"Der Anfang des Elends in der Kinderliteratur", schrieb 1929 Walter Benjamin in seinem Rundfunkvortrag Kinderliteratur "lässt sich mit einem Wort bezeichnen: Es war der Augenblick, als sie in die Hände der Spezialisten fiel." Dieses vernichtende Urteil Benjamins ist noch nicht vollkommen überholt. Und so stellt sich die Frage: Geht es auch anders? Das Wunderschirm-Buch gibt darauf eine eindeutige Antwort: Kindheitsmuster, wozu eben auch die prägenden Leseerfahrungen gehören, sollten nicht dekonstruiert, das heißt zerstört werden, wie es so oft in Schulen und im literaturwissenschaftlichen Betrieb der Fall war und eben zum Teil noch ist. Diese Einsicht ist der gemeinsame Nenner aller Autoren des Buches "Unter dem roten Wunderschirm". Produktiver, interessanter und im lesebiografischen Sinne förderlicher sei es doch, so die beiden Herausgeber, Christoph Bräuer und Wolfgang Wangerin, Lesarten verschiedener Lebensphasen wie auch historischer Epochen zwar aufzudecken, aber sie neben neuen Sichtweisen gelten zu lassen.
"Diese Lesarten stehen neben früheren Lesarten, nicht an ihrer Stellen, sie bedrohen frühere, andere Rezeptionen nicht, sondern bereichern sie. Lesen ist ein aktiv-konstruktiver Prozess, der prinzipiell unabgeschlossen und offen für neue, andere Zugänge, Eindrücke und Deutungen ist."
So die beiden Spezialisten für Kinder- und Jugendliteratur in ihrem Vorwort zu 26 literaturwissenschaftlichen Beiträgen, die sich paarweise unter jeweils einem stichwortartigen Sammelbegriff zusammenfinden - also beispielsweise Stichwort Mädchen, Romantiker, Reisende, Ungezogene oder Abenteurer. Dieser Reigen mit Betrachtungen klassischer Kinder- und Jugendliteratur wird eröffnet mit zwei Universalgelehrten des 17. und 18. Jahrhunderts, nämlich mit Johann Amos Comenius und Johann Bernhard Basedow und ihren für damalige Zeiten sehr fortschrittlichen pädagogischen Schriften, und hört auf mit Joanne K. Rowlings "Harry Potter". Aber die zeitliche Einordnung ist hier nicht das entscheidende Kriterium.
Das Buch hat ein intelligenteres Verfahren gewählt als die chronologische Abfolge: Es stellt zum Beispiel zwei Abenteuerromane wie Jonathan Swifts "Gullivers Reisen" von 1726 und Robert Louis Stevensons "Treasure Island" von 1883 zusammen, um jeweils Wandel, Innovation und Hintergrund dieser Meilensteine der Abenteuerliteratur zu beleuchten. So erfahren wir von den Autorinnen Lotta König und Carola Surkamp, beide Anglistinnen, dass Swift mit seiner Reiseerzählung seinen Zeitgenossen einen Spiegel vorhalten wollte, in dem sie die sozialen und politischen Missstände erkennen sollten. In der damaligen englischen Gesellschaft sorgte das für einige Aufregung. Nur - kaum noch jemand kennt heute die ursprüngliche Fassung. Zu oft ist der Ausgangstext verändert, auch - wie man damals meinte - zum Wohle des Kindes entschärft worden. So darf in einer späteren Version Gulliver das Palastfeuer in Liliput nicht mehr auspinkeln, sondern muss mit seinem Hut Wasser schöpfen. Die beiden Autorinnen verurteilen diese Umdeutungen und verschiedenen Lesarten nicht, sondern betonen, dass genau das - diese Lust der Menschen, eine Geschichte immer wieder anders zu erzählen, sie anzupassen an die jeweilige Zeit, den echten Klassiker ausmache und ihn lebendig erhalte.
Mit Stevensons "Schatzinsel", so erfahren wir im zweiten Abenteuerbeitrag, tritt nun in der Nach-Goethe-Zeit die "männliche Adoleszenz-Erzählung" in den Vordergrund. Ein Erziehungs- und Bildungsroman, der psychologisch sensibel die Rollen von Gut und Böse verschwimmen lässt: Denn der teuflische Silver wird nicht nur zum Retter der britischen Repräsentanten während der Schiffsreise, sondern auch zum Seelenführer des Jungen Jim, der durch ihn seine Initiation erfährt, wie der Literaturwissenschaftler Heinrich Detering brillant ausführt.
Ein anderes sehr interessantes Pärchen im Wunderschirm-Buch ist unter dem Stichwort Mädchen zu finden. Unter rollenspezifischen Gesichtspunkten ist das sozusagen das Pendant zum abenteuerlichen Reifungsprozess des jungen Mannes in "Treasure Island". Emmy von Rhodens "Der Trotzkopf" von 1885 und Astrid Lindgrens "Pippi Langstrumpf" von 1945 könnten unterschiedlicher nicht sein. Und nichts wäre einfacher als die konsequent selbstbestimmte und freche Pippi gegen die trotzköpfige Ilse, die sich zur angepassten und für männliche Bewerber liebenswerten jungen Frau wandelt, auszuspielen. Aber die Hamburger Literaturprofessorin Dagmar Grenz hat eine Abwertung des "Trotzkopfs" gar nicht im Sinn. Viel interessanter ist für sie die Frage, welche Möglichkeiten zur Identifikation dieses Buch bis heute bietet, da es ja immer noch gelesen wird. Sie kommt zu dem Schluss, dass Emmy von Rhodens Mädchenroman beides beinhaltet, einen modernen und einen konservativen Diskurs, der in- und gegeneinander geführt wird. Dieser Roman führt also trotz seines rollenkonformen Schlusses die Widersprüchlichkeit weiblichen Selbstverständnisses vor Augen und spiegelt somit seine Zerrissenheit bis heute.
Es würde sich lohnen, noch viele andere Klassiker-Paare der Literaturgeschichte hier vorzustellen. Das Buch "Unter dem roten Wunderschirm" ist reich an spannenden und aufschlussreichen Darstellungen, die im Kern alle darum kreisen, was einen Klassiker eigentlich ausmacht. Und das immer vor dem Hintergrund veränderter Sitten, Moralvorstellungen, Sprachgebräuche und Lesarten. Unter dem Stichwort Fantasten finden wir Tolkiens "Hobbit" und Paul Maars "Sams". Bei den Reisenden finden wir Michael Endes "Jim Knopf" und Selma Lagerlöfs "Nils Holgersson". Bei den Tieren Felix Saltens "Bambi" und Kenneth Grahames "The Wind in the Willows".
Was die Wirkmächtigkeit von Kinder-und Jugendliteratur angeht, dafür gibt es übrigens auch Negativbeispiele in diesem Buch. Die Rede ist von antisemitischer und nazistischer Kinderliteratur wie Karl Alois Schenzingers "Der Hitlerjunge Quex" von 1932 und Ernst Hiemers Kinderbuch "Der Giftpilz" von 1938. Letzteres ein furchtbares Machwerk, das Juden als Kinderschänder darstellt. Vier Jahre vor dem Beschluss zur sogenannten Endlösung, so schreibt Torsten Hoffmann, habe dieses Buch bereits deutliche Hinweise bereitgehalten, wie die Judenfrage zu lösen sei: durch Vernichtung - so wie man Giftpilze vernichten sollte.
An dieser Stelle kann man sich natürlich durchaus fragen: Sind diese Titel denn Klassiker der Kinder- und Jugend-Literatur? Sie werden doch heute nicht mehr gelesen. Und warum soll man solche Propaganda-Werke nicht gnadenlos auseinandernehmen? Torsten Hoffmann bietet, was den "Giftpilz" angeht, trotz des antihumanistischen Gehalts eine sensible Lesart an: Der Literaturwissenschaftler weist auf die für die damaligen Zeitumstände erstaunliche Modernität des Textes und seine suggestive Bildsprache hin. Damit ebnet Hoffmann nicht zuletzt den Weg hin zum Verständnis der Menschen, die damals Kinder waren und die die Bilder und Worte dieses Buches nie wieder los wurden - wie zum Beispiel die Kinderbuchautorin Gudrun Pausewang:
"Mich hat diese Geschichte wochenlang beschäftigt, hat mir Albträume verursacht! Diese Lehrerin hatte uns also zu kleinen Antisemiten gemacht. Das heißt erfolgreich indoktriniert. Von nun an, noch lange nach dem Ende der NS-Zeit, stellte ich mir im ersten Augenblick, nachdem ich von einer Vergewaltigung oder einem Kindesmissbrauch gelesen hatte, den Täter wie einen jüdischen Arzt vor."
Diese wie die anderen Lesarten im Buch "Unter dem roten Wunderschirm" sind bestens dafür geeignet, die Kommunikation zwischen den Epochen und Generationen sowie das Verständnis für die Prägung durch Literatur zu fördern, sei sie nun nach unserer heutigen Lesart immer noch großartig oder eher altbacken oder sogar zutiefst verwerflich. Ein wertvolles Buch, das vor allen Dingen den wunderbaren Klassikern und seinen kleinen oder großen Anhängern Respekt erweist.
"Diese Lesarten stehen neben früheren Lesarten, nicht an ihrer Stellen, sie bedrohen frühere, andere Rezeptionen nicht, sondern bereichern sie. Lesen ist ein aktiv-konstruktiver Prozess, der prinzipiell unabgeschlossen und offen für neue, andere Zugänge, Eindrücke und Deutungen ist."
So die beiden Spezialisten für Kinder- und Jugendliteratur in ihrem Vorwort zu 26 literaturwissenschaftlichen Beiträgen, die sich paarweise unter jeweils einem stichwortartigen Sammelbegriff zusammenfinden - also beispielsweise Stichwort Mädchen, Romantiker, Reisende, Ungezogene oder Abenteurer. Dieser Reigen mit Betrachtungen klassischer Kinder- und Jugendliteratur wird eröffnet mit zwei Universalgelehrten des 17. und 18. Jahrhunderts, nämlich mit Johann Amos Comenius und Johann Bernhard Basedow und ihren für damalige Zeiten sehr fortschrittlichen pädagogischen Schriften, und hört auf mit Joanne K. Rowlings "Harry Potter". Aber die zeitliche Einordnung ist hier nicht das entscheidende Kriterium.
Das Buch hat ein intelligenteres Verfahren gewählt als die chronologische Abfolge: Es stellt zum Beispiel zwei Abenteuerromane wie Jonathan Swifts "Gullivers Reisen" von 1726 und Robert Louis Stevensons "Treasure Island" von 1883 zusammen, um jeweils Wandel, Innovation und Hintergrund dieser Meilensteine der Abenteuerliteratur zu beleuchten. So erfahren wir von den Autorinnen Lotta König und Carola Surkamp, beide Anglistinnen, dass Swift mit seiner Reiseerzählung seinen Zeitgenossen einen Spiegel vorhalten wollte, in dem sie die sozialen und politischen Missstände erkennen sollten. In der damaligen englischen Gesellschaft sorgte das für einige Aufregung. Nur - kaum noch jemand kennt heute die ursprüngliche Fassung. Zu oft ist der Ausgangstext verändert, auch - wie man damals meinte - zum Wohle des Kindes entschärft worden. So darf in einer späteren Version Gulliver das Palastfeuer in Liliput nicht mehr auspinkeln, sondern muss mit seinem Hut Wasser schöpfen. Die beiden Autorinnen verurteilen diese Umdeutungen und verschiedenen Lesarten nicht, sondern betonen, dass genau das - diese Lust der Menschen, eine Geschichte immer wieder anders zu erzählen, sie anzupassen an die jeweilige Zeit, den echten Klassiker ausmache und ihn lebendig erhalte.
Mit Stevensons "Schatzinsel", so erfahren wir im zweiten Abenteuerbeitrag, tritt nun in der Nach-Goethe-Zeit die "männliche Adoleszenz-Erzählung" in den Vordergrund. Ein Erziehungs- und Bildungsroman, der psychologisch sensibel die Rollen von Gut und Böse verschwimmen lässt: Denn der teuflische Silver wird nicht nur zum Retter der britischen Repräsentanten während der Schiffsreise, sondern auch zum Seelenführer des Jungen Jim, der durch ihn seine Initiation erfährt, wie der Literaturwissenschaftler Heinrich Detering brillant ausführt.
Ein anderes sehr interessantes Pärchen im Wunderschirm-Buch ist unter dem Stichwort Mädchen zu finden. Unter rollenspezifischen Gesichtspunkten ist das sozusagen das Pendant zum abenteuerlichen Reifungsprozess des jungen Mannes in "Treasure Island". Emmy von Rhodens "Der Trotzkopf" von 1885 und Astrid Lindgrens "Pippi Langstrumpf" von 1945 könnten unterschiedlicher nicht sein. Und nichts wäre einfacher als die konsequent selbstbestimmte und freche Pippi gegen die trotzköpfige Ilse, die sich zur angepassten und für männliche Bewerber liebenswerten jungen Frau wandelt, auszuspielen. Aber die Hamburger Literaturprofessorin Dagmar Grenz hat eine Abwertung des "Trotzkopfs" gar nicht im Sinn. Viel interessanter ist für sie die Frage, welche Möglichkeiten zur Identifikation dieses Buch bis heute bietet, da es ja immer noch gelesen wird. Sie kommt zu dem Schluss, dass Emmy von Rhodens Mädchenroman beides beinhaltet, einen modernen und einen konservativen Diskurs, der in- und gegeneinander geführt wird. Dieser Roman führt also trotz seines rollenkonformen Schlusses die Widersprüchlichkeit weiblichen Selbstverständnisses vor Augen und spiegelt somit seine Zerrissenheit bis heute.
Es würde sich lohnen, noch viele andere Klassiker-Paare der Literaturgeschichte hier vorzustellen. Das Buch "Unter dem roten Wunderschirm" ist reich an spannenden und aufschlussreichen Darstellungen, die im Kern alle darum kreisen, was einen Klassiker eigentlich ausmacht. Und das immer vor dem Hintergrund veränderter Sitten, Moralvorstellungen, Sprachgebräuche und Lesarten. Unter dem Stichwort Fantasten finden wir Tolkiens "Hobbit" und Paul Maars "Sams". Bei den Reisenden finden wir Michael Endes "Jim Knopf" und Selma Lagerlöfs "Nils Holgersson". Bei den Tieren Felix Saltens "Bambi" und Kenneth Grahames "The Wind in the Willows".
Was die Wirkmächtigkeit von Kinder-und Jugendliteratur angeht, dafür gibt es übrigens auch Negativbeispiele in diesem Buch. Die Rede ist von antisemitischer und nazistischer Kinderliteratur wie Karl Alois Schenzingers "Der Hitlerjunge Quex" von 1932 und Ernst Hiemers Kinderbuch "Der Giftpilz" von 1938. Letzteres ein furchtbares Machwerk, das Juden als Kinderschänder darstellt. Vier Jahre vor dem Beschluss zur sogenannten Endlösung, so schreibt Torsten Hoffmann, habe dieses Buch bereits deutliche Hinweise bereitgehalten, wie die Judenfrage zu lösen sei: durch Vernichtung - so wie man Giftpilze vernichten sollte.
An dieser Stelle kann man sich natürlich durchaus fragen: Sind diese Titel denn Klassiker der Kinder- und Jugend-Literatur? Sie werden doch heute nicht mehr gelesen. Und warum soll man solche Propaganda-Werke nicht gnadenlos auseinandernehmen? Torsten Hoffmann bietet, was den "Giftpilz" angeht, trotz des antihumanistischen Gehalts eine sensible Lesart an: Der Literaturwissenschaftler weist auf die für die damaligen Zeitumstände erstaunliche Modernität des Textes und seine suggestive Bildsprache hin. Damit ebnet Hoffmann nicht zuletzt den Weg hin zum Verständnis der Menschen, die damals Kinder waren und die die Bilder und Worte dieses Buches nie wieder los wurden - wie zum Beispiel die Kinderbuchautorin Gudrun Pausewang:
"Mich hat diese Geschichte wochenlang beschäftigt, hat mir Albträume verursacht! Diese Lehrerin hatte uns also zu kleinen Antisemiten gemacht. Das heißt erfolgreich indoktriniert. Von nun an, noch lange nach dem Ende der NS-Zeit, stellte ich mir im ersten Augenblick, nachdem ich von einer Vergewaltigung oder einem Kindesmissbrauch gelesen hatte, den Täter wie einen jüdischen Arzt vor."
Diese wie die anderen Lesarten im Buch "Unter dem roten Wunderschirm" sind bestens dafür geeignet, die Kommunikation zwischen den Epochen und Generationen sowie das Verständnis für die Prägung durch Literatur zu fördern, sei sie nun nach unserer heutigen Lesart immer noch großartig oder eher altbacken oder sogar zutiefst verwerflich. Ein wertvolles Buch, das vor allen Dingen den wunderbaren Klassikern und seinen kleinen oder großen Anhängern Respekt erweist.
Christoph Bräuer und Wolfgang Wangerin (Hg.): Unter dem roten Wunderschirm. Lesarten klassischer Kinder- und Jugendliteratur. Wallstein Verlag. 384 Seiten, 29,90 Euro.