""Es gibt mit Sicherheit immer mehr Orte, Regionen in Deutschland – und nicht nur in Deutschland – die sich mit dem Phänomen des Stillstands und Schrumpfens auseinandersetzten und positiv auseinandersetzen, weil sie schlicht und einfach nach Lebensformen suchen für ein Wohlergehen der Gesellschaft - ohne Wachstum.""
Zum Beispiel die Kleinstadt Wanzleben etwa 20 Autominuten von Magdeburg entfernt in Sachsen Anhalt. Den Schienenanschluss gibt es nicht mehr, nur noch Busverbindungen. Die Bevölkerung schrumpft. Lebten hier Anfang der 90er-Jahre noch 6000 Menschen, sind es heute 15 Prozent weniger. Die Hälfte der Einwohner ist über 50 Jahre alt.
"Da geht es eben auch da drum, wie eine alternde Gesellschaft das Zusammenleben organisiert, wo mehr Menschen der Pflege bedürfen, ... dass wir da gemeinschaftliche Lebensformen, nicht nur in der Familie, sondern mit der Ersatzfamilie, mit Nachbarn, mit Freunden, mit Menschen, die man vielleicht gar nicht vorher kannte, um eben diese schwierige Phase der Alterung in der Bevölkerung gut zu überstehen."
"Man kann vor der Schrumpfung stehen wie das Kaninchen vor der Schlange und darauf gucken, wie die Leute weniger werden, wie die Wohnungen mehr leer werden, aber das bringt nichts, sondern wir haben versucht daraus Chancen zu entwickeln."
In Wanzleben sterben mehr Menschen als geboren werden oder hierher ziehen. Steigt man aber hier aus dem Bus, fällt der Blick als Erstes auf einen von Kindern gemalten Stadtplan, der die Haltestelle ziert. Und auch der ehemalige Bahnhof nebenan ist als Station für Kinder gedacht.
"Hier werden Seminare abgehalten von Firmen, die sich anmelden gegen einen kleinen Obolus und jetzt haben wir jeden Dienstag Computerkurs für Kids – die lernen erstmal den Umgang mit dem PC, alles, was ja teilweise in der Gesellschaftsschicht gar nicht möglich ist zuhause."
Der Computerkurs richtet sich an Kinder aus armen Familien und kostet symbolische 50 Cent. Der überflüssig gewordene alte Bahnhof ist ein "Soziales Zentrum" geworden. Das Deutsche Rote Kreuz organisiert eine Küche, die "Tafel", Kleiderkammer, Kommunikationsräume und Werkstatt und holt damit viele Mitbürger aus der Isolation zurück in eine lebenswerte Gemeinschaft.
"Jetzt im Frühling wollen wir den Außenbereich verschönern – eine Kindereisenbahn soll noch hin – beziehungsweise hier vorne soll der Kräutergarten hin, dass wir da alles selbst anpflanzen, was wir dann auch für die Küche verwenden –"
"Also das Ziel ist, dass die Leute, die auch zur Tafel hierher kommen, einbezogen werden. .... 1.400 Leute sind berechtigt und davon ein Drittel Kinder."
In Wanzleben findet heute schon statt, was Wissenschaftler der gesamten Republik prognostizieren: Überalterung, Schrumpfung der Bevölkerungszahlen, Armut der Kommunen. Aber man sucht nach Lösungen, die in die Zukunft weisen: engagiert mit dabei der Unternehmer Dr. Ernst Isensee:
"Wir als Wanzleben – was machen wir denn nun? Und da kam eben die Idee durch die Vorgängerin unserer Bürgermeisterin, gemeinsam mit dem Bauhaus, dass wir versuchen das Thema Familie zu erarbeiten. Also: Stadt als Familie. Wo gibt es Defizite? Wo gehen wir rein? Und das hat sich im Rahmen der acht Jahre durch gezielte Aktionen sehr, sehr gut entwickelt. Letzter Ausdruck ist das vor zwei Jahren gegründete Bündnis, das immer noch aktiv ist und eine hohe Aufmerksamkeit des Familienministeriums in Berlin hat."
Im "Bündnis für Familie" sind die 40 Vereine der Stadt und ihre ehrenamtlichen Angebote vernetzt. Sogenannte städtebauliche Missstände wie der alte Bahnhof werden auf einer ökologischen Basis und mit sozialem Ziel behoben. Landesregierung, Kommune und Vereine ziehen dabei an einem Strang.
"Es ist klar, dass die Menschen mit dieser sich verändernden Lebenslage auch umgehen wollen. Das heißt, wir werden in Zukunft Modelle entwickeln - und da gibt es sehr viele Ansätze und Wanzleben ist sicher ein Beispiel dafür - wie wir ein Wohlergehen der Gesellschaft mit weniger Wachstum oder ganz ohne Wachstum bewerkstelligen können."
Sagt Doktor Reiner Klingholz, Direktor des Berlin Instituts für Bevölkerung und Entwicklung. In Wanzleben wird seit 2003 vorausschauend neu strukturiert: Jeder Rückbau, Umbau oder Neubau ist barrierefrei – für Rollatoren UND für Kinderwagen. Mitten durch die Stadt soll sich langfristig ein "Grünes Band" ziehen und die Menschen verbinden, erklärt Sylvia Dammering, die Leiterin im Amt für Soziales.
"Wir machen das, wir stehen dahinter. Wir wollen die Lebensqualität erhalten! Das ist das Entscheidende."
Um Wachstum, steigenden Wohlstand und wirtschaftsorientierte Fortschrittsideen geht es in Wanzleben nicht mehr. Dafür um Zusammenhalt und Eigeninitiative. Oder wie der Berliner Zukunftsforscher Gerhard De Haan sagt: Um das
"Wohlbefinden vor Ort" als eine wichtige Größe, wo Menschen sagen: da bleib ich dann doch, auch wenn ich etwa pendeln muss, wenn ich arbeiten will, obwohl ich mich dann ein bisschen mit engagieren muss, aber hier lebt es sich gut."
Wohlergehen und Wohlbefinden statt der alten Vorstellung von "Wohlstand" – es geht um einen tiefen Wandel der Gesellschaft. Doch wie genau sieht er aus? Wohin bewegt sich unsere Gesellschaft in den nächsten 20 Jahren? Welche Szenarien lassen sich entwickeln? Wie können wir uns auf Veränderungen einstellen? Und was könnte ein Leitbild für uns sein? Solche Fragen beschäftigten die Wissenschaftler an deutschen Hochschulen und Forschungsinstituten zurzeit überall. Am Institut für Erziehungswissenschaftliche Zukunftsforschung an der Freien Universität Berlin werden erstmals in Deutschland junge Menschen in einem neuen Masterstudiengang ausgebildet, die sich nur solchen Fragen stellen. Institutsleiter Professor Gerhard de Haan:
"Unser Ziel ist, die Personengruppe so zu qualifizieren, dass sie eine substanziell und fundiert aufgesetzte Form von Zukunftsforschung machen können – für Politikberatung, im Bereich von Unternehmen et cetera, dass es sozusagen ganz vielfältige Ansätze gibt, wo man später tätig sein kann."
Am Berlin Institut für Bevölkerung und Entwicklung werden Wachsen und Schrumpfen seit Jahren täglich beobachtet und Prognosen erstellt. Reiner Klingholz:
"Es gibt zwei Schwerpunkte in dieser Diskussion. Das eine ist die alte Wachstumskritik, die wir schon in den 70er-Jahren vom Club of Rome gehört haben, dass bei einer wachsenden Weltbevölkerung, die vom Konsum her immer mehr will und braucht und immer mehr Rohstoffe verbraucht, irgendwann Grenzen erreicht sind. Auf der anderen Seite stellt sich diese Frage plötzlich anders. Weil wir so ganz dumpf untergründig plötzlich das Gefühl haben: Mit dem Wachstum scheint es nicht mehr so weiter zu gehen, weil ja beispielsweise die Bevölkerung nicht mehr wächst, weil die Bevölkerung stark altert und vielen dämmert es, dass möglicherweise auch die Wirtschaft in einer alternden, schrumpfenden Gesellschaft nicht mehr wachsen kann."
Am Wuppertal Institut für Klima, Umwelt und Energie diskutierte in diesem Jahr eine Ringvorlesung mit dem Titel "WachstumsWende" neue Konzepte für eine Zukunft. Institutsleiter Professor Uwe Schneidewind:
"Wir haben gerade in unserer deutschen Volkswirtschaft mit so vielen grundlegenden Krisenphänomenen unserer Wirtschaft zu tun, die mit überbordender Beschleunigung zu tun haben, wir brauchen das Nachdenken über völlig neue Prinzipien von Ökonomie, die Tatsache, dass das uns dann nebenbei vielleicht auch noch hilft, die ökologische Krise zu entschärfen ist ein netter Bei-Effekt, aber es ist gar nicht der Kern. Und da können Sie sich vorstellen, da prallen dann sehr unterschiedliche Welten aufeinander."
In Bonn gibt es seit 2007 das "Denkwerk Zukunft", geleitet von dem Soziologen Professor Meinhard Miegel. In sogenannten "Denkkreisen" über beispielsweise die "Funktionsfähigkeit der Gesellschaft" oder den "Bewusstseinswandel" arbeiten Wissenschaftler unterschiedlichster Disziplinen hier an Szenarien für eine Gesellschaft ohne Wachstum.
"Ich glaube nicht, dass man jetzt artifiziell sagen kann, wir nennen diese Sache jetzt irgendwie ganz anders und jetzt haben wir einen neuen Begriff. Nein, man muss eine kritische Distanz zum Wachstumsbegriff bekommen und man muss schon immer mitfragen: Hat dieses Wachstum, was wir da verzeichnet haben, in gleichem Maße Wohlstand gemehrt?"
Und am Kulturwissenschaftlichen Institut Essen denkt der Philosoph Professor Ludger Heidbrink in dem Forschungsprojekt "Verantwortungskulturen" über einen neuen Fortschrittsbegriff nach:
"Ich glaube, dass die Fortschrittsidee so wie wir sie kennen, keine Zukunft mehr hat und wir sie durch andere Fortschrittsmodelle ablösen sollten."
Ziel der unterschiedlichen Überlegungen und Forschungsarbeiten ist es, Gesellschaftsmodelle für die Zeit zu entwickeln, in der das Leben, so wie wir es heute führen, nicht mehr möglich sein wird. Das Leben in einem Land, dessen zahlenmäßig kleinere Bevölkerung dann durchschnittlich älter ist, wird ein anderes sein. Aber nicht unbedingt schlechter. Meint zumindest Ludger Heidbrinck:
"Ich halte es für wichtig, dass sich die Menschen mehr und mehr Gedanken darüber machen, was in ihrem Leben wirklich eine Rolle spielt. Und sich überlegen: Brauche ich eigentlich all das, was ich in meinem Haushalt habe. Und die Kunst des Ballastabwerfens wird in Zukunft immer wichtiger werden, dass man sich Gedanken darüber macht, mit welchen Konsumartikeln, mit welchen Gegenständen, mit welcher Musik, mit welchen Büchern will ich überhaupt was zu tun haben, im Grunde genommen sollte man radikal ausmisten und zu den wesentlichen Dingen zurückkehren. Das heißt ja dann auch: Die Dinge, die man hat, länger nutzen."
Growing by shrinking heißt das Konzept, an dem Heidbrink im Kulturwissenschaftlichen Institut Essen arbeitet - nach der Devise: simplify your live - weniger kann auch mehr sein. Durch die Konzentration auf die, wie Heidbrinck es nennt; "wesentlichen Dinge" gewinne man sogar etwas zurück: Zeit!
"Wir haben immer weniger Zeit für etwas, und diese Verkappung der Zeit ist eben eine Folge unserer hochkompliziert geordneten Gesellschaft, mit allen möglichen Verpflichtungen, Verbindlichkeiten, Terminen, die Kinder müssen in den Kindergarten geschickt werden, die Freunde müssen zu irgendwelchen Gartenfeiern eingeladen werden, man muss dann gleichzeitig noch ins Fitnessstudio und zur Weiterbildung, also wir stopfen uns voll mit allen möglichen Terminen, am Ende haben wir für nichts mehr Zeit, ... müssen wir wirklich so viel Zeit vergeuden und verschleudern für Dinge, die wir am Ende gar nicht benötigen? Ich bin mir ganz sicher: Die Mehrzahl der Menschen wird sagen: im Grunde genommen brauche ich das alles gar nicht, was ich da habe- ich brauche eigentlich nur Zeit."
Weniger und nachhaltigerer Konsum entlastet die Umwelt und die Konsumenten, so die Theorie, die auch der Ökonom Niko Paech von der Universität Oldenburg im Rahmen der Wuppertaler Ringvorlesung "Wachstumswende" vertritt:
"Wenn wir mal die sogenannten Wertschöpfungsketten, also Produktionsprozesse analysieren, an deren Ende die Güter und Dienstleistungen zu finden sind, mit dem wir unseren Wohlstand aufbauen, dann stellt man fest, dass die Energieabhängigkeit unseres materiellen Wohlstandes enorm ist. Diese Energieabhängigkeit, die wird unterschätzt. Das heißt, wenn Peak Oil eintritt, das heißt, wenn der Preis für ein Barrel Rohöl dauerhaft jenseits der 200 Dollarmare liegt, dann wird alles teurer, nicht nur die Produkte, die einen Motor oder eine Heizspirale oder etwas Ähnliches haben, also etwa Autofahren, fliegen, heizen und so weiter, sondern selbst Textilien, Nahrungsmittel oder Gegenstände, die völlig fest, also keinen An- und Ausschalter haben, die werden dann auch teurer, weil in der Produktion so viel fossile Energie steckt."
Doch welche gesellschaftlichen Auswirkungen hätte eine grundlegende Veränderung unseres Konsumverhaltens? Martin Schulte, Soziologe und Mitarbeiter am Bonner Denkwerk Zukunft
"Da geht es richtig um die Frage: Wie kann eine Gesellschaft, in der es bisher nur Wachstum gibt, die eine starke Konsumorientierung hat, die ihren Status aus Materiellem zieht, wie kann man das ändern und sagen, nein, ich führe ein glückliches Leben, ohne dass ich mir jährlich ein neues Smartphone kaufe oder ein neues Auto oder was auch immer. Das ist natürlich ein grundsätzlicher Wandel, da geht es wirklich ans Eingemachte und vor allem auch, wenn man da an Wirtschaftsverbände, an Interessengruppen denkt, die Macht und Einfluss zu verlieren haben, wenn wir nicht mehr so weiter machen wie bisher."
Für den Leiter des Denkwerk Zukunft Meinhard Miegel geht es zunächst darum, dass wir uns von der Wachstumsgläubigkeit unserer Gesellschaft verabschieden.
"Wachstum ist ein Instrument. Es ist kein Ziel an sich. Der Sinn von Wachstum, so wie wir den Wachstumsbegriff heute verwenden, besteht darin, dass Wohlstand gemehrt wird. Der Bauer, der auf das Feld ging und dort sich freute, wenn etwas wuchs, freute sich ja nicht an den Wachsen an sich, sondern er freute sich auf die bevorstehende Ernte. Und das gilt auch für die industriellen Produktionen. Es geht also um Wohlstand, nicht um Wachstum. Und der Fehler, der gedanklich im Laufe der Zeit immer krasser geworden ist, ist, dass man den Wachstumsbegriff als Selbstwert betrachtet hat. Dass man gesagt hat: Wenn etwas wächst, dann ist das bereits in sich gut."
Die Gleichung: mehr Wachstum gleich mehr Wohlstand stimme nicht mehr. Im Gegenteil:
"Infolgedessen müssen wir künftig mit mehreren Begriffen arbeiten. Wir können also sagen, in bestimmter Weise messen wir den Umschlag von Gütern und Dienstleistungen und nennen das meinetwegen Wachstum. Und im gleichen Atemzug müssen wir sagen: Das und das ist verbraucht worden. In diesem Umfang ist die Umwelt belastet worden. In diesem Maße ist die Gesellschaft zermürbt worden in diesem Prozess des Wachstums. Und wenn wir das zusammen betrachten, kommen wir zu dem Ergebnis, dass im Zuge dieses Wachstumsprozesses sich Wohlstand gemehrt hat, oder stagniert ist oder gesunken ist."
"Die Idee der Effizienzsteigerung ist ja: Wir können immer so weiter machen wie bisher und gleichzeitig können Millionen von Menschen auf unser Niveau aufschließen, wir müssen eigentlich nichts tun. Und das ist die Hauptstrategie, die die Politik bisher verfolgt. Aber das ist physikalisch fast gar nicht möglich."
Martin Schulte weist jedoch auch auf die Schattenseiten hin, die eine Gesellschaft ohne Wachstum mit sich bringt:
"Soziale Sicherung wird unter Schrumpfungsbedingungen eine Mindestsicherung sein, das gilt für die Rente, das gilt für die Arbeitslosigkeit, das gilt auch für die Gesundheit, wenn wir nicht mehr so prosperieren als Gemeinwesen, dann können wir da nur noch Mindeststandards gewähren, auch wegen der Alterung der Gesellschaft, das muss aber kein Verlust sein, wenn wir dann auf der anderen Seite den Arbeitsmarkt sehen, der wird wesentlich arbeitsintensiver werden, wenn wir soziale Dienstleistungen, Gesundheitsdienstleistungen ausbauen, dann muss das wirklich nicht mit einem Verlust einhergehen, weil eben anderes an die Stelle tritt. Auch Gemeinwohlorientierung kann ne große Rolle spielen."
Eine freiwillige Entscheidung wird der Konsumverzicht nicht sein. Meint Reiner Klingholz vom Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung. Aber eine Zwangsläufige:
"Weil wir auf einem begrenzten Planeten leben, mit begrenzten Rohstoff, mit begrenzten Senken, wo die Abfallstoffe dieser Zivilisation hinkommen und wir haben heute mit sieben Milliarden Menschen einen Punkt erreicht, wo wir zu viele sind für die Erde, jedenfalls anhand der Konsummuster, die wir an den Tag legen. Wir dürften nach unseren Standards hier in Deutschland vielleicht zwei bis drei Milliarden Menschen auf der Erde sein, die so, in so einem Saus und Braus leben, wie wir das tun. Vom Lebensstandard eines Bangladeschers her könnten wir auch locker sieben oder neun Milliarden verkraften. Aber genau diese Länder werden sich ja in Richtung unserer Gesellschaft entwickeln und da muss es eben möglichst so passieren, dass die nicht diese Rohstoff zehrenden Wohlstandsmuster verfolgen, wie wir das lange gemacht haben."
Leiten kann uns dabei, so Reiner Klingholz , ein "Rohstoff", den man durchaus immer weiter steigern kann: Bildung.
"Wir sollten sowohl das Wachstum wie auch das Schrumpfen unter dem Begriff Bildung subsumieren. Denn wir können in einer schrumpfenden alternden Gesellschaft uns am besten anpassen durch maximale Ausnutzung des Humanvermögens und das geht über Bildung. Wir haben in Zukunft weniger junge Menschen und die müssen schlicht und einfach für ein Einkommen in dem Staat sorgen, was aus weniger Köpfen kommt. Bildung ist auch das Mittel zur Anpassung an den demografischen Wandel dort, wo man das Wachstum bremsen will."
Zum Beispiel die Bildung von Frauen in Entwicklungsländern. Dort wachse die Bevölkerung derzeit viel zu schnell und mit ihr der Mangel, sagt Reiner Klingholz. Entwicklungshilfe komme nicht hinterher. Für gut ausgebildete Frauen aber ergäben sich andere Perspektiven – und in der Folge weniger Kinder.
"Langfristig sieht es vermutlich so aus, dass wir bis Ende dieses Jahrhunderts über das Maximum der Weltbevölkerung bei vielleicht neun oder zehn Milliarden hinweg sind, und danach wird auch die Weltbevölkerung schrumpfen, und wir laufen, wenn alles gut geht, auf eine geringere Bevölkerungszahl zu, das werden im Mittel ältere Menschen sein als heute, aber auch im Mittel wesentlich gesündere und gebildetere Menschen sein als heute. Und die sind natürlich in der Lage, friedlicher zu leben und auch angepasster zu leben an diese Veränderungen, die wir im Moment noch durch unser Wachstum auslösen, unter anderem die Klimaveränderungen oder auch die Ressourcenplünderung."
Vorsichtig optimistisch könnten am Ende Gleichgewicht und Stabilität winken – wenn die menschlichen Gesellschaften die Herausforderungen der Übergangsphase meistern.
"Ich würde sagen, dass früh entwickelte, hoch entwickelte Länder wie Deutschland, wie Japan bereits in der Postwachstumsphase angekommen sind. Sie sind das zumindest demografisch, denn sie schrumpfen bereits. Japan schrumpft deutlich, Deutschland schrumpft deutlich. Und dieses Schrumpfen wird sich bald schon stark beschleunigen und es wird gefolgt sein von einer wirtschaftlichen Stagnation. Dennoch wollen wir, dass es uns weiterhin gut geht – und das sind die Wege in die Postwachstumsgesellschaft. Das sind die Wege, auf die die ganze Welt wartet, weil wir eben diese Stabilität ohne Wachstum brauchen."
Für die Postwachstumsgesellschaft braucht man eine Postwachstumsökonomie, die von regenerativen Energieformen getragen wird. Dem Volkswirt Niko Paech reicht das nicht aus. Er entwickelt für Deutschland ein pessimistisches Szenario:
"Die Bundesrepublik Deutschland ist deshalb nicht so einfach ökonomisch souverän zu gestalten, weil der größte Teil der Konsumgüter, die wir uns aneignen, gar nicht mehr in Deutschland produziert wird. Also selbst, wenn wir in Deutschland in alle möglichen Flächen jetzt ausstaffiert werden, mit Biogasanlagen, Windkraftanlagen und dann demnächst in sogenannten Freiland- Fotovoltaikanlagen, und wir dann auch einen weiteren ökologischen Schaden haben, dann wäre nicht mal damit erreicht, dass wir von Energie unabhängig sind, wir würden dann nur die Energie, die in Deutschland selbst gebraucht wird, regenerativ erzeugen."
Seine Konsequenz:
"Um unabhängig und weniger verletzlich zu sein, müssten wir die globalen Wertschöpfungsketten auf den Prüfstand stellen, das heißt, über regional-ökonomische Versorgungen nachdenken, auch wieder über neue Formen der urbanen Selbstversorgung, über Gemeinschaftsgärten, Handwerk, selber reparieren, selber Dinge warten, mit Nachbarn Dinge tauschen, statt jeweils 'ne eigene Bohrmaschine und einen eigenen Winkelschleifer zu kaufen. Das werden Konzepte sein, die uns zukünftig weiterhin zu Wohlstand verhelfen, aber zugegebenermaßen auf einem bescheideneren Niveau."
Liegt die Zukunft Deutschlands in einem Rückschritt zu Bäuerlichkeit und Handwerk? Rückkehr zum Lokalen mitten in der Globalisierung? Wird es die Lösung sein, dass die Bevölkerung eines der reichsten Länder der Welt wieder zu einer Gemeinschaft von Selbstversorgern wird? Soweit möchte Ludger Heidbrinck vom Kulturwissenschaftlichen Institut Essen nicht gehen. Doch dass wir uns umstellen müssen, meint auch er. Und entwickelt an seinem Institut einen Kriterienkatalog zur Zumutbarkeit:
"Das ist eigentlich eine der spannendsten und bis heute von der Forschung ungelöstesten Fragen: Wann empfinden Menschen bestimmte Maßnahmen, die sie durchführen müssen als Zwang und wann sind sie bereit, diesen Maßnahmen nachzugeben. Wenn es drum geht, dass die Menschen sich jetzt im Klimabereich stärker engagieren für ihre Umgebung, und sagen, ich sollte jetzt in meinem Vorgarten eine Solaranlage oder eine Windanlage aufbauen, und damit mein Auto betanken, ist das den Bürgern unzumutbar oder kann man ihnen das sehr wohl zumuten?"
Eine Zumutung zu ertragen, ist das eine. Durchsetzbar ist in einer Demokratie aber nur, was mehrheitsfähig ist. Die Bevölkerung muss dem Wandel also zustimmen. Wann tut sie das?
"Ich glaube, ein ganz wesentlicher Indikator ist, dass die Menschen das Gefühl haben, selber entscheiden zu können. Also autonom handeln zu können. Und eigene Gründe für das Handeln zu haben."
Verantwortung wird, so Ludger Heidbrinck, immer nur dann übernommen, wenn man zu nichts gezwungen wird.
"Die Kunst besteht darin, dass man diese Zwänge einführen muss, immer unter der Voraussetzung, dass die Betroffenen dies freiwillig akzeptieren. Das Rauchverbot hat ja auch funktioniert. Menschen können sich ändern, wir können auch unsere Kultur relativ schnell ändern."
Auch Gerhard de Haan verweist auf die gesellschaftlichen Veränderungspotenziale:
"Das sehen wir an Ländern, die uns völlig überraschen, wie schnell sie sich versuchen zu demokratisieren. Auch das muss man sehen. In der Zukunftsforschung würde man sagen: Da hat jemand eine sogenannte "Wildcard" gezogen. Wildcards sind Ereignisse, die schwer vorhersehbar sind, keinen hohen Grad an Wahrscheinlichkeit haben und dennoch auftauchen."
Der Zusammenbruch des Sowjetimperiums war so ein Ereignis oder die Demokratisierungswelle der arabischen Länder, die niemand vorhergesehen hat. Warum sollte es also in den westlichen Industriestaaten nicht gelingen, sich in gewisser Weise spontan zu ändern und neue Lebensformen zu entwickeln?
"Möglicherweise müsste man auch einfach von dieser Idee sich verabschieden, dass es überhaupt irgendein Ziel gibt, auf das man hinsteuert. Ich glaube, dass es eher sinnvoll ist, die Entwicklung als eine Art Kreislauf zu betrachten, weil man dann auch nicht immer wieder das Bedürfnis hat, etwas Neues zu erfinden oder zu entdecken und irgendwo hinzuwollen. Das ist ja häufig auch der Grund für die Unzufriedenheit: Weil man Ziele hat, kann man die Ziele nicht erreichen und scheitert dann am Ende und das ruft diese Unzufriedenheit hervor, mit der dann viele Projekte in Angriff genommen werden."
In Angriff genommen ist auf jeden Fall das Nachdenken über den Wandel. Berlin, Bonn, Essen oder Wuppertal sind längst nicht die einzigen Orte, an denen sich Wissenschaftler den Kopf über die Zukunft einer Gesellschaft nach dem Wachstum zerbrechen. Uwe Schneidewind vom Wuppertal Institut für Klima, Umwelt und Energie:
"Das, was die Diskussion zeigt, ist, dass wir auf der Suche sind nach neuen Gleichgewichten und dass wir ganz neue Bilder von der richtigen Mischung brauchen. Und die liegt sicher nicht in dem "und lasst uns wieder so leben wie im 19. Jahrhundert", sondern zu erkennen, dass ein Großteil der Innovation darin liegt, einzelne Elemente bestimmter Lebensformen und auch der Umkehr bestimmter ökonomischer Entwicklungen ein Baustein ist in so einem erweiterten Innovationsbild."
"Es ist so, dass sich da in den letzten drei vier Jahren enorm viel getan hat, also die Vernetzung zwischen den verschiedenen Gruppen hat zugenommen, wenngleich viel immer noch recht solitär arbeiten, - das schwächt die Schlagkraft- nichtsdestotrotz arbeiten immer mehr Gruppen, immer mehr Stiftungen zusammen, um hier zu einem Mentalitätswandel beizutragen","
sagt Martin Schulte vom Bonner Denkwerk Zukunft. Ein Beispiel ist das "Netzwerk Zukunftsforschung", aus dem der neue Masterstudiengang in Berlin viele Lehrkräfte bezieht. Er kann eine bunte Palette an Veranstaltungen anbieten. Und die führen dann zurück auf einen ganz praktischen Boden:
""Es gab etwa im Netzwerk Zukunftsforschung jemand aus der Stadt Köln. Der sagte: Ja ich bin in der Stadt zuständig für die Kanalisation. Da habe ich gedacht: okay. Aber was will der bei uns? Da sagt der: naja, wenn man eine Kanalisation baut, dann muss man die auf 100 Jahre auslegen, denn so lange sollte das halten. Schlagartig - natürlich! Natürlich ist das ein Thema der Zukunftsforschung! Die ganze Infrastruktur, die unter der Erde liegt! Ja? Und da muss man eine Vorstellung entwickeln, wie sich eine Region weiterentwickelt oder auch weiterentwickeln kann auf der Basis dessen, was man mal angelegt hat im Zuge von Technik und technischen Innovationen, spannend oder?""
Die Institute und universitären Einrichtungen, die sich mit neuen Fortschritts- und Gesellschaftsmodellen beschäftigen, verlassen dabei durchaus bewusst immer mehr das Gebiet der reinen Forschung. Sie nutzen Medien und öffentliche Auftritte, um ihre Erkenntnisse und Zukunftsvorstellungen einem breiten Publikum zu vermitteln und zielen auf konkrete Politikberatung.
""Wir sind ja der Ansicht, dass Wissenschaft immer praktisch sein muss. Praktisch heißt: wissenschaftlich fundiert, aber es soll am Ende Verhaltensänderungen, sollen gesellschaftliche Änderungen entstehen. Ein wesentlicher Anteil besteht natürlich darin, den "Überbau" für diese ganze Entwicklung zu liefern, das heißt, Vorstellungen zu kommunizieren, zu diskutieren, mit den Akteuren zu überlegen, in welcher Gesellschaft wir nun eigentlich lebe wollen. Was es heißt, eine fortschrittliche Gesellschaft zu sein. Die fortschrittliche Gesellschaft ist ja genau die, die von dieser alten Idee des Fortschritts Abschied nimmt und alternative, qualitative Wachstumsmodelle entwickelt."
Um die Alternativen gemeinsam zu finden, werden die Masterstudierenden im Fach Zukunftsforschung unter anderem mit Methoden ausgestattet.
"Es gibt einfach zu erklärende Verfahren, das ist etwa die sogenannte Delphi- Studie- das kommt von Delphi, dem Orakel- das heißt, es geht da um Zukunftsfragen, wo man Bürger befragt in einem bestimmten Feld und zwar auf deren eine Seite bezogen, auf das, was sie für wahrscheinlich halten und auf der anderen Seite, was sie wünschen, wie es eigentlich gehen sollte. Und das ist die entscheidende Diskrepanz, mit der man eigentlich gut arbeiten kann, wo ja auch eigentlich alle Politik sehr gut beraten wäre, sich auch ein bisschen nach den Wünschen von Bürgern etwa zu orientieren und zu sehen, das ist eigentlich das, wo die Bedarfe nun wirklich, wirklich liegen. Solche Studien setzen wir etwa auf",
erläutert Gerhard De Haan von der Freien Universität Berlin.
"Generell gesehen muss man sagen, dass wir in der Tat mitgestalten können, wenn andere dabei sind, wie wir können nichts verordnen. Das macht Zukunftsforschung nie. Soweit sollten wir uns auch nicht vorwagen."
Die Bevölkerung scheint den Ball aber auch aufgenommen zu haben. Mitte April eröffnete der Kunstverein Hannover, unterstützt unter anderem von der Kulturstiftung des Bundes eine Ausstellung zum Thema "Metapher des Wachstums". Sie wird auch in Frankfurt und Basel zu sehen sein. Das Publikum kommt und sucht: andere Lösungen.
"Wachstum ist ja eigentlich ein Thema, was Zeitgeist ist. Alles muss wachsen – ob es die Wirtschaft ist, ob es der Besitz ist, im Grunde über all alles, es muss immer mehr werden, mehr werden, mehr werden."
"Also geht das immer schneller, weiter oder aber hat das seine Grenze? Können wir uns das eigentlich noch erlauben, was wir uns erlauben?"
"Vielleicht gibt es aber auch Ansätze, wie man das variiert und da vielleicht andere Wege oder Abzweigungen findet..."
"Also ich stelle mir das eher als ein langfristiges Experiment vor, wir werden das nicht von heute auf morgen hinbekommen, der Ausstieg aus der Wachstumsgesellschaft wird ein sehr, sehr langwieriger Prozess sein ... "
Zum Beispiel die Kleinstadt Wanzleben etwa 20 Autominuten von Magdeburg entfernt in Sachsen Anhalt. Den Schienenanschluss gibt es nicht mehr, nur noch Busverbindungen. Die Bevölkerung schrumpft. Lebten hier Anfang der 90er-Jahre noch 6000 Menschen, sind es heute 15 Prozent weniger. Die Hälfte der Einwohner ist über 50 Jahre alt.
"Da geht es eben auch da drum, wie eine alternde Gesellschaft das Zusammenleben organisiert, wo mehr Menschen der Pflege bedürfen, ... dass wir da gemeinschaftliche Lebensformen, nicht nur in der Familie, sondern mit der Ersatzfamilie, mit Nachbarn, mit Freunden, mit Menschen, die man vielleicht gar nicht vorher kannte, um eben diese schwierige Phase der Alterung in der Bevölkerung gut zu überstehen."
"Man kann vor der Schrumpfung stehen wie das Kaninchen vor der Schlange und darauf gucken, wie die Leute weniger werden, wie die Wohnungen mehr leer werden, aber das bringt nichts, sondern wir haben versucht daraus Chancen zu entwickeln."
In Wanzleben sterben mehr Menschen als geboren werden oder hierher ziehen. Steigt man aber hier aus dem Bus, fällt der Blick als Erstes auf einen von Kindern gemalten Stadtplan, der die Haltestelle ziert. Und auch der ehemalige Bahnhof nebenan ist als Station für Kinder gedacht.
"Hier werden Seminare abgehalten von Firmen, die sich anmelden gegen einen kleinen Obolus und jetzt haben wir jeden Dienstag Computerkurs für Kids – die lernen erstmal den Umgang mit dem PC, alles, was ja teilweise in der Gesellschaftsschicht gar nicht möglich ist zuhause."
Der Computerkurs richtet sich an Kinder aus armen Familien und kostet symbolische 50 Cent. Der überflüssig gewordene alte Bahnhof ist ein "Soziales Zentrum" geworden. Das Deutsche Rote Kreuz organisiert eine Küche, die "Tafel", Kleiderkammer, Kommunikationsräume und Werkstatt und holt damit viele Mitbürger aus der Isolation zurück in eine lebenswerte Gemeinschaft.
"Jetzt im Frühling wollen wir den Außenbereich verschönern – eine Kindereisenbahn soll noch hin – beziehungsweise hier vorne soll der Kräutergarten hin, dass wir da alles selbst anpflanzen, was wir dann auch für die Küche verwenden –"
"Also das Ziel ist, dass die Leute, die auch zur Tafel hierher kommen, einbezogen werden. .... 1.400 Leute sind berechtigt und davon ein Drittel Kinder."
In Wanzleben findet heute schon statt, was Wissenschaftler der gesamten Republik prognostizieren: Überalterung, Schrumpfung der Bevölkerungszahlen, Armut der Kommunen. Aber man sucht nach Lösungen, die in die Zukunft weisen: engagiert mit dabei der Unternehmer Dr. Ernst Isensee:
"Wir als Wanzleben – was machen wir denn nun? Und da kam eben die Idee durch die Vorgängerin unserer Bürgermeisterin, gemeinsam mit dem Bauhaus, dass wir versuchen das Thema Familie zu erarbeiten. Also: Stadt als Familie. Wo gibt es Defizite? Wo gehen wir rein? Und das hat sich im Rahmen der acht Jahre durch gezielte Aktionen sehr, sehr gut entwickelt. Letzter Ausdruck ist das vor zwei Jahren gegründete Bündnis, das immer noch aktiv ist und eine hohe Aufmerksamkeit des Familienministeriums in Berlin hat."
Im "Bündnis für Familie" sind die 40 Vereine der Stadt und ihre ehrenamtlichen Angebote vernetzt. Sogenannte städtebauliche Missstände wie der alte Bahnhof werden auf einer ökologischen Basis und mit sozialem Ziel behoben. Landesregierung, Kommune und Vereine ziehen dabei an einem Strang.
"Es ist klar, dass die Menschen mit dieser sich verändernden Lebenslage auch umgehen wollen. Das heißt, wir werden in Zukunft Modelle entwickeln - und da gibt es sehr viele Ansätze und Wanzleben ist sicher ein Beispiel dafür - wie wir ein Wohlergehen der Gesellschaft mit weniger Wachstum oder ganz ohne Wachstum bewerkstelligen können."
Sagt Doktor Reiner Klingholz, Direktor des Berlin Instituts für Bevölkerung und Entwicklung. In Wanzleben wird seit 2003 vorausschauend neu strukturiert: Jeder Rückbau, Umbau oder Neubau ist barrierefrei – für Rollatoren UND für Kinderwagen. Mitten durch die Stadt soll sich langfristig ein "Grünes Band" ziehen und die Menschen verbinden, erklärt Sylvia Dammering, die Leiterin im Amt für Soziales.
"Wir machen das, wir stehen dahinter. Wir wollen die Lebensqualität erhalten! Das ist das Entscheidende."
Um Wachstum, steigenden Wohlstand und wirtschaftsorientierte Fortschrittsideen geht es in Wanzleben nicht mehr. Dafür um Zusammenhalt und Eigeninitiative. Oder wie der Berliner Zukunftsforscher Gerhard De Haan sagt: Um das
"Wohlbefinden vor Ort" als eine wichtige Größe, wo Menschen sagen: da bleib ich dann doch, auch wenn ich etwa pendeln muss, wenn ich arbeiten will, obwohl ich mich dann ein bisschen mit engagieren muss, aber hier lebt es sich gut."
Wohlergehen und Wohlbefinden statt der alten Vorstellung von "Wohlstand" – es geht um einen tiefen Wandel der Gesellschaft. Doch wie genau sieht er aus? Wohin bewegt sich unsere Gesellschaft in den nächsten 20 Jahren? Welche Szenarien lassen sich entwickeln? Wie können wir uns auf Veränderungen einstellen? Und was könnte ein Leitbild für uns sein? Solche Fragen beschäftigten die Wissenschaftler an deutschen Hochschulen und Forschungsinstituten zurzeit überall. Am Institut für Erziehungswissenschaftliche Zukunftsforschung an der Freien Universität Berlin werden erstmals in Deutschland junge Menschen in einem neuen Masterstudiengang ausgebildet, die sich nur solchen Fragen stellen. Institutsleiter Professor Gerhard de Haan:
"Unser Ziel ist, die Personengruppe so zu qualifizieren, dass sie eine substanziell und fundiert aufgesetzte Form von Zukunftsforschung machen können – für Politikberatung, im Bereich von Unternehmen et cetera, dass es sozusagen ganz vielfältige Ansätze gibt, wo man später tätig sein kann."
Am Berlin Institut für Bevölkerung und Entwicklung werden Wachsen und Schrumpfen seit Jahren täglich beobachtet und Prognosen erstellt. Reiner Klingholz:
"Es gibt zwei Schwerpunkte in dieser Diskussion. Das eine ist die alte Wachstumskritik, die wir schon in den 70er-Jahren vom Club of Rome gehört haben, dass bei einer wachsenden Weltbevölkerung, die vom Konsum her immer mehr will und braucht und immer mehr Rohstoffe verbraucht, irgendwann Grenzen erreicht sind. Auf der anderen Seite stellt sich diese Frage plötzlich anders. Weil wir so ganz dumpf untergründig plötzlich das Gefühl haben: Mit dem Wachstum scheint es nicht mehr so weiter zu gehen, weil ja beispielsweise die Bevölkerung nicht mehr wächst, weil die Bevölkerung stark altert und vielen dämmert es, dass möglicherweise auch die Wirtschaft in einer alternden, schrumpfenden Gesellschaft nicht mehr wachsen kann."
Am Wuppertal Institut für Klima, Umwelt und Energie diskutierte in diesem Jahr eine Ringvorlesung mit dem Titel "WachstumsWende" neue Konzepte für eine Zukunft. Institutsleiter Professor Uwe Schneidewind:
"Wir haben gerade in unserer deutschen Volkswirtschaft mit so vielen grundlegenden Krisenphänomenen unserer Wirtschaft zu tun, die mit überbordender Beschleunigung zu tun haben, wir brauchen das Nachdenken über völlig neue Prinzipien von Ökonomie, die Tatsache, dass das uns dann nebenbei vielleicht auch noch hilft, die ökologische Krise zu entschärfen ist ein netter Bei-Effekt, aber es ist gar nicht der Kern. Und da können Sie sich vorstellen, da prallen dann sehr unterschiedliche Welten aufeinander."
In Bonn gibt es seit 2007 das "Denkwerk Zukunft", geleitet von dem Soziologen Professor Meinhard Miegel. In sogenannten "Denkkreisen" über beispielsweise die "Funktionsfähigkeit der Gesellschaft" oder den "Bewusstseinswandel" arbeiten Wissenschaftler unterschiedlichster Disziplinen hier an Szenarien für eine Gesellschaft ohne Wachstum.
"Ich glaube nicht, dass man jetzt artifiziell sagen kann, wir nennen diese Sache jetzt irgendwie ganz anders und jetzt haben wir einen neuen Begriff. Nein, man muss eine kritische Distanz zum Wachstumsbegriff bekommen und man muss schon immer mitfragen: Hat dieses Wachstum, was wir da verzeichnet haben, in gleichem Maße Wohlstand gemehrt?"
Und am Kulturwissenschaftlichen Institut Essen denkt der Philosoph Professor Ludger Heidbrink in dem Forschungsprojekt "Verantwortungskulturen" über einen neuen Fortschrittsbegriff nach:
"Ich glaube, dass die Fortschrittsidee so wie wir sie kennen, keine Zukunft mehr hat und wir sie durch andere Fortschrittsmodelle ablösen sollten."
Ziel der unterschiedlichen Überlegungen und Forschungsarbeiten ist es, Gesellschaftsmodelle für die Zeit zu entwickeln, in der das Leben, so wie wir es heute führen, nicht mehr möglich sein wird. Das Leben in einem Land, dessen zahlenmäßig kleinere Bevölkerung dann durchschnittlich älter ist, wird ein anderes sein. Aber nicht unbedingt schlechter. Meint zumindest Ludger Heidbrinck:
"Ich halte es für wichtig, dass sich die Menschen mehr und mehr Gedanken darüber machen, was in ihrem Leben wirklich eine Rolle spielt. Und sich überlegen: Brauche ich eigentlich all das, was ich in meinem Haushalt habe. Und die Kunst des Ballastabwerfens wird in Zukunft immer wichtiger werden, dass man sich Gedanken darüber macht, mit welchen Konsumartikeln, mit welchen Gegenständen, mit welcher Musik, mit welchen Büchern will ich überhaupt was zu tun haben, im Grunde genommen sollte man radikal ausmisten und zu den wesentlichen Dingen zurückkehren. Das heißt ja dann auch: Die Dinge, die man hat, länger nutzen."
Growing by shrinking heißt das Konzept, an dem Heidbrink im Kulturwissenschaftlichen Institut Essen arbeitet - nach der Devise: simplify your live - weniger kann auch mehr sein. Durch die Konzentration auf die, wie Heidbrinck es nennt; "wesentlichen Dinge" gewinne man sogar etwas zurück: Zeit!
"Wir haben immer weniger Zeit für etwas, und diese Verkappung der Zeit ist eben eine Folge unserer hochkompliziert geordneten Gesellschaft, mit allen möglichen Verpflichtungen, Verbindlichkeiten, Terminen, die Kinder müssen in den Kindergarten geschickt werden, die Freunde müssen zu irgendwelchen Gartenfeiern eingeladen werden, man muss dann gleichzeitig noch ins Fitnessstudio und zur Weiterbildung, also wir stopfen uns voll mit allen möglichen Terminen, am Ende haben wir für nichts mehr Zeit, ... müssen wir wirklich so viel Zeit vergeuden und verschleudern für Dinge, die wir am Ende gar nicht benötigen? Ich bin mir ganz sicher: Die Mehrzahl der Menschen wird sagen: im Grunde genommen brauche ich das alles gar nicht, was ich da habe- ich brauche eigentlich nur Zeit."
Weniger und nachhaltigerer Konsum entlastet die Umwelt und die Konsumenten, so die Theorie, die auch der Ökonom Niko Paech von der Universität Oldenburg im Rahmen der Wuppertaler Ringvorlesung "Wachstumswende" vertritt:
"Wenn wir mal die sogenannten Wertschöpfungsketten, also Produktionsprozesse analysieren, an deren Ende die Güter und Dienstleistungen zu finden sind, mit dem wir unseren Wohlstand aufbauen, dann stellt man fest, dass die Energieabhängigkeit unseres materiellen Wohlstandes enorm ist. Diese Energieabhängigkeit, die wird unterschätzt. Das heißt, wenn Peak Oil eintritt, das heißt, wenn der Preis für ein Barrel Rohöl dauerhaft jenseits der 200 Dollarmare liegt, dann wird alles teurer, nicht nur die Produkte, die einen Motor oder eine Heizspirale oder etwas Ähnliches haben, also etwa Autofahren, fliegen, heizen und so weiter, sondern selbst Textilien, Nahrungsmittel oder Gegenstände, die völlig fest, also keinen An- und Ausschalter haben, die werden dann auch teurer, weil in der Produktion so viel fossile Energie steckt."
Doch welche gesellschaftlichen Auswirkungen hätte eine grundlegende Veränderung unseres Konsumverhaltens? Martin Schulte, Soziologe und Mitarbeiter am Bonner Denkwerk Zukunft
"Da geht es richtig um die Frage: Wie kann eine Gesellschaft, in der es bisher nur Wachstum gibt, die eine starke Konsumorientierung hat, die ihren Status aus Materiellem zieht, wie kann man das ändern und sagen, nein, ich führe ein glückliches Leben, ohne dass ich mir jährlich ein neues Smartphone kaufe oder ein neues Auto oder was auch immer. Das ist natürlich ein grundsätzlicher Wandel, da geht es wirklich ans Eingemachte und vor allem auch, wenn man da an Wirtschaftsverbände, an Interessengruppen denkt, die Macht und Einfluss zu verlieren haben, wenn wir nicht mehr so weiter machen wie bisher."
Für den Leiter des Denkwerk Zukunft Meinhard Miegel geht es zunächst darum, dass wir uns von der Wachstumsgläubigkeit unserer Gesellschaft verabschieden.
"Wachstum ist ein Instrument. Es ist kein Ziel an sich. Der Sinn von Wachstum, so wie wir den Wachstumsbegriff heute verwenden, besteht darin, dass Wohlstand gemehrt wird. Der Bauer, der auf das Feld ging und dort sich freute, wenn etwas wuchs, freute sich ja nicht an den Wachsen an sich, sondern er freute sich auf die bevorstehende Ernte. Und das gilt auch für die industriellen Produktionen. Es geht also um Wohlstand, nicht um Wachstum. Und der Fehler, der gedanklich im Laufe der Zeit immer krasser geworden ist, ist, dass man den Wachstumsbegriff als Selbstwert betrachtet hat. Dass man gesagt hat: Wenn etwas wächst, dann ist das bereits in sich gut."
Die Gleichung: mehr Wachstum gleich mehr Wohlstand stimme nicht mehr. Im Gegenteil:
"Infolgedessen müssen wir künftig mit mehreren Begriffen arbeiten. Wir können also sagen, in bestimmter Weise messen wir den Umschlag von Gütern und Dienstleistungen und nennen das meinetwegen Wachstum. Und im gleichen Atemzug müssen wir sagen: Das und das ist verbraucht worden. In diesem Umfang ist die Umwelt belastet worden. In diesem Maße ist die Gesellschaft zermürbt worden in diesem Prozess des Wachstums. Und wenn wir das zusammen betrachten, kommen wir zu dem Ergebnis, dass im Zuge dieses Wachstumsprozesses sich Wohlstand gemehrt hat, oder stagniert ist oder gesunken ist."
"Die Idee der Effizienzsteigerung ist ja: Wir können immer so weiter machen wie bisher und gleichzeitig können Millionen von Menschen auf unser Niveau aufschließen, wir müssen eigentlich nichts tun. Und das ist die Hauptstrategie, die die Politik bisher verfolgt. Aber das ist physikalisch fast gar nicht möglich."
Martin Schulte weist jedoch auch auf die Schattenseiten hin, die eine Gesellschaft ohne Wachstum mit sich bringt:
"Soziale Sicherung wird unter Schrumpfungsbedingungen eine Mindestsicherung sein, das gilt für die Rente, das gilt für die Arbeitslosigkeit, das gilt auch für die Gesundheit, wenn wir nicht mehr so prosperieren als Gemeinwesen, dann können wir da nur noch Mindeststandards gewähren, auch wegen der Alterung der Gesellschaft, das muss aber kein Verlust sein, wenn wir dann auf der anderen Seite den Arbeitsmarkt sehen, der wird wesentlich arbeitsintensiver werden, wenn wir soziale Dienstleistungen, Gesundheitsdienstleistungen ausbauen, dann muss das wirklich nicht mit einem Verlust einhergehen, weil eben anderes an die Stelle tritt. Auch Gemeinwohlorientierung kann ne große Rolle spielen."
Eine freiwillige Entscheidung wird der Konsumverzicht nicht sein. Meint Reiner Klingholz vom Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung. Aber eine Zwangsläufige:
"Weil wir auf einem begrenzten Planeten leben, mit begrenzten Rohstoff, mit begrenzten Senken, wo die Abfallstoffe dieser Zivilisation hinkommen und wir haben heute mit sieben Milliarden Menschen einen Punkt erreicht, wo wir zu viele sind für die Erde, jedenfalls anhand der Konsummuster, die wir an den Tag legen. Wir dürften nach unseren Standards hier in Deutschland vielleicht zwei bis drei Milliarden Menschen auf der Erde sein, die so, in so einem Saus und Braus leben, wie wir das tun. Vom Lebensstandard eines Bangladeschers her könnten wir auch locker sieben oder neun Milliarden verkraften. Aber genau diese Länder werden sich ja in Richtung unserer Gesellschaft entwickeln und da muss es eben möglichst so passieren, dass die nicht diese Rohstoff zehrenden Wohlstandsmuster verfolgen, wie wir das lange gemacht haben."
Leiten kann uns dabei, so Reiner Klingholz , ein "Rohstoff", den man durchaus immer weiter steigern kann: Bildung.
"Wir sollten sowohl das Wachstum wie auch das Schrumpfen unter dem Begriff Bildung subsumieren. Denn wir können in einer schrumpfenden alternden Gesellschaft uns am besten anpassen durch maximale Ausnutzung des Humanvermögens und das geht über Bildung. Wir haben in Zukunft weniger junge Menschen und die müssen schlicht und einfach für ein Einkommen in dem Staat sorgen, was aus weniger Köpfen kommt. Bildung ist auch das Mittel zur Anpassung an den demografischen Wandel dort, wo man das Wachstum bremsen will."
Zum Beispiel die Bildung von Frauen in Entwicklungsländern. Dort wachse die Bevölkerung derzeit viel zu schnell und mit ihr der Mangel, sagt Reiner Klingholz. Entwicklungshilfe komme nicht hinterher. Für gut ausgebildete Frauen aber ergäben sich andere Perspektiven – und in der Folge weniger Kinder.
"Langfristig sieht es vermutlich so aus, dass wir bis Ende dieses Jahrhunderts über das Maximum der Weltbevölkerung bei vielleicht neun oder zehn Milliarden hinweg sind, und danach wird auch die Weltbevölkerung schrumpfen, und wir laufen, wenn alles gut geht, auf eine geringere Bevölkerungszahl zu, das werden im Mittel ältere Menschen sein als heute, aber auch im Mittel wesentlich gesündere und gebildetere Menschen sein als heute. Und die sind natürlich in der Lage, friedlicher zu leben und auch angepasster zu leben an diese Veränderungen, die wir im Moment noch durch unser Wachstum auslösen, unter anderem die Klimaveränderungen oder auch die Ressourcenplünderung."
Vorsichtig optimistisch könnten am Ende Gleichgewicht und Stabilität winken – wenn die menschlichen Gesellschaften die Herausforderungen der Übergangsphase meistern.
"Ich würde sagen, dass früh entwickelte, hoch entwickelte Länder wie Deutschland, wie Japan bereits in der Postwachstumsphase angekommen sind. Sie sind das zumindest demografisch, denn sie schrumpfen bereits. Japan schrumpft deutlich, Deutschland schrumpft deutlich. Und dieses Schrumpfen wird sich bald schon stark beschleunigen und es wird gefolgt sein von einer wirtschaftlichen Stagnation. Dennoch wollen wir, dass es uns weiterhin gut geht – und das sind die Wege in die Postwachstumsgesellschaft. Das sind die Wege, auf die die ganze Welt wartet, weil wir eben diese Stabilität ohne Wachstum brauchen."
Für die Postwachstumsgesellschaft braucht man eine Postwachstumsökonomie, die von regenerativen Energieformen getragen wird. Dem Volkswirt Niko Paech reicht das nicht aus. Er entwickelt für Deutschland ein pessimistisches Szenario:
"Die Bundesrepublik Deutschland ist deshalb nicht so einfach ökonomisch souverän zu gestalten, weil der größte Teil der Konsumgüter, die wir uns aneignen, gar nicht mehr in Deutschland produziert wird. Also selbst, wenn wir in Deutschland in alle möglichen Flächen jetzt ausstaffiert werden, mit Biogasanlagen, Windkraftanlagen und dann demnächst in sogenannten Freiland- Fotovoltaikanlagen, und wir dann auch einen weiteren ökologischen Schaden haben, dann wäre nicht mal damit erreicht, dass wir von Energie unabhängig sind, wir würden dann nur die Energie, die in Deutschland selbst gebraucht wird, regenerativ erzeugen."
Seine Konsequenz:
"Um unabhängig und weniger verletzlich zu sein, müssten wir die globalen Wertschöpfungsketten auf den Prüfstand stellen, das heißt, über regional-ökonomische Versorgungen nachdenken, auch wieder über neue Formen der urbanen Selbstversorgung, über Gemeinschaftsgärten, Handwerk, selber reparieren, selber Dinge warten, mit Nachbarn Dinge tauschen, statt jeweils 'ne eigene Bohrmaschine und einen eigenen Winkelschleifer zu kaufen. Das werden Konzepte sein, die uns zukünftig weiterhin zu Wohlstand verhelfen, aber zugegebenermaßen auf einem bescheideneren Niveau."
Liegt die Zukunft Deutschlands in einem Rückschritt zu Bäuerlichkeit und Handwerk? Rückkehr zum Lokalen mitten in der Globalisierung? Wird es die Lösung sein, dass die Bevölkerung eines der reichsten Länder der Welt wieder zu einer Gemeinschaft von Selbstversorgern wird? Soweit möchte Ludger Heidbrinck vom Kulturwissenschaftlichen Institut Essen nicht gehen. Doch dass wir uns umstellen müssen, meint auch er. Und entwickelt an seinem Institut einen Kriterienkatalog zur Zumutbarkeit:
"Das ist eigentlich eine der spannendsten und bis heute von der Forschung ungelöstesten Fragen: Wann empfinden Menschen bestimmte Maßnahmen, die sie durchführen müssen als Zwang und wann sind sie bereit, diesen Maßnahmen nachzugeben. Wenn es drum geht, dass die Menschen sich jetzt im Klimabereich stärker engagieren für ihre Umgebung, und sagen, ich sollte jetzt in meinem Vorgarten eine Solaranlage oder eine Windanlage aufbauen, und damit mein Auto betanken, ist das den Bürgern unzumutbar oder kann man ihnen das sehr wohl zumuten?"
Eine Zumutung zu ertragen, ist das eine. Durchsetzbar ist in einer Demokratie aber nur, was mehrheitsfähig ist. Die Bevölkerung muss dem Wandel also zustimmen. Wann tut sie das?
"Ich glaube, ein ganz wesentlicher Indikator ist, dass die Menschen das Gefühl haben, selber entscheiden zu können. Also autonom handeln zu können. Und eigene Gründe für das Handeln zu haben."
Verantwortung wird, so Ludger Heidbrinck, immer nur dann übernommen, wenn man zu nichts gezwungen wird.
"Die Kunst besteht darin, dass man diese Zwänge einführen muss, immer unter der Voraussetzung, dass die Betroffenen dies freiwillig akzeptieren. Das Rauchverbot hat ja auch funktioniert. Menschen können sich ändern, wir können auch unsere Kultur relativ schnell ändern."
Auch Gerhard de Haan verweist auf die gesellschaftlichen Veränderungspotenziale:
"Das sehen wir an Ländern, die uns völlig überraschen, wie schnell sie sich versuchen zu demokratisieren. Auch das muss man sehen. In der Zukunftsforschung würde man sagen: Da hat jemand eine sogenannte "Wildcard" gezogen. Wildcards sind Ereignisse, die schwer vorhersehbar sind, keinen hohen Grad an Wahrscheinlichkeit haben und dennoch auftauchen."
Der Zusammenbruch des Sowjetimperiums war so ein Ereignis oder die Demokratisierungswelle der arabischen Länder, die niemand vorhergesehen hat. Warum sollte es also in den westlichen Industriestaaten nicht gelingen, sich in gewisser Weise spontan zu ändern und neue Lebensformen zu entwickeln?
"Möglicherweise müsste man auch einfach von dieser Idee sich verabschieden, dass es überhaupt irgendein Ziel gibt, auf das man hinsteuert. Ich glaube, dass es eher sinnvoll ist, die Entwicklung als eine Art Kreislauf zu betrachten, weil man dann auch nicht immer wieder das Bedürfnis hat, etwas Neues zu erfinden oder zu entdecken und irgendwo hinzuwollen. Das ist ja häufig auch der Grund für die Unzufriedenheit: Weil man Ziele hat, kann man die Ziele nicht erreichen und scheitert dann am Ende und das ruft diese Unzufriedenheit hervor, mit der dann viele Projekte in Angriff genommen werden."
In Angriff genommen ist auf jeden Fall das Nachdenken über den Wandel. Berlin, Bonn, Essen oder Wuppertal sind längst nicht die einzigen Orte, an denen sich Wissenschaftler den Kopf über die Zukunft einer Gesellschaft nach dem Wachstum zerbrechen. Uwe Schneidewind vom Wuppertal Institut für Klima, Umwelt und Energie:
"Das, was die Diskussion zeigt, ist, dass wir auf der Suche sind nach neuen Gleichgewichten und dass wir ganz neue Bilder von der richtigen Mischung brauchen. Und die liegt sicher nicht in dem "und lasst uns wieder so leben wie im 19. Jahrhundert", sondern zu erkennen, dass ein Großteil der Innovation darin liegt, einzelne Elemente bestimmter Lebensformen und auch der Umkehr bestimmter ökonomischer Entwicklungen ein Baustein ist in so einem erweiterten Innovationsbild."
"Es ist so, dass sich da in den letzten drei vier Jahren enorm viel getan hat, also die Vernetzung zwischen den verschiedenen Gruppen hat zugenommen, wenngleich viel immer noch recht solitär arbeiten, - das schwächt die Schlagkraft- nichtsdestotrotz arbeiten immer mehr Gruppen, immer mehr Stiftungen zusammen, um hier zu einem Mentalitätswandel beizutragen","
sagt Martin Schulte vom Bonner Denkwerk Zukunft. Ein Beispiel ist das "Netzwerk Zukunftsforschung", aus dem der neue Masterstudiengang in Berlin viele Lehrkräfte bezieht. Er kann eine bunte Palette an Veranstaltungen anbieten. Und die führen dann zurück auf einen ganz praktischen Boden:
""Es gab etwa im Netzwerk Zukunftsforschung jemand aus der Stadt Köln. Der sagte: Ja ich bin in der Stadt zuständig für die Kanalisation. Da habe ich gedacht: okay. Aber was will der bei uns? Da sagt der: naja, wenn man eine Kanalisation baut, dann muss man die auf 100 Jahre auslegen, denn so lange sollte das halten. Schlagartig - natürlich! Natürlich ist das ein Thema der Zukunftsforschung! Die ganze Infrastruktur, die unter der Erde liegt! Ja? Und da muss man eine Vorstellung entwickeln, wie sich eine Region weiterentwickelt oder auch weiterentwickeln kann auf der Basis dessen, was man mal angelegt hat im Zuge von Technik und technischen Innovationen, spannend oder?""
Die Institute und universitären Einrichtungen, die sich mit neuen Fortschritts- und Gesellschaftsmodellen beschäftigen, verlassen dabei durchaus bewusst immer mehr das Gebiet der reinen Forschung. Sie nutzen Medien und öffentliche Auftritte, um ihre Erkenntnisse und Zukunftsvorstellungen einem breiten Publikum zu vermitteln und zielen auf konkrete Politikberatung.
""Wir sind ja der Ansicht, dass Wissenschaft immer praktisch sein muss. Praktisch heißt: wissenschaftlich fundiert, aber es soll am Ende Verhaltensänderungen, sollen gesellschaftliche Änderungen entstehen. Ein wesentlicher Anteil besteht natürlich darin, den "Überbau" für diese ganze Entwicklung zu liefern, das heißt, Vorstellungen zu kommunizieren, zu diskutieren, mit den Akteuren zu überlegen, in welcher Gesellschaft wir nun eigentlich lebe wollen. Was es heißt, eine fortschrittliche Gesellschaft zu sein. Die fortschrittliche Gesellschaft ist ja genau die, die von dieser alten Idee des Fortschritts Abschied nimmt und alternative, qualitative Wachstumsmodelle entwickelt."
Um die Alternativen gemeinsam zu finden, werden die Masterstudierenden im Fach Zukunftsforschung unter anderem mit Methoden ausgestattet.
"Es gibt einfach zu erklärende Verfahren, das ist etwa die sogenannte Delphi- Studie- das kommt von Delphi, dem Orakel- das heißt, es geht da um Zukunftsfragen, wo man Bürger befragt in einem bestimmten Feld und zwar auf deren eine Seite bezogen, auf das, was sie für wahrscheinlich halten und auf der anderen Seite, was sie wünschen, wie es eigentlich gehen sollte. Und das ist die entscheidende Diskrepanz, mit der man eigentlich gut arbeiten kann, wo ja auch eigentlich alle Politik sehr gut beraten wäre, sich auch ein bisschen nach den Wünschen von Bürgern etwa zu orientieren und zu sehen, das ist eigentlich das, wo die Bedarfe nun wirklich, wirklich liegen. Solche Studien setzen wir etwa auf",
erläutert Gerhard De Haan von der Freien Universität Berlin.
"Generell gesehen muss man sagen, dass wir in der Tat mitgestalten können, wenn andere dabei sind, wie wir können nichts verordnen. Das macht Zukunftsforschung nie. Soweit sollten wir uns auch nicht vorwagen."
Die Bevölkerung scheint den Ball aber auch aufgenommen zu haben. Mitte April eröffnete der Kunstverein Hannover, unterstützt unter anderem von der Kulturstiftung des Bundes eine Ausstellung zum Thema "Metapher des Wachstums". Sie wird auch in Frankfurt und Basel zu sehen sein. Das Publikum kommt und sucht: andere Lösungen.
"Wachstum ist ja eigentlich ein Thema, was Zeitgeist ist. Alles muss wachsen – ob es die Wirtschaft ist, ob es der Besitz ist, im Grunde über all alles, es muss immer mehr werden, mehr werden, mehr werden."
"Also geht das immer schneller, weiter oder aber hat das seine Grenze? Können wir uns das eigentlich noch erlauben, was wir uns erlauben?"
"Vielleicht gibt es aber auch Ansätze, wie man das variiert und da vielleicht andere Wege oder Abzweigungen findet..."
"Also ich stelle mir das eher als ein langfristiges Experiment vor, wir werden das nicht von heute auf morgen hinbekommen, der Ausstieg aus der Wachstumsgesellschaft wird ein sehr, sehr langwieriger Prozess sein ... "