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Mariam Kühsel-Hussaini: „Emil“
Was Nazis träumten

Der rumänische Philosoph Emil Cioran war ein vitalistischer Todessehnsüchtiger und ein früher Bewunderer Adolf Hitlers. Mariam Kühsel-Hussaini erzählt, wie er 1933 mit einem Stipendium ins nationalsozialistische Berlin kommt und seine geistige Heimat zwischen Schlägerbanden, Mordkommandos und Totenkopf-Anbetern findet.

Von Jan Drees |
Mariam Kühsel-Hussaini: "Emil"
Unheimlicher Grenzbereich zwischen Zivilisation und Barbarei - Mariam Kühsel-Hussainis Roman "Emil" (Portraitfoto: Patrick Bienert Gross / Buchcover: Klett-Cotta)
Die menschliche Destruktivität bleibt rätselhaft. Auch im Jahr 2022 steht unsere Zivilisation wie fassungslos vor Krieg, Missbrauch und Mord, vor dem um sich greifenden Wahnsinn der Normalität. Eine Möglichkeit von Literatur ist die poetische Einfühlung in Zustände menschlicher Zerstörungswut. Zu diesem Zweck führt Mariam Kühsel-Hussaini die Figuren ihres neuen Romans „Emil“ zurück in die 1930er Jahre, als nationalsozialistische Schergen ihre privatime Psychopathologie zum allgemeinen Gesetz erhoben.
Ihr Roman macht den unheimlichen Grenzbereich zwischen Zivilisation und Barbarei sichtbar – auf roh-körperlicher wie auch auf geistiger Ebene. Denn zahlreiche Intellektuelle biederten sich dem nihilistisch gestimmten Regime der Nationalsozialisten an, das gut zur allgemeinen, seit dem Ersten Weltkrieg kurrenten Stimmung passte. Man denke an Figuren wie Arnold Gehlen, Martin Heidegger oder Carl Schmitt. In Kühsel-Hussainis Roman steht ein weiterer Bewunderer Adolf Hitlers im Mittelpunkt, der rumänische Nihilist und Neo-Nietzscheaner Emil Cioran. Der lebte tatsächlich von 1933 bis 1935 in Berlin und erhielt dort Zugang zu verschiedenen Kreisen des sich mehr und mehr ausdifferenzierenden Parteikaders. Zu Beginn des Romans ist er untergebracht bei der rührigen Witwe Heilscher, die ihm Abendbrot bereitet und in geradezu kindlicher Weise vom Nationalsozialismus schwärmt.
„Hier sind Se jut uffjehoben, junga Mann. In unserm Führa und Reichskanzla Adolf Hitla verwürklicht sich würklich allet, woranet sich zu globen lohnt. Jibt nüscht andret als Nationalsozialist zu sein. Dit is dit einzich Richtje. Hab ja jetze sogar ne Krankenvasicharung! Tüchtich müssen Se sein, junga Mann, tüchtich!’“

Wie durch einen Kristall

Mit einem Stipendium der Alexander von Humboldt-Stiftung ist Cioran an die Friedrich-Wilhelm-Universität gekommen. Und hier, in Berlin, wähnt sich der Studiosus am Ort lang gehegter Sehnsüchte.
„Ich träumte immer nur davon, träumte von diesem inneren und äußeren magischen Raum, der durch nichts entsteht und durch nichts vergeht. Ich bin angekommen. Im magischsten Raum aller Träume.“
Dieser magischste Raum aller Träume ist das junge, in den Augen Ciorans kraftstrotzende Deutschland nationalsozialistischer Prägung, das ihn intellektuell und gesellschaftlich anzieht. Er trifft auf junge, euphorisch gestimmte Braunhemden und disputiert gelehrig – man hört ihm gebannt zu – über die Vergeblichkeit des menschlichen Daseins, über Fjodor Dostojewski und über seine Theorie, wie jene Melancholie bekämpft werden kann, die natürlich auch die niedergedrückte Gestimmtheit nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg meint. Ebenso selbstverständlich spricht Cioran raunend über sein Verhältnis zum Judentum.
„Ich glaube, ich hasse sie, weil ich sie viel zu sehr liebe, und da ich nicht weiß, warum ich sie so bewundere, hasse ich sie noch mehr, und weil sich die ganze Welt um sie allein dreht und kein bisschen um mich, hasse ich sie dreifach.“

Dunkelste Epoche deutscher Geschichte

Tatsächlich hat Cioran in seinen Schriften dieser Zeit die Juden gerade aufgrund ihrer Bedeutung und Macht verdammt. Kühsel-Hussainis Roman weiß viel über menschlichen Vernichtungswillen, der stets eine Sehnsucht nach Selbstvernichtung birgt – in Deutschland, dessen Bevölkerung nicht nur die Juden an sich, sondern auch den halluzinierten Juden in sich ausmerzen will. Über die Dauer eines Jahres und auf über 300 Seiten werden diese Zerstörungen und Selbst-Zerstörungen entlang eines großen Figurenpanoramas beobachtet.
Der „Emil“-Roman ist, anders als sein Titel vermuten lässt, keine literarische Biographie, sondern ein Kaleidoskop aus sich permanent wendenden Einzelbildern, ein schreckliches Tableau vivant der ordnungspolitischen, karrieristischen und geistesgeschichtlichen Überzeugungen dieser dunkelsten Epoche deutscher Geschichte. Der titelgebende Emil Cioran taucht keinesfalls auf jeder Seite auf. Er ist dennoch Mittelpunkt des vielfach verästelten Handlungsverlaufs. Seine – mit vitalistischer Emphase – lebensverneinende Weltsicht bildet den Basso continuo, der die einzelnen Szenen verbindet.
„Deutsch konnte ich bereits als Jugendlicher in meiner walachischen Heimat, wo die Vampire die Gesetze machen. Doch in Transsilvanien ist alles krank und das Schicksal verschwommen. Zaubertricks machen dir weis, du wärest gesund, doch gehörst du zu den wenigen Auserwählten des Unheils, verstehst du sehr bald, du bist es nicht.“

Etwas Reines, etwas Körperliches

Ein desillusionierter Denker wie er, so sieht es der Cioran dieses Buches, würde deshalb zwangsläufig zum unverstellt Wahrhaftigen drängen, das für ihn für das neu erwachte, großstädtische Berlin von SS, SA und NSDAP verkörpert wird.
„Etwas Reines, etwas Körperliches, etwas so Kraftvolles und endlich Unpoetisches zeichnet hier alle Konturen. Umrisse, so ungelogen. Meine Füße kitzeln. Etwas in meiner Brust schwebt. So leicht und so ausgeschlafen habe ich mich noch nie gefühlt.“
Der Roman folgt dem glühenden NS-Anhänger Cioran durch die brodelnde Anfangszeit eines Terrorregimes, das sich im permanenten Widerstreit machtpolitischer Interessen befindet. Sein Deutschlandaufenthalt rahmt die Geschichte, gibt ihr eine zeitlich straffe Kontur.
Ihr Thema ist hingegen die menschliche Zerstörungskraft an sich, die sich während Ciorans Besuch Bahn bricht. Der Grausamkeit sind keine Grenzen gesetzt. So stellt der Roman detailversessen Folter, Überfälle, Morde aus, darunter auch jene als „Röhm-Putsch“ erinnerten Ereignisse Ende Juni, Anfang Juli des Jahres 1934, als zahlreiche Führungskräfte der Sturmabteilung SA ermordet wurden.
„Es ist Himmlers Stunde. Es ist Heydrichs Reich. Es ist Eickes Bühne. Eicke schießt höchstpersönlich auf das ‚schwule Schwein’, Röhms Brust platzt auf wie der Vesuv, wie Geschnetzeltes schleudert sein Brustfleisch durch die Zelle, Röhm klingt wie ein Brunnen aus der Tiefe des Gebirges, es braucht, bis der Tod in ihm ankommt.“

Blutrünstige Plastizität menschlicher Rohheit

Dieser kaltherzige Abschnitt wirkt gegen andere Prügelszenen dieses Romans beinahe diskret. Oft taucht ein Ochsenziemer auf, eine Schlagwaffe, die aus einem gedrillten und gedörrten Stierpenis hergestellt wird, somit eine unheilvolle Metapher für die auch libidinös besetzten Gewaltexzesse ist. Doch „Emil“ ist kein Splatter-Roman, er bedient sich lediglich einiger Elemente des sogenannten „Gore“-Genres, das sich der blutrünstigen Plastizität menschlicher Rohheit hingibt.
Diese Rohheit, der Zugriff auf den gemarterten Körper der Staatsfeinde, steht im deutlichen Kontrast zur philosophischen Begriffsbildung Emil Ciorans. Hier wird gezeigt, in welcher Weise das Denken, in welcher Weise die Sprache spätere Gewaltexzesse vorbereitet, legitimiert. Der Roman folgt aber nicht nur Körpern und Gedanken, sondern auch den teilweise grotesk erscheinenden Neurosen damaliger Politprominenz, wie Heinrich Himmel, der vorm Spiegel steht, „Heil Hitler“ brüllt, doch im Innersten „Heil Heini“ denkt. In einer anderen Szene betritt ein junger, auffällig heiterer und sehr schöner junger Mann einen Instrumentenverleih und scherzt, während er die Saiten einer Violine zupft: Es ist Josef Mengele. Hitler sitzt derweil allein mit seinen Blähungen am Schreibtisch und sinniert über jene kosmische Unendlichkeit, in die er sich nun endlich einschreiben will.
„Er will es neu! Alles neu. Die Materialien, die Formen, das Gedächtnis. Selbst die Luft soll anders sein, mit ihm in ihr soll sie nichts tragen als Konzentration, Meditation und Menschenlosigkeit.“

Kein einheitliches Wollen

Deutlich wird in Abschnitten wie diesen, wie Psychopathologie und gesellschaftliche Horizonte zusammenfinden – und nicht jeder geht auf die gleiche Weise auf besagten Horizont zu. Schon 1966 stellte der Historiker Hans Mommsen fest, der nationalsozialistische Staat sei „kein monolithisch strukturiertes, von einheitlichem Wollen durchströmtes Herrschaftsgebilde“ gewesen. Dieses unterschiedliche Wollen stellt Kühsel-Husseinis Roman aus. Nahezu unübersichtlich wäre das Ensemble, würde man nicht zahlreiche der hier auftretenden Figuren aus den Geschichtsbüchern kennen. Auch Reichspropagandaleiter Joseph Goebbels, von einst erfolglosen Jahren narzisstisch gekränkt, darf endlich in andere Sphären aufsteigen, wenn er frohgestimmt über die stolze Domstadt Köln fliegt.
„Sonne, richtiges Hitlerwetter! Einstmals war das hier alles die Hölle für Goebbels gewesen, nun sein Triumph. Ein Triumph, den er gerne genoss, für seine alte Mutter. Eine kleine Stadt, unscheinbar, in der sie jahrelang verleumdet, verfolgt, gesellschaftlich verachtet wurde. Die Mutter dieses ungeratenen Sohnes. Jetzt war er Joseph Goebbels.“

Gedenken als Pflichtübung

Emil Cioran, der nach dem Zweiten Weltkrieg als Philosoph eine bewundernswerte Karriere verwirklicht, der zum Vordenker des Poststrukturalismus, zum Faszinosum französischer Existentialisten avanciert, ist als Hauptfigur überaus geschickt gewählt. Denn bei einem Neuankömmling wird grundsätzlich nichts vorausgesetzt. Seine Fragen stellen sich möglicherweise auch all jenen, die sich nie intensiver mit der Frühphase des Nationalsozialismus beschäftigt haben. Ciorans erster Kamerad ist Otto Krause, Student der Medizin und Philosophie, ein Hüne, der Cioran orientierend zur Seite steht. 
„Er lächelte im Gehen, besaß ein dürersch lineares Profil, ein klarsichtig-Verlangen-unterdrückendes und feines Todesgesicht, mit fester Haut über den ebenen Wangenknochen und abgehärtet-blutlosem Kinn, sein Schritt war vorwärtsdrängend, seine Kleidung äußerst bürgerlich.“
Die avancierte Sprache dieses Romans ist plastisch und präzis. Sie bedient sich keineswegs am nachgerade babylonisch angewachsenen Fundus dokumentarischer, appelativer und poetischer NS-Bearbeitungen. Er findet tatsächlich einen neuen Blick – und auch eine neue Form für diese bis zur emotionalen Lethargie ausgebreiteten „Dauerpräsentation unserer Schande“, um die viel diskutierten Worte Martin Walsers aufzugreifen. In seiner Paulskirchenrede von 1998 fragte der seinerzeit mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels Ausgezeichnete, ob das andauernde Erinnern an die Monstrosität von Shoa und nationalsozialistischer Schreckensherrschaft zur ritualisierten Pflichtübung verkommen sei.

Ein gigantisch glänzendes Maul

Aus dieser Aporie befreit ein Text wie Mariam Kühsel-Husseinis „Emil“, indem er den vielfach betrauerten Schrecken der weit zurückliegenden Zeit auf die literarische, historische und psychologische Erkenntnis unserer Tage hebt. Und das kann exemplarisch an der zweiten, ebenfalls realen Hauptfigur dieses Romans belegt werden.
„’Absacker’, sagt Rudolf Diels seinem Fahrer. Bald darauf betritt er eine Bar, in der einige amerikanische Journalisten und deutsche Offiziere sitzen. Wie Diels hereingekommen ist, bemerkt keiner, er geht wie auf Watte, indische Tiger nähern sich auf diese Art und dann stehen sie plötzlich vor einem. Im langen Salz-und-Pfeffer-Mantel und dem Hut mit gebogener Krempe und Satinband, den er, erst an der Bar lehnend, vor sich ablegt und sich einmal übers spinnenschwarze Haar fährt.“
Rudolf Diels ist die ambivalenteste Figur dieses Romans. Fünfzig Seiten vergehen, bevor sich die Lebenswege Ciorans und Diels’ touchieren. Der rumänische Student ist mal wieder betrübt. Nachts durchquert er den riesenhaft erscheinenden Tiergarten. Auf Höhe der Siegessäule fährt eine schwer-massige Mercedes-Benz-Limousine an.
„Sie fuhr langsam. Ein gigantisch glänzendes Maul mit schmalem Vorderfenster und immensen Lichtern glomm an Emil vorbei. Unverkennbar darin mit rabenschwarz-bläulich-metallischem Haar, mit Narben im Gesicht so tief, dass selbst im zersprühenden Laternenlicht ihre zu mehreren breiten Furchen verheilten Fechtschnittwunden sichtbar waren – Rudolf Diels, 33 Jahre, Chef von Hitlers Gestapo. Nimmt die Hände nicht aus den Hosentaschen, ganz gleich, wer vor ihm steht. Selbst wenn es Göring ist.“

Machtkampf zwischen Himmler und Göring

Der Jurist Diels war von Anfang 1933 bis Anfang 1934 Leiter der Gestapo unter Hermann Göring – und seine Rolle ist derart zweifelhaft und widersprüchlich, dass sie erst 2010 erhellt werden konnte durch die fantastische, im Anhang des Romans zitierte Dissertation „Der Überläufer. Rudolf Diels. Der erste Gestapo-Chef des Hitler-Regimes“ von Klaus Wallbaum. In den 1920er Jahren wirkte Diels als Parteigänger der Deutschen Demokratischen Partei, radikalisierte sich aber Anfang der 1930er Jahre, schwankte damals zwischen Kommunisten und der NSDAP.
Sein geschicktes Agieren und Lavieren zwischen den politischen Lagern verschaffte ihm nach Hitlers Machtergreifung den Posten als Gestapo-Chef. Zwischen 1933 und 1934 missachtete er nachweislich Menschenrechte und setzte skrupellos die Reichstagsbrandverordnung um. Gleichzeitig engagierte sich Diels gegen die Gewaltexzesse und Deportationen durch die paramilitärische Sturmabteilung. Er überzeugte Hermann Göring, dass „die wilden Methoden dem nationalsozialistischen Staat auf Dauer nur schaden“ könnten.
Im Zuge eines Machtkampfes zwischen Himmler und Göring musste Diels seinen Gestapo-Posten räumen. Er wurde Regierungspräsident in Köln und versuchte nach 1945, seine Weste reinweiß zu waschen. Er trat als Zeuge in den Nürnberger Prozessen auf und veröffentlichte sein apologetisches Erinnerungsbuch „Lucifer ante portas“, in dem er behauptete, er habe gegen den Nationalsozialismus gekämpft und die Möglichkeiten zum Widerstand innerhalb des Machtapparats permanent ausgenutzt. Auch im „Emil“-Roman wird dargestellt, wie Diels Menschen beisteht, die von der SA verschleppt wurden.
„Er holt sie aus den ersten Konzentrationslagern, aus tumorartig in der Stadt und im Umland verteilt versteckten Prügelkellern, Folterquartieren und hier und da entstandenen SA-Strafetagen. Er sorgt dafür, dass Frau Thälmann und die Kinder weiter die Wohlfahrt empfangen, er bekommt blutig zerrissene Hemden über Nacht entführter Ehemänner von den Ehefrauen ausgebreitet. Bei unbegründeter Festnahme drängt er bis tief in die Justiz, alarmiert ganze Strukturen, bis es etwa zu einem Austausch kommt, bei dem die Gestapo die Gefangenen übernimmt – ein Aufatmen für jeden, der zuvor von SA oder SS gepeinigt worden war.“

Er sieht Misshandlungen mit eigenem Auge

Erst die Figur des Rudolf Diels komplettiert das Stimmungsbild in Kühsel-Husseinis Roman. Er wird als ein pflichtbewusster, der Bürokratie regeltreu dienender Berufsbeamter preußischer Prägung vorgestellt – der nun allerdings leidet; unter dem um sich greifenden Sittenverfall, unter der Schleifung und Schändung des Rechts, unter den Bunkern, Folterkellern und rasch errichteten Konzentrationslagern. Er befreit Schutzhäftlinge, die entmannt wurden, er konfisziert Folterwerkzeuge. Er sieht die Misshandlungen mit eigenen Augen und ist erschüttert.
„Fieber statt Klarsinn, Brutalität statt Ehrenkodex, Folter statt Kampfkunst, Massenseele statt Persönlichkeit. Eine Massenseele, entstanden ohne Eliten, ohne Vorbilder. Darum gibt es in ihr auch keine Schuld mehr, keine Schuldigen, keine Rechtsverletzer. Nur die blockierte Panik, die sich in Führerrausch aufgelöst hat.“
Und Emil Cioran? Der wird dem nationalsozialistischen Deutschland irgendwann den Rücken kehren. Seine Hitler-Bewunderung ist dem Philosophen später ungeheuer peinlich. Heinrich Himmler gerät auf der Flucht in britische Gefangenschaft, zerbeißt daraufhin eine Zyankalikapsel und stirbt. Rudolf Diels, der jahrelang von Göring gefördert und auch beschützt wurde, belastet seinen früheren Dienstherrn – und laviert sich mal wieder aus der eigenen Malaise. Er bleibt ein unbequemer Mensch, dem es nicht gelingt, in der jungen Bundesrepublik Fuß zu fassen. Er stirbt 1957 durch einen Jagdunfall.

Ausnahmestellung in der Literatur

Am Ende des „Emil“-Romans werden Cioran und Diels einen gemeinsamen, so nur in der Literatur möglichen Auftritt haben. Beide sind auf ihre Weise enttäuscht. Doch während der eine hinnehmen muss, dass seine glänzend gestartete Karriere beendet und seine Vorstellung eines rechtsstaatlichen Nationalsozialismus gescheitert ist, feiert der andere mit seinen Freunden in Bukarest, hier schon spürend, dass er gerade am Anfang von etwas Bedeutendem steht.
„Freunde nach längerer Zeit wiederzusehen, barg doch immer etwas von einem Unglück in sich, besonders wenn man selbst derjenige war, allein auserkoren, den Mond zu berühren.“
Den Mond berühren, das haben all jene versucht, die in Mariam Kühsel-Husseinis „Emil“-Roman ihren Auftritt haben – und doch hat jeder eine andere Vorstellung vom Mond, vom vermeintlich kurz vor der Verwirklichung stehenden Ideal. Man steht erschüttert vor den Strategien, mit denen die hier vorgestellten Männer versuchen, ihre Machtphantasien durchzusetzen.
Deshalb noch einmal: die menschliche Destruktivität ist rätselhaft, auch im Jahr 2022. Doch mit Mariam Kühsel-Hussainis „Emil“ lassen sich die mannigfaltigen Urgründe dieser Destruktivität erfassen. Dieser Roman ist ein seltenes Zeugnis poetischer Könnerschaft. Ihm gelingt, in einer Weise auf die nationalsozialistische Schreckensherrschaft zu blicken, die schlechterdings auch jene berühren muss, die lange nach dieser Zeit geboren wurden. Mit diesem „Emil“ festigt Mariam Kühsel-Hussaini ihre Ausnahmestellung im vielstimmigen Kanon der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur.
Mariam Kühsel-Hussaini: „Emil“
Klett-Cotta, Stuttgart. 328 Seiten, 24 Euro.