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Was Philosophen wissen und was man von ihnen lernen kann

Verwissenschaftlichung statt Weltanschauung ist nötig, damit die Philosophie gesicherte Erkenntnisse vorweisen kann. Was darunter zu verstehen ist, erläutert Herbert Schnädelbach, Emeritus der Humboldt-Universität Berlin, in seinem neuen Buch.

Von Ingeborg Breuer | 20.09.2012
    "Die Fragen, die die Philosophen stellen, treiben die grundsätzlichen Orientierungsfragen ins Extrem, indem sie versuchen, die allgemeinsten Fragen unseres Erkennens und Handelns zu erreichen. Aber jeder, der mal nachdenklich ist, kommt in die Nähe solcher Fragen."

    Was kann ich wissen? Was darf ich hoffen? Was soll ich tun? Was ist der Mensch? Dies hielt Immanuel Kant für die vier Grundfragen der Philosophie. Fragen, die auch heute noch im Zentrum philosophischen Nachdenkens stehen. Eine davon versucht der mittlerweile emeritierte Philosoph Herbert Schnädelbach zu beantworten. "Was Philosophen wissen", also welche gesicherten Erkenntnisse es in der Philosophie gibt, heißt sein aktuelles Buch.

    "Die Philosophie muss in einer wissenschaftlichen Zivilisation auch wissenschaftlich sein. Wenn sie sich an die Öffentlichkeit wendet, muss sie im Rücken solides Wissen haben."

    Philosophie, meint Herbert Schnädelbach, steht aber mittlerweile von zwei Seiten unter Druck.

    "Einerseits von den neuen Forschungswissenschaften, die dann immer gefragt haben: Ja, was kriegt ihr heraus, ihr seid euch permanent uneinig? Und auf der anderen Seite die große Nachfrage, so Orientierungsbedürfnisse, angesichts derer die meisten Philosophen, die dann eine wissenschaftliche Ausbildung haben, auch versagen. Und das wandert dann eben in diese sogenannte Populärphilosophie, wandert aus den Seminaren, und dann gibt es diese großen Bestsellerautoren …"

    Philosophische Bücher über Liebe, Glück oder Wer und warum ich überhaupt bin? haben Hochkonjunktur. Aber auf der anderen Seite gerät die akademische, die "wissenschaftliche" Philosophie mehr und mehr, so Schnädelbach nüchtern, zum "Orchideenfach". Die großen "Meisterdenker" – hießen sie nun Schopenhauer, Nietzsche, Heidegger oder auch Adorno und Foucault – sie gehören der Vergangenheit an. Ein Ausdruck dessen, dass die "großen Erzählungen" zu Ende sind? Für Herbert Schnädelbach eher die Konsequenz einer veränderten Wissenschaftsförderungspolitik. Denn seit den 60er Jahren zerfielen die "großen Schulen", die meist an einen Philosophen gebunden waren, weil weniger auf personenorientierte, sondern auf themenorientierte Forschung gesetzt wurde.

    "Der Grund war die Förderungspolitik der DFG. Also, niemand hatte die Chance, ein eigenes System auszubauen mithilfe von Assistenten und dafür öffentliche Fördermittel zu bekommen."

    Herbert Schnädelbach findet diese Entwicklung durchaus begrüßenswert, habe sie doch einen Verwissenschaftlichungsschub im philosophischen Betrieb ausgelöst. Denn Verwissenschaftlichung statt Weltanschauung sei nötig, damit die Philosophie gesicherte Erkenntnisse vorweisen könne. Zum Beispiel die, dass Erkennen etwas anderes ist als Sehen. Also, wenn Peter einen Baum sieht, hat er ihn noch lange nicht erkannt. Erkenntnis wird daraus erst, wenn er ein Urteil fällt; etwa, dass dort ein Baum und eben kein Strauch oder ein Haus steht. Dies gilt natürlich erst recht für die Erkenntnisse der Physik.

    "Also, ich hab mich mit einem Physiker gestritten, der hat gesagt, wir haben doch die Neutrinos, das ist doch unser Objekt. Ich sage, was sehen Sie denn da, da sehen Sie Spuren auf einem Monitor und das deuten Sie dann so. Und vor allem in der Gesetzeserkenntnis, also Gravitationsgesetze, Ohmsche Gesetze, chemische Reaktionsgesetze, da sieht man doch gar nichts, das beruht auf der Interpretation von Forschungen, von Experimenten, da macht man sich ein Bild. Man versucht das begrifflich, mathematisch zu fassen."

    Erkenntnis vollzieht sich keineswegs zwischen einem Subjekt, das Bewusstsein hat, und einem Objekt, dem also, was in der Welt ist. Sondern beides begegnet sich im Raum von Sprache. Diese Sprache stellt aber nicht nur ein neutrales Medium von Mitteilungen dar, sondern gehorcht selbst bestimmten Regeln. Und nur innerhalb solcher Regeln sind Aussagen über die Dinge in der Welt möglich. Einen anderen Zugriff auf jene Dinge kann es deshalb nicht geben. Auch nicht auf das "Higgs-Teilchen", jenes von Physikern vor Kurzem im Labor entdeckte "Gottes"-Teilchen, das die Gültigkeit unseres physikalischen Weltbildes untermauern soll.

    "Man muss sich ja mal klar machen, was berechtigt einen Physiker, dass es die Higgs wirklich gibt? Das ist eine ganz komplizierte Geschichte, und das bloße Hingucken auf den Monitor, das hilft nicht, das muss gedeutet werden. Da sagt man immer, Wahrheit ist Übereinstimmung von Bewusstsein und Gegenstand. Das ist schön und gut, und da hat Kant schon gezeigt, dass das leer ist, denn ich kann mich ja nicht auf die Seite des Gegenstands stellen, sondern ich hab dieses Verhältnis nur im Bewusstsein. Also braucht man eine andere Wahrheitstheorie, und das ist dann die Kohärenztheorie. Wenn ein experimenteller Befund hinreichend weitgehend mit dem, was wir sonst noch wissen, vereinbar ist, dann haben wir einen Grund anzunehmen, dass es stimmt."

    Nie werden sich unsere Sätze über die Wirklichkeit unvermittelt mit der Wirklichkeit berühren. Die Wahrheit solcher Sätze lässt sich allenfalls dadurch begründen, dass sie Teil eines kohärenten, widerspruchsfreien Systems von Aussagen ist. Absolute Wahrheit kann es deshalb nicht geben. Ich weiß, dass ich nichts weiß, hatte Sokrates das Wissen der Philosophie begründet. Karl Popper griff diese Einsicht im vergangenen Jahrhundert auf. Er ging davon aus, dass jedes Wissen fehlbar ist. Herbert Schnädelbach steht in dieser Tradition: Wir wissen, dass alles Wissen immer nur vorläufiges Wissen ist.

    "Das hat Popper rausgestellt: Die Naturwissenschaft ist nur dann seriös, solange wie sie der Wirklichkeit ne Chance gibt, unsere Gedankengebäude zu erschüttern. Popper hat es übertrieben, der hat gesagt, wir wissen nicht, wir raten nur. Da würd ich vielleicht sagen, also Herr Popper, Sie würden sich ja nicht auf den Operationstisch legen, wenn Sie wissen, dass die Ärzte raten. Aber dass all unser Wissen unter dem Irrtumsvorbehalt steht, das ist leider so, zugleich aber auch ein Stimulus fürs Weiterforschen."

    Der Sokrates des 21. Jahrhunderts steht nicht mehr auf dem Marktplatz. Sondern in einer Ecke des Universums, von dem Physiker behaupten, dass es seit Milliarden Jahren expandiert. Umgeben ist er von Teilchenbeschleunigern, Computertomografen und DNA-Sequenzierern. Fast drohen die Geräte seine Botschaft zu übertönen: dass wir weiter bescheiden bleiben sollen.