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Was lernen deutsche Grundschüler wirklich?

Am achten April wurde die Resultate der Internationalen Grundschul-Lese-Untersuchung, kurz IGLU, vorgestellt. 35 Länder waren daran beteiligt. In Deutschland wurden 10 000 Viertklässler an 245 Schulen aller Bundesländer auf ihre Fähigkeit getestet, literarische und naturwissenschaftliche Texte zu lesen, zu verstehen und Schlüsse daraus zu ziehen. Anders als die 15jährigen, die auf der PISA-Liste auf Rang 20 von 31 gelandet sind, schafften die Grundschüler immerhin auf Platz 11 von 35. Den ersten Rang nimmt Schweden ein. Die PISA Spitzenländer Finnland, Japan, Korea waren nicht beteiligt.

Moderation: Eva Maria Götz |
    Dieser gute Mittelplatz wird von den Verantwortlichen gefeiert... aber was bedeutet er? Lässt Rang 11 den Schluss zu, die deutsche Grundschule zu feiern - oder andersherum: das vielgliedrige deutsche Schulsystem abzuschaffen? IGLU zeigt: allein ihre Struktur begrenzt die Mängel der öffentlichen deutschen Grundschule. Zum Beispiel sind in den besserplacierten Ländern Kindergärten allgemeinüblich, Kindergärten, die systematisch aufs Lernen vorbereiten. Zum Beispiel wird woanders von jüngeren Pädagogen deutlich mehr Unterricht erteilt. Deutschlands Grundschüler kommen aus allen Milieus. Viele von ihnen können zur Einschulung kaum deutsch. Dass sie am Ende der vierten Klasse so dastehen, ist ein Verdienst der gern belächelten - und im IGLU-Vergleich gut dotierten - Grundschullehrerinnen.

    Die schon lange alle methodischen Register ziehen - weil ihnen gar nichts anderes übrigbleibt. Von denen man erwartet, dass jedes Kind Lesen und Rechnen lernt. Das schaffen auch die Migrantenkinder - aber, sagt IGLU: schwerer als die anderen. Leider verspielen auch die Heldinnen der Pädagogik deutliche Ansätze von Chancengleichheit: Wenn sie die Kleinen weiterempfehlen, vertrauen sie eher den Eltern als ihren Kollegen in der Sekundarstufe: ein Vater mit Abitur bringt sein stilles Töchterchen aufs Gymnasium - eine türkische Putzfrau ihren pfiffigen Unruhegeist kaum. Letztlich diktiert ein Schulsystem die Regeln, das diskriminiert.

    Das haben die Verantwortlichen erkannt. Ihre reflexartigen Reaktionen auf IGLU verraten das: Die einen trauen sich nun, wenigstens eine achtjährige Regelschulzeit für alle zu fordern. Die anderen wollen die Grundschule verlängern. Zu den einen gehört Bundesbildungsministerin Bulmahn. Sie kann ihren Länderkollegen nicht viel vorschreiben. Die anderen müssten wissen, dass eine verlängerte Grundschulzeit am Problem nichts ändert.

    Und Kultusminister Bernd Busemann sollte alpträumen ob seiner Idee, die rigide Auslese der Zehnjährigen in Niedersachsen wieder einzuführen. Mut zur Heterogenität! rufen GEWler. Bayerns Monika Hohlmeier registriert eine "inhomogene Schülerschaft". Im Klartext: deutsche Lehrer müssen akzeptieren, dass sie junge Leute vor sich haben, die sie intellektuell wie kulturell nicht über einen Leisten schlagen können. Die eben nicht so lange ausgelesen und spezialisiert und differenziert werden können, bis der klägliche Hauptschulrest übriggeblieben ist und jeder Kandidat die passende Schule gefunden hat. Die findet er letztlich nicht, die lässt sich nicht bezahlen, die ist lebensfremd.

    Die Strukturdebatte läuft seit PISA hinter vorgehaltener Hand. IGLU sollte als Argument zum Handeln dienen.

    Gesprächspartner:

    Prof. Dr. Renate Valtin, Abteilung Grundschulpädagogik, Humboldt Universität, Mitglied im IGLU-Konsortium http://amor.rz.hu-berlin.de/~h0319kfm

    Dipl. -Päd. Horst Bartnitzky, Vorsitzender des Grundschulverbandes www.grundschulverband.de

    Dr. Willy Nikolay, Leiter des Clara-Schumann-Gymnasiums Bonn www.clara-online.de

    Literatur zum Thema:

    Die Ergebnisse der IGLU-Studie erscheinen am 8. April im Waxmann-Verlag in Buchform. Im Internet sind sie abzurufen unter: www.erzwiss.uni-hamburg.de/IGLU/home.htm

    Links zum Thema:

    http://www.grundschule.bildung-rp.de/gs/SchwarzesBrett/Iglu.html

    http://www.arge.schule-hamburg.de/Archiv/STIIGLU.html

    http://www.erzwiss.uni-hamburg.de/IGLU/home.htm

    http://www.ipn.uni-kiel.de/projekte/iglu/iglu.html

    Ihre Fragen und Meinungen erwarten wir während der Sendung unter: Hörertelefon: 00800 44 64 44 64 Hörerfaxnummer: 00800 44 64 44 65 E-Mail: forumpisa@dradio.de

    Die nächste Sendung:

    25. April, 10.10 Uhr bis 11.30 Uhr Angst in der Schule? Moderation: Jürgen Wiebicke

    Von allen Sendungen können Sie einen Kassettenmitschnitt bestellen. Senden Sie einen Verrechnungsscheck über EUR 10,- an: DeutschlandRadio Marketing GmbH Raderberggürtel 40 50968 Köln

    Außerhalb der Sendung erreichen Sie die Redaktion unter: 0221/345 1527/1503