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Was macht Genie aus?

Der deutsche Verlag frönt der Lust am Kanonisieren: "Die 100 bedeutendsten Autoren der Weltliteratur" werden da fröhlich avisiert, obwohl der inzwischen vierundsiebzigjährige amerikanische Literaturwissenschaftler Harold Bloom im Untertitel seines "Genius" - das Werk ist satte 1000 Seiten schwer - lediglich ein "Mosaik exemplarisch schöpferischer Geister" verspricht: das klingt zwar kompliziert, trifft es aber viel besser und kränkt auch niemanden; zumindest erstaunt müsste man ja sonst darüber sein, dass Hölderlin, Kleist, Heine oder Büchner, um nur ein paar zu nennen, nicht zu den 100 Größten zählen sollen, wohl aber Tennessee Williams oder Lewis Carroll oder... Nein, Blooms Auslese ist nun einmal entschieden angloamerikanisch geprägt, aber das tut dem Rang dieses außerordentlichen Buchs keinen Abbruch. Es handelt sich, wie schon bei Blooms Shakespeare-Buch "Die Erfindung des Menschlichen", um ein Opus magnum, mit Brillanz und Verve und fulminanten Kenntnissen geschrieben - und mit Witz außerdem. Über Tolstoi lesen wir:

Von Martin Krumbholz |
    Tolstoj will uns nicht nur retten, er will uns heilen. In der 'Kreutzersonate’ gibt er sich allerdings selbst ziemlich verrückt, wenn er sich von der weltweiten Einstellung des Geschlechtsverkehrs, ehelich oder nicht, sowohl Erlösung als auch Heilung verspricht. Dass eine Erzählung, die auf einer solchen Prämisse beruht, immer noch überaus lesbar, ja geradezu überwältigend sein kann, ist ein beunruhigender Beweis für die fast unerreichte Einzigartigkeit von Tolstojs Genius.

    Was aber macht Genie aus? Nach Bloom sind es drei Eigenschaften: Originalität, Kühnheit und Selbstvertrauen. Ein Genie erfindet etwas Neues, Eigenes, und diesen spezifischen Merkmalen geht Bloom jedes Mal nach. Man kann also die normativen Anschauungen des Autors der Kreutzersonate ablehnen und wird dem Text dennoch Bewunderung zollen, weil es ihm gelingt, den Leser auf originelle Art zu beunruhigen. Bloom systematisiert eigensinnig, er beginnt nicht bei Homer und endet nicht bei Nabokov (der kommt nur am Rande vor), sondern ordnet seine Genies in ein spezifisches Raster ein, das der jüdischen Kabbala entlehnt ist - den Bloomschen Synopsen muss man sich mit einer gewissen Gelassenheit anvertrauen; man könnte sonst darüber streiten, ob der von Bloom abgöttisch verehrte Samuel Johnson, ein englischer Literaturkritiker des 18. Jahrhunderts, und dessen Biograph, der schottische Journalist James Boswell im Ernst auf eine Stufe mit Goethe, Freud und Thomas Mann gestellt werden sollten: "Moralisten" sind andere auch, und ist Mann als "Weisheitsautor" treffend erfasst? Wer indes wissen will, wie der Einfluss von Cervantes und Shakespeare auf Stendhal und Turgenjew, oder auf "Moby Dick" und "Huckleberry Finn", beschaffen ist, wird es erfahren. Ebenfalls, was die tragikomischen Dramatiker Molière, Ibsen, Tschechow, Wilde und Pirandello über ihr Genre hinaus verbindet. Aber auch die Lust am Unterscheiden, am Ranking zeichnet Bloom aus, manchmal bis an die Grenze der Selbstparodie. Hören wir einmal in den Anfang des Freud-Kapitels hinein:

    Der Freud, welcher von bleibendem Wert ist, ist der große Moralessayist und mit Montaigne vergleichbare Autor. Die größten Schriftsteller aus dem jüngst vergangenen Jahrhundert waren (...) Proust, Joyce, Kafka und Freud. Montaigne ist einem Cervantes und Shakespeare ebenbürtig, Freud befindet sich in der visionären Gesellschaft von Joyce und Proust. Beide, Montaigne und Freud, nahmen die kommenden autobiographischen Ich-Fiktionen aufs wunderbarste vorweg: Jeder war sich selbst sein großes Thema.

    Aber solche Synopsen dienen eben nicht als Selbstzweck, sondern als Anknüpfungspunkt intertextueller Spekulationen. Der Einfluss Goethes auf Kafka ist hier von größerem Interesse als das "Kafkaeske". Der intellektuelle Schwung der Argumentationen ist mitreißend und verführerisch: Der Begriff "pädagogischer Eros" könnte für den Gelehrten Harold Bloom erfunden sein; wenn er von sich sagt, er wolle in seinen Schülern und Lesern den "Sinn für Wertschätzung" fördern, trifft das ganz sicher zu. Ohne emphatische Superlative geht es auch hier nicht: Ibsen sei der einzige Dramatiker nach Shakespeare, der eine eigene Form der Tragödie erschaffen habe; Tschechow "der menschlichste Autor seit Shakespeare" - man glaubt das ja gerne, nach allem was man schon weiß oder von Bloom erfährt. Und der englische Barde ist natürlich in Blooms Universum das Maß aller Dinge, der Genius der Genien. Großen Gewinn zieht man aus jedem einzelnen Kapitel dieses faszinierenden Buchs, wenn man dem jeweiligen Autor in einer zugleich profunden und subjektiv geschärften Weise begegnen will. Bei soviel Heldenverehrung ist es fast tröstlich, dass auch die unheimliche Seite der Genies nicht unterschlagen wird:

    Ich stand einmal ehrfürchtig vor Ibsens Schreibtisch und erschauerte bei dem Gedanken, dass er sich darauf einen Skorpion in einem Glasbehälter als Haustier hielt und ihn begeistert mit frischen Früchten fütterte.

    Harold Blooms Werk "Genius", aus dem Amerikanischen von Yvonne Badal, ist im Knaus Verlag erschienen und kostet 49,90 Euro.