Um einen Kultur- und Glaubenskampf des muslimischen Morgenlands gegen das christliche Abendland ging es im europäisch-islamischen noch nie. Auch nicht um einen Gegensatz der Religionen, sondern um die Durchsetzung von Machtinteressen. Und auch in den Ländern des Nahen und Mittleren Ostens spielt die Religion, der Islam, eine weit geringere politische Rolle als ihm unterstellt wird. Von diesem "Islam-Irrtum" handelt Michael Thumann gleichnamiges Buch. Der Nahostkorrespondent der "Zeit" will "Europas Angst vor der muslimischen Welt" – so der Untertitel – auf 330 Seiten lindern helfen. Und das gelingt ihm mit zahlreichen eindringlichen Augenzeugenberichten aus fast allen Ländern des Nahen und Mittleren Ostens. Der Leser lernt islamische Feministinnen in Saudi-Arabien, schwule Aktivisten in der Türkei und Hisbollah-Funktionäre im Libanon kennen. Einige Kapitel haben zwar zu viele Protagonisten, aber Thumann hat eine klare Intention: Er will dem Leser die im Westen völlig unterschätzte Vielfalt der islamischen Nachbarn zeigen – und ihm damit die Furcht nehmen vor einer islamistischen Gefahr:
"Ich denke, wir sollten viel stärker dahinter schauen, was die Leute bewegt, was sie antreibt, was die Motive sind. Und da ist Religion eines von vielen Motiven. Und es ist manchmal einfach auch ein nachgeordnetes Motiv. Während Dinge, die wir im Westen eigentlich recht gut kennen wie Nationalismus oder Machtkampf, der Kampf um Land – alles Dinge, die wir aus der europäischen Geschichte sehr gut kennen -, eben auch im Nahen und Mittleren Osten wirksam sind."
In der Türkei oder in Ägypten, so Thumann, geht es mitnichten primär um einen Gegensatz zwischen religiösen und säkularen Kräften, sondern um gesellschaftliche Teilhabe – und in der Politik um einen Machtkampf um Geldtöpfe und Posten. Als der Autor 2007 an den Bosporus zog, lernte er streng gläubige Türken kennen, die so gar nicht seinem Bild von hinterwäldlerischen, frommen Anatoliern entsprachen. Vorherrschend ist dagegen eine moderne, selbstbewusste Elite, die zwar Kopftuch trägt und Fruchtsaft dem Alkohol vorzieht, ansonsten jedoch alle Vorteile des modernen Lebens schätzt. Aber, beklagt Thumann, wer sei hierzulande noch bereit, genauer hinzuschauen, in einer von Zuwanderung und Integration geprägten Sicht auf die islamischen Nachbarn. Thumann schreibt:
"Manche sehen im Islam einen neuen Faschismus, andere sprechen von einem neuen Totalitarismus. Mit diesen Begriffen wird der Kulturkampf ins Existenzielle gehoben, das ist das Gefährliche an diesen Übertreibungen. Auf dem Feldzug gegen eine neue todbringende Ideologie – so bedrohlich wie der Totalitarismus des 20. Jahrhunderts – kann es nur Sieger und Besiegte geben. Nur Victory Day und bedingungslose Kapitulation, nur Leben und Tod. ... In der Rhetorik konservativer Politiker in Europa entsteht eine imaginäre Kulturgemeinschaft, zu der Muslime (...) nicht gehören. Die Berufung auf die kulturelle Identität droht die rechtlichen Universalwerte zu ersetzen, auf die der Westen bisher sein Selbstverständnis baute."
Dass sich auch die jüngsten Freiheitsbewegungen in Nordafrika noch in das Buch integrieren ließen, macht es zu einer höchst aktuellen Analyse. Gerade am Beispiel der mutigen Regenbogenkoalitionäre in Kairo – darunter sehr viele Frauen – lässt sich die europäische Arroganz und Ignoranz aufzeigen. Statt sich über den friedlichen Sieg der Freiheit in Tunis und Kairo zu freuen, sehen viele die islamistische Gefahr aufziehen. Dabei, so berichtet Thumann, wehte in den Tagen des Umsturzes nirgendwo die grüne Fahne des Propheten, und auch heute noch sind die Muslimbrüder nur eine politische Kraft unter vielen, die nun in Ägypten um die Zukunft des Landes streiten. Und die Islamisten sind sich auch untereinander nicht einig – wie in der Türkei könnten sie sich bald aufspalten in Moderate und Radikale. Schwarzmaler im Westen und Trittbrettfahrer in der islamischen Welt spielten sich Thumanns Ansicht nach in die Hände:
"Es gibt Leute im Westen, die identifizieren viele Prozesse in der Region in der arabischen Welt und der Türkei mit der Religion. Und es gibt viele Leute im Nahen und Mittleren Osten, die das für sich tun und die Religion in Anspruch nehmen. Wir können hier auch einen Staat als Beispiel nehmen: den Iran, der viele seiner hegemonialen Ambitionen in der Region revolutionär-islamisch bemäntelt. Aber das ist eben ein Vehikel. Ich glaube, dass es Interessen des iranischen Nationalstaates gibt, die diese iranische Regierung dazu treiben zum Beispiel ein Atomprogramm aufzubauen, das könnte ein säkulares iranisches Regime ganz genauso betreiben, weil sie das für das iranische nationale Interesse halten. Aber wenn man darüber den Mantel der Religion hängen kann und ihm damit etwas Moralisch-Erhabenes verleihen kann, ist das natürlich um so besser für die Begründung."
Die Welt des Nahen Ostens ist ungeordnet, die Spielarten des Islam schwer zu überschauen, und selbst die Akteure von Hamas und Hisbollah sind größere Realpolitiker, als der Westen glaubt. Wie also lässt sich der Islam-Irrtum überwinden?, fragt Michael Thumann am Ende seines klugen, auch für Kenner der Region anregenden Buches. Seine Antworten lesen sich wie der Vorschlag für einen Neuanfang im islamisch-europäischen Verhältnis: Zunächst müsse der Westen seine Fehler der Vergangenheit eingestehen, zum Beispiel seine Treue zu vielen arabischen Despoten. Wie wollen wir den arabischen Demokraten ehrlich gegenübertreten, wenn wir Panzer an die saudi-arabische Scharia-Diktatur liefern? Wir sollten stattdessen das Gespräch auch mit den politisch-religiösen Kräften der Region suchen – den legalen Islamisten, nicht zu verwechseln mit den terroristischen Neo-Fundamentalisten, wie Thumann sie nennt. Wir sollten aufhören, weiter sogenannte Antiterrorkriege zu führen, die nicht zu gewinnen sind und den Hass auf den Westen nur noch weiter schüren. Und, so fordert Thumann, wir sollten die Millionen Muslime unter uns nicht weiter mit Volksabstimmungen über jedes Minarett kränken oder mit üblen Bestsellern, in denen ihnen mindere Intelligenz unterstellt wird. Doch wo sind die mutigen Politiker unter uns, die diese Irrtümer zu korrigieren bereit wären? Diese Antwort kennt auch Michael Thumann nicht.
Michael Thumann: "Der Islam-Irrtum. Europas Angst vor der muslimischen Welt". Eichborn, 336 Seiten, 32,00 Euro. ISBN: 978-3-821-86238-5.
"Ich denke, wir sollten viel stärker dahinter schauen, was die Leute bewegt, was sie antreibt, was die Motive sind. Und da ist Religion eines von vielen Motiven. Und es ist manchmal einfach auch ein nachgeordnetes Motiv. Während Dinge, die wir im Westen eigentlich recht gut kennen wie Nationalismus oder Machtkampf, der Kampf um Land – alles Dinge, die wir aus der europäischen Geschichte sehr gut kennen -, eben auch im Nahen und Mittleren Osten wirksam sind."
In der Türkei oder in Ägypten, so Thumann, geht es mitnichten primär um einen Gegensatz zwischen religiösen und säkularen Kräften, sondern um gesellschaftliche Teilhabe – und in der Politik um einen Machtkampf um Geldtöpfe und Posten. Als der Autor 2007 an den Bosporus zog, lernte er streng gläubige Türken kennen, die so gar nicht seinem Bild von hinterwäldlerischen, frommen Anatoliern entsprachen. Vorherrschend ist dagegen eine moderne, selbstbewusste Elite, die zwar Kopftuch trägt und Fruchtsaft dem Alkohol vorzieht, ansonsten jedoch alle Vorteile des modernen Lebens schätzt. Aber, beklagt Thumann, wer sei hierzulande noch bereit, genauer hinzuschauen, in einer von Zuwanderung und Integration geprägten Sicht auf die islamischen Nachbarn. Thumann schreibt:
"Manche sehen im Islam einen neuen Faschismus, andere sprechen von einem neuen Totalitarismus. Mit diesen Begriffen wird der Kulturkampf ins Existenzielle gehoben, das ist das Gefährliche an diesen Übertreibungen. Auf dem Feldzug gegen eine neue todbringende Ideologie – so bedrohlich wie der Totalitarismus des 20. Jahrhunderts – kann es nur Sieger und Besiegte geben. Nur Victory Day und bedingungslose Kapitulation, nur Leben und Tod. ... In der Rhetorik konservativer Politiker in Europa entsteht eine imaginäre Kulturgemeinschaft, zu der Muslime (...) nicht gehören. Die Berufung auf die kulturelle Identität droht die rechtlichen Universalwerte zu ersetzen, auf die der Westen bisher sein Selbstverständnis baute."
Dass sich auch die jüngsten Freiheitsbewegungen in Nordafrika noch in das Buch integrieren ließen, macht es zu einer höchst aktuellen Analyse. Gerade am Beispiel der mutigen Regenbogenkoalitionäre in Kairo – darunter sehr viele Frauen – lässt sich die europäische Arroganz und Ignoranz aufzeigen. Statt sich über den friedlichen Sieg der Freiheit in Tunis und Kairo zu freuen, sehen viele die islamistische Gefahr aufziehen. Dabei, so berichtet Thumann, wehte in den Tagen des Umsturzes nirgendwo die grüne Fahne des Propheten, und auch heute noch sind die Muslimbrüder nur eine politische Kraft unter vielen, die nun in Ägypten um die Zukunft des Landes streiten. Und die Islamisten sind sich auch untereinander nicht einig – wie in der Türkei könnten sie sich bald aufspalten in Moderate und Radikale. Schwarzmaler im Westen und Trittbrettfahrer in der islamischen Welt spielten sich Thumanns Ansicht nach in die Hände:
"Es gibt Leute im Westen, die identifizieren viele Prozesse in der Region in der arabischen Welt und der Türkei mit der Religion. Und es gibt viele Leute im Nahen und Mittleren Osten, die das für sich tun und die Religion in Anspruch nehmen. Wir können hier auch einen Staat als Beispiel nehmen: den Iran, der viele seiner hegemonialen Ambitionen in der Region revolutionär-islamisch bemäntelt. Aber das ist eben ein Vehikel. Ich glaube, dass es Interessen des iranischen Nationalstaates gibt, die diese iranische Regierung dazu treiben zum Beispiel ein Atomprogramm aufzubauen, das könnte ein säkulares iranisches Regime ganz genauso betreiben, weil sie das für das iranische nationale Interesse halten. Aber wenn man darüber den Mantel der Religion hängen kann und ihm damit etwas Moralisch-Erhabenes verleihen kann, ist das natürlich um so besser für die Begründung."
Die Welt des Nahen Ostens ist ungeordnet, die Spielarten des Islam schwer zu überschauen, und selbst die Akteure von Hamas und Hisbollah sind größere Realpolitiker, als der Westen glaubt. Wie also lässt sich der Islam-Irrtum überwinden?, fragt Michael Thumann am Ende seines klugen, auch für Kenner der Region anregenden Buches. Seine Antworten lesen sich wie der Vorschlag für einen Neuanfang im islamisch-europäischen Verhältnis: Zunächst müsse der Westen seine Fehler der Vergangenheit eingestehen, zum Beispiel seine Treue zu vielen arabischen Despoten. Wie wollen wir den arabischen Demokraten ehrlich gegenübertreten, wenn wir Panzer an die saudi-arabische Scharia-Diktatur liefern? Wir sollten stattdessen das Gespräch auch mit den politisch-religiösen Kräften der Region suchen – den legalen Islamisten, nicht zu verwechseln mit den terroristischen Neo-Fundamentalisten, wie Thumann sie nennt. Wir sollten aufhören, weiter sogenannte Antiterrorkriege zu führen, die nicht zu gewinnen sind und den Hass auf den Westen nur noch weiter schüren. Und, so fordert Thumann, wir sollten die Millionen Muslime unter uns nicht weiter mit Volksabstimmungen über jedes Minarett kränken oder mit üblen Bestsellern, in denen ihnen mindere Intelligenz unterstellt wird. Doch wo sind die mutigen Politiker unter uns, die diese Irrtümer zu korrigieren bereit wären? Diese Antwort kennt auch Michael Thumann nicht.
Michael Thumann: "Der Islam-Irrtum. Europas Angst vor der muslimischen Welt". Eichborn, 336 Seiten, 32,00 Euro. ISBN: 978-3-821-86238-5.