmisstrauen und Fundamentalkritik am Kapitalismus als solchem, zum - manchmal ein wenig widersprüchlichen - ökonomischen Denken der Linken geworden ist. Man hat sich gewissermaßen bei Keynes bedient, beziehungsweise bei Forschern und Experten in dessen Nachfolge. Verglichen mit der "Kulturkompetenz" oder "Genderkompetenz" der Linken im weitesten Sinne ist ihre "Wirtschaftskompetenz" durchaus verbesserbar, um es salopp zu sagen. Oder knapp und knackig: Da ist noch etwas Luft nach oben."
Misik erhebt nicht den Anspruch, Linkssein heute neu zu definieren. Aber seine ideengeschichtliche Zusammenfassung vermag immerhin in Kürze darzustellen, worauf sich Linke bis heute berufen und woran sie weiterarbeiten müssen, wollen sie ihre Bedeutung vermehren.
Robert Misik: "Was Linke denken. Ideen von Marx über Gramsci zu Adorno, Habermas, Foucault & Co"
Oicus Verlag, Wien 2015
Oicus Verlag, Wien 2015