Gleichsetzungen unliebsamer Figuren mit Adolf Hitler sind inflationär, die meisten Zeithistoriker lehnen solche Vergleiche ab. Die Einordnung eines Mannes aber, der dem kollektiven Westen den Krieg erklärt hat und die Ukraine auslöschen will, ist keine akademische Übung. Ein deutscher Kanzler stufte ihn allen Ernstes als lupenreinen Demokraten ein, Gegner in Russland hingegen als Boss einer kriminellen Mafia, wieder andere als Nachfolger Josef Stalins, dessen Terror mehr Opfer forderte als das NS-Regime. Manche verharmlosen Putin zum Autokraten, von denen es rund um den Globus viele gibt, wieder andere sprechen von „Putinismus“ und rücken so die Person ins Zentrum. In dem Essay geht es weniger um die Beschreibung eines Charakters als um Merkmale und Dynamiken eines Herrschaftsregimes und seiner imperialen Unterdrückung und Vernichtungspolitik. Das ist auch bedeutsam für die Frage, was nach Putin kommen kann. Der Essay erörtert Unterschiede und Parallelen zu den historischen Regimeformen und untersucht Kontinuitäten des russischen Imperialismus.
Claus Leggewie, Jahrgang 1950, ist Professor für Politikwissenschaften an der Justus-Liebig-Universität Gießen und Mitherausgeber der Blätter für deutsche und internationale Politik. Von 2007 bis 2017 war er Direktor des Kulturwissenschaftlichen Instituts in Essen.
Im slawischen Volksglauben geistern Untote herum, Verstorbene, die ihrem Sarg entsteigen und die Lebenden in Angst und Schrecken versetzen. Umsonst hatte man die Leichname gefesselt oder ihre Gliedmaßen zertrümmert, sie kehrten stets wieder, als wollten sie noch etwas erledigen. Einen solchen Wiedergänger erblicken manche jetzt in „Wladolf Putler“, wie ukrainische und auch russische Gegner den Kriegsherren im Kreml titulieren, der vor einem Jahr mit unglaublicher Brutalität in die Ukraine einfiel und den Angriffskrieg, die ethnische Säuberung bis an den Rand des Völkermords und den Versuch der kulturellen Auslöschung eines Volkes zurück in die Mitte Europas brachte – erstmals seit dem Jugoslawien-Krieg, der schon eine Vorahnung gab.
Hitler redivivus? Gleichsetzungen unliebsamer Figuren mit Adolf Hitler sind inflationär, Zeithistoriker warnen stets mit guten Gründen davor. Dabei ist die Einordnung eines Mannes, der dem „kollektiven Westen“ den Krieg erklärt hat und die Ukraine auslöschen will, keine akademische Übung. Ein deutscher Kanzler adelte ihn zum lupenreinen Demokraten, Gegner erkennen in ihm den Boss einer Mafia, wieder andere den Nachfolger Josef Stalins, dessen Terror mehr Opfer forderte als das NS-Regime. Verhandlungsbereite verharmlosen Wladimir Putin zum „Autokraten“, von denen es rund um den Globus Dutzende gibt. Wieder andere rücken mit dem Begriff „Putinismus“ die teuflische Person ins Zentrum oder mit dem Kofferwort „Raschismus“ einen vermeintlichen russischen Volkscharakter.
Es geht hier aber weniger um die Beschreibung eines individuellen oder kollektiven Charakters als um Merkmale und Dynamiken eines Herrschaftsregimes, in dem – so meine These – ein stalinoider Kern und eine faschistoide Außenhülle zu erkennen sind. Was beim gegenwärtigen Russland an Hitler-Deutschland und an die Sowjetunion erinnert und wie diese Mischung eine neue Variante totalitärer und imperialer Herrschaft hervorgebracht hat, möchte ich im Folgenden erörtern. Die krampfhafte Vermeidung des Faschismusvorwurfs ist dabei eine ebenso große Gefahr wie dessen Inflationierung.
Denn: Vergleichen – man kann es nicht oft genug wiederholen – bedeutet nicht gleichsetzen. Der Vergleich kann erstens, wenn es um selbstdeklarierte Faschisten wie Hitler und Mussolini geht, die innere Differenzierung einer politisch-sozialen Bewegung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erhellen. Zweitens kann er konträre Systeme wie Kommunismus und Faschismus, für die Hitler und Stalin standen, in eine beide übergreifende Kategorie wie den Totalitarismus einbringen, was lange tabu war. Drittens geht es, wo diachrone, zu verschiedenen Zeiten aufgekommene Autoritarismen (wie die von Hitler und Putin) verglichen werden, um Kontinuitäten und Brüche, um Aktualität und Anachronismus einer historischen Kategorie. Und viertens trägt der Vergleich, wo synchron Machthaber wie Wladimir Putin und Donald Trump untersucht werden, zur Analyse autokratischer Tendenzen zu Beginn des 21. Jahrhunderts bei. Stets wird dabei Verschiedenes vergleichbar gemacht und Ähnliches differenziert betrachtet, was eben nicht gleich ist, aber bei allen Unterschieden gemeinsame Antriebe und Effekte aufweisen kann.
Was war also der historische Faschismus, was kann er heute noch oder wieder sein? Und wo liegen die Berührungspunkte zum Stalinismus, der anderen Diktaturvariante im 20. Jahrhundert? Während sich Putin als „Antifaschist“ in einem Kampf gegen den weltweiten und ukrainischen Nazismus wähnt, nimmt er weit positiver Bezug auf Stalin, wohlgemerkt nicht den Kommunisten und ewigen Generalsekretär der KPdSU, sondern den Feldherrn und imperialen Eroberer, den Putin wiederum in die Tradition des imperialen Zarenreiches stellt. Darüber, dass die Epoche des Faschismus mit der Kapitulation des Dritten Reiches nicht beendet war, besteht heute Konsens in der Zeitgeschichtsforschung, die den Faschismus überdies als globales Phänomen einstuft. Die Annahme von Faschismen im Plural zielt also auf die innere Differenzierung eines regional übergreifenden Phänomens, jenseits auch der Singularität des deutschen Nationalsozialismus.
Der zentrale Stützpfeiler des Faschismus ist die Beziehung zwischen dem (bis dato ausschließlich männlichen) Führer und einer bis zur Selbstaufgabe gehenden Gefolgschaft. Faschismus ist – jedenfalls anfangs – eine „Zustimmungsdiktatur“, die einer charismatischen Figur eine pseudodemokratische Massenlegitimation verleiht. Marginale, ja skurrile Figuren wie Benito Mussolini und Adolf Hitler konnten durch suggestive Gesten, Parolen und Auftritte binnen kurzer Zeit eine allen vernünftigen Zeitgenossen unglaublich erscheinende Gefolgschaft gewinnen, wobei Massenmedien eine wesentliche Rolle spielten. Wie heute bei Donald Trump, der durchaus in diese Traditionslinie passt. Seinem unwahrscheinlichen Aufstieg dienten eine auf die politische Bühne ausgedehnte Fernsehprominenz und die Echokammern der sozialen Netzwerke.
Drei Kernelemente des Faschismus kommen hinzu: seine politische Theologie, sein männlicher Chauvinismus, seine ultranationalistische und imperiale Fundierung. Eine Quintessenz faschistischen Denkens bildet die Trias Dio, Patria e Famiglia (Gott, Vaterland, Familie), die zuletzt die italienische Ministerpräsidentin und Mussolini‑Verehrerin Giorgia Meloni wieder zum Leitspruch ihrer Partei Fratelli d’Italia erhoben hat. Er entstammt der italienischen Nationalbewegung und war eine Bekenntnisformel konservativer Parteien, die am christlichen Glauben festhielten, ihr Vaterland ehrten und die Familie als selbstverständlichen Anker ihres Weltverständnisses betrachteten – gegen die autoritätskritische, menschenrechtlich und kosmopolitisch konnotierte Dreiheit Liberté, Égalité, Fraternité der Französischen Revolution, die im 19. Jahrhundert liberale und linke soziale Bewegungen aufgriffen. Ende des 19. Jahrhunderts verblassten die konservativen Leitsterne: Gott wurde für tot erklärt, die Nationen traten in einen imperialistischen Wettbewerb, der mit dem Hass auf angeblich vaterlandslose Juden und die Arbeiter-Internationale einherging, der Feminismus forderte das überkommene Familienbild heraus. An diesem Kipppunkt radikalisierten antimarxistische und antikonservative Außenseiter den Leitspruch „Gott, Vaterland, Familie“ und verwandelten dessen traditionswahrende Textur in eine selber revolutionäre Kampfansage an die bürgerliche Republik. Das in Frankreich an Stelle Gottes eingefügte Element „Arbeit“ symbolisierte den Ständestaat, in dem jeder seinen festen Platz einnehmen sollte.
Die entscheidende Differenz zu Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit besteht erstens darin, dass Gott, Vaterland und Familie nicht als gesellschaftshistorisch wandelbare Kategorien, sondern als der Natur entspringende, unveränderbare Essenzen aufgefasst werden. Während der Ur-Faschismus und die meisten Strömungen der „Konservativen Revolution“ noch esoterisch-spirituell oder neuheidnisch ausgerichtet waren, ist in heutigen rechtsradikalen Strömungen die Rolle des römisch‑katholischen Abendlandes, der byzantinischen Orthodoxie oder des protestantischen Evangelikalismus bedeutsam, oft in einer lockeren Allianz der „religiösen Rechten“, die wiederum zweitens mit dem weißen Suprematismus, der Ideologie gottgegebener weißer Überlegenheit, gepaart ist und mit einer vehementen Frauenverachtung auf die gewachsene Gender-Sensibilität reagiert. Nimmt man die Homosexuellenverfolgung hinzu, ist das ein weiterer Beleg für die Radikalisierung patriarchaler Ordnungsmuster im Faschismus, heute in den Rückzugsgefechten „toxischer Männlichkeit“ rechtsradikaler Strömungen. In der verzerrten Wahrnehmung der identitären und religiösen Rechten Russlands regieren Schwule Europa (alias „Gayropa“); Gay-Pride-Paraden begründeten nach den Worten des Moskauer Patriarchen Kirill die Notwendigkeit, den Donbass zu verteidigen, und enthemmten in den von der russischen Armee besetzten Gebieten Gewaltakte gegen Frauen und tatsächliche oder vermeintliche Homosexuelle. In der Kampagne gegen den „kollektiven Westen“ haben also Geschlecht und Sexualität eine zentrale Stellung; die „Intervention“ in der Ukraine wird zum Akt der Selbstverteidigung im Endkampf zwischen Gut und Böse, zwischen Familienwerten und deren „queerer“ Degeneration stilisiert.
Drittens: Der britische Zeithistoriker Roger Griffin hat im Faschismus einen „mythischen Kern“ des von ihm so genannten „palingenetischen Ultranationalismus“ gesehen. Mit diesem Wortungetüm bezeichnete er die Vorstellung, „die wie auch immer definierte Nation befinde sich in einem Zustand der Dekadenz oder des Verfalls, aus dem sie durch revolutionäres Handeln erlöst werden müsse, also durch einen von einer Bewegung und schließlich einem Staat oder einer Neuen Ordnung getragenen Prozess der Wiedergeburt, der Erneuerung und der Regeneration“.
Mit der Adressierung dieses hier maßgeblichen Bausteins kommen wir zum Punkt: Ist Putin Faschist und die Russische Föderation ein faschistisches System? Die Unterschiede zum Faschismus an der Macht in Italien und Deutschland sind zahlreich, eine direkte oder rhetorische Bezugnahme fehlt; eher ist in der manischen Jagd auf (ausländische) „Nazis“ eine kontraphobische Distanzierung am Werk, das heißt: Man bekämpft im Anderen, was man selbst ist und nicht sein will. Der Mainstream der Russland-Analysen führt gegen die Charakterisierung des Landes als faschistische Macht und Gesellschaft die fehlende Massenbasis und die Nischenexistenz authentischer faschistischer Strömungen und Weltanschauungen an, ferner die eher taktische Verbindung zu Neofaschisten in Westeuropa und den gewollten weltanschaulichen Synkretismus. Hinzu kommt der Pragmatismus des Herrschaftsapparats, der die verschiedenen Schichten der russischen Gesellschaft zufriedenstellen und damit eher politikfern und apathisch halten soll. Faschistische Elemente gebe es höchstens im Miliz-Milieu, das junge Männer mit provozierender Maskulinität anspricht, wie in der Kampfsport- und Biker-Subkultur. An faschistische Schwarz- oder Braunhemden erinnere nur das Gebaren der OMON‑Sicherheitstruppe, die mit schwarzen Sturmhauben und Uniformen in Tarnfleck jede oppositionelle Demonstration auflöst: also keine originäre soziale Bewegung, sondern eine Gruppe, die der tiefe Staat selbst kreiert hat. In der Tat fehlte in Russland vor und seit Putins Machtantritt die breite soziale Bewegung, die in den klassischen Fällen gerade im Mittelstand der faschistischen Machteroberung voranging, wie bei Mussolinis „Marsch auf Rom“ und den diversen Putschversuchen der Nationalsozialisten. Putin kam aus dem Staats- und Geheimdienstapparat und war dem Gros seiner Landsleute vollkommen unbekannt, als ihn Boris Jelzin ins Amt hob. Die Schockstarre über die bisweilen brutalen Folgen der wirtschaftlichen Transition und die Terror-Angst vermochte Putin im Amt dann geschickt zu manipulieren und auszunutzen; damit errang er eine Massenresonanz, die im Fernsehen übertragene Bilder mit Bannern und Fahnen und die Schaffung der Partei Einiges Russland unterstreichen sollten. Waren Putins Popularitätswerte (sofern sie nicht manipuliert waren) zeitweise hervorragend und stiegen noch mit der Annexion der Krim 2014, dominierten zuletzt eher Bilder eines einsam und ehrfurchtgebietend durch riesige Kreml-Türen schreitenden Mannes, der sich bei seinen jüngsten Proklamationen am Kopfende eines Tisches festklammerte.
Kam dem Putin-Regime bis zum Frühjahr 2022 eher die generelle Demobilisierung der russischen Gesellschaft entgegen, ist er nach dem Scheitern des Blitzkrieges nun jedoch auf erpresste Zustimmung angewiesen; Russland wird den Krieg verlieren, wenn sich eine nennenswerte Zahl von Menschen gegen die militärische Zwangsmobilisierung stellt. Um das zu verhindern, reanimiert Putin noch einmal den Mythos des Großen Vaterländischen Krieges, in dem Stalin Hunderttausende von Soldaten verheizte. Nicht Hingabe an einen Führer ist Putins soziale Basis, sondern Kadavergehorsam namens eines mystifizierten Vaterlandes und einer glorifizierten Armee, deren Bildungsgrad und moralisches Niveau verheerend sind. Die dabei massenhaft anfallenden Opfer unter Soldaten und die Einschränkungen der Bevölkerung sind dabei kein Hindernis, im Gegenteil; man erfuhr bereits, dass selbst Mütter von Gefallenen daraus die Forderung nach einer noch brutaleren Kriegsführung und eine gewaltige Rachlust ableiten.
Auch das erinnert an den Zweiten Weltkrieg. Es ist Putins seit Langem deklarierte Absicht, das Zerbrechen der Sowjetunion, dieser für ihn „größten Katastrophe des 20. Jahrhunderts“, rückgängig zu machen, womit alle anderen ehemaligen Sowjetrepubliken ebenso bedroht sind und der Durchmarsch letztlich bis Berlin fantasiert wird. Putins Rekurse auf Stalin, die Zaren des 19. Jahrhunderts, Peter den Großen und Iwan den Schrecklichen, stellen ihn in eine über alle Regimewechsel reichende imperiale Tradition, die nach 1945 im Westen weitgehend ignoriert wurde. Das von faschistischen Intellektuellen ausgearbeitete und von Putin aufgegriffene Konstrukt der „russischen Welt“ verbindet diese Tradition mit einem völkischen Ultranationalismus, der im Inneren ruchlose Angriffe auf oppositionelle „Verräter“ nach sich zieht; als deren Einflüsse, namentlich diejenigen Alexei Nawalnys über die sozialen Netzwerke, nicht länger zu verdrängen waren, radikalisierte sich die Repression bis in die letzte Nische hinein. Der Effekt war eine weitere Verrohung der Gesellschaft, deren Haftsystem und Militärdisziplin gesellschaftsprägend wurden.
Beruhte Putins Herrschaft anfangs darauf, Profite der russischen Erdöl- und Erdgasoligarchie an Günstlinge und an eine auf Konsum ausgerichtete Mittelschicht zu verteilen, hat sich schon mit den Aggressionen gegen Georgien, Moldawien und die Ukraine der Akzent auf die Kriegsführung verschoben, damit auf neoimperiale Annexionsziele. Voraussehbar, aber nur von wenigen gesehen war die Brutalisierung der Kriegsführung mit ethnozidalen Zügen und massenhaften Verbrechen, die seit Februar 2022 anhält und forensisch belegt ist. Hunderte Kinder wurden entführt, damit sie ihre ukrainischen Wurzeln vergessen, Tausende Frauen vergewaltigt. Damit hat sich die russische Aggression der fascist warfare mit ihren rassistischen und kolonialistischen Zügen, der rücksichtslosen Plünderung eroberter Gebiete und der Deportation und Massentötung der dortigen Zivilbevölkerung angeglichen.
Nicht der Faschismus in seinen historischen Kernelementen kennzeichnet also Putins Diktatur und Aggression, dieser wird vielmehr rhetorisch als Hauptfeind markiert. Aber immer mehr Elemente des Regimes weisen Familienähnlichkeiten und Näherungen auf, die sich zu einem neuen Typus totalitärer Herrschaft entwickeln. Eine Analogie zum Nationalsozialismus besteht auch in der revisionistischen Außenpolitik des Regimes: ein Volk, das den Untergang sowjetischer Größe bedauert und das Chaos fürchtet, soll von einem Strongman wie Putin mit entschlossener Law-and-Order-Politik getröstet werden. Nach anfänglich geheuchelter Friedfertigkeit und Kooperationsbereitschaft hat Russland das bei sportlichen Großereignissen gezeigte freundliche Gesicht abgelegt und beschwört nun eine tausendjährige Reichstradition herauf, in die verlorene Teile der zur „russischen Welt“ umfirmierten Sowjetunion heimgeholt werden sollen. Dabei stieß Putin lange auf wenig Widerstand im Westen und konnte sich auf dessen Neigung zum Appeasement verlassen. Putin kappte alle multilateralen Bindungen und schmiedete planmäßig ein Bündnis mit dem „globalen Süden“, darunter mit dem asiatischen Rivalen China, gegen den „kollektiven Westen“.
Das alles verbietet eine Einordnung des Putin-Regimes als „Autokratie“, als „Illiberalismus“ und dergleichen, die ebenso auf Ungarn oder Mali zuträfe und einer Verharmlosung gleichkäme. Das Putin-Regime ist noch nicht bei den vollendeten Diktaturen Hitlers und Stalins angekommen, aber faschistoide Züge sind bei ihm ebenso erkennbar wie Anschlüsse an das sowjetische (wie gesagt: nicht kommunistische) Erbe, die auch nicht im strengen Sinne stalinistisch sind, aber mit dem tiefen Zugriff der Sicherheitsapparate und Geheimdienste, in der völligen Zersetzung jedweder Opposition und auch mit der Indienstnahme von Kultur und Wissenschaft stark an den Stalinismus erinnern. Starren Typologien entgehen solche Resonanzen, während man in der im Kulturvergleich üblichen, eher granularen und graduellen Betrachtungsweise Tendenzen einer totalitären Herrschaft neuen Typs erkennt, die beide Varianten des 20. Jahrhunderts aufgenommen hat – der „stalinoide“ Kern ist von einer faschistoiden Schale ummantelt.
Übrigens: keine Diktaturen ohne Kollaborateure. Wie die Okkupation weiter Teile Europas durch Wehrmacht und SS, dann durch die Rote Armee und den NKWD stets von Quislingen und fellow travellers gestützt wurde, hat auch Putin seine Unterstützer im Westen. Zum Teil sind es desorientierte Querdenker, die verbreitete Krisengefühle in Wut verwandeln, zum Teil ausdrückliche Befürworter der Putinschen Geopolitik gegen die liberalen Demokratien des Westens. Darunter sind mit Viktor Orbán der Premierminister eines EU-Landes und große Teile der AfD-Fraktion im Deutschen Bundestag, allen voran Alexander Gauland.
Keine totalitäre Herrschaft hat sich dauerhaft an der Macht halten können. Wie also sind das Putin-Regime und seine Claqueure zu bekämpfen? Genau wie der Faschismusbegriff durch polemischen Gebrauch kontaminiert ist, ohne dass er damit unbrauchbar geworden wäre, erlebt man nicht erst seit dem Überfall auf die Ukraine, wie der Gegenbegriff Antifaschismus missbraucht werden kann. Die Sowjetunion hat alles, was ihr zuwider war, als faschistisch bezeichnet, zum Beispiel den Prager Frühling 1968, der einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz wollte; Walter Ulbricht hat die Berliner Mauer 1961 als „antifaschistischen Schutzwall“ verkauft. Der Antifa‑Mythos wurde zur Staatsräson der DDR, und er war geliehen vom Mythos des Großen Vaterländischen Kriegs, den Josef Stalin 1941 gegen das Dritte Reich ausrief – und gewann. Seither ist er, vor allem unter Putin, wie gesagt zum Ankerpunkt russisch‑imperialer Politik nach innen und nach außen geworden. Wenn auf russischen Panzern neben dem Z die Parole „Nach Berlin“ steht, wird die erneute Aufrichtung der nunmehr trikoloren Fahne Russlands auf dem Reichstag fantasiert, so wie es jede Feier der deutschen Kapitulation am 9. Mai 1945 in den von der Sowjetunion besetzten Staaten tat. So verwundert es nicht, dass der halbe Faschist Putin die Eroberung der Ukraine als Kampf gegen den Nazismus ausgibt, der in der Ukraine angeblich an der Macht sei und generell vom „kollektiven Westen“ aus Russland umzingele. Dass Putin das als antifaschistischen Kampf ausgibt, verschafft ihm bei vielen Russen eine Rechtfertigung seines Kriegs und stürzt Menschen weltweit in Verwirrung.
Wie kann man also Begriff und Sache des Antifaschismus gegen diese gezielte Propaganda retten? In der Auseinandersetzung mit der radikalen, demokratiefeindlichen Rechten hat er zwei Dimensionen: den Widerstand, friedlich oder militant, gegen einen Faschismus an der Macht, und die präventive Wehrhaftigkeit einer Demokratie gegen eine faschistische Attacke, seitens der Zivilgesellschaft und eigens dafür geschaffener Institutionen. In Russland ist dies unter dem Banner des Antifaschismus aus den genannten Gründen kaum möglich, wobei auch stets die weitere Radikalisierung und Ablösung des Regimes durch ausdrücklich neofaschistische Gruppierungen möglich ist, die sich in ultranationalistischen Bewegungen seit der Perestroika und vor allem in den 1990er Jahren gebildet haben. Diese Kreise haben schon im Verlauf des letzten Jahres zur Eskalation der Kriegsführung beigetragen.
In der pauschal des Faschismus verdächtigen Ukraine hat es bis in die jüngste Vergangenheit fraglos auch erklärte Faschisten gegeben, die im Prozess der Demokratisierung aber an den Rand gedrängt wurden und für die Zukunft des Landes keine größere Rolle spielen dürften als in anderen westlichen Demokratien wie Italien, wo eine Ministerpräsidentin ihre politische Sozialisation im faschistischen Milieu nach 1945 nicht im geringsten verleugnet und eine größere Zahl überzeugter Faschisten im Schlepptau hat. Der antifaschistische Kampf hat sich neuerdings sogar auf Israel ausgedehnt, wo kritische Israelis im 2022 gewählten Kabinett Netanjahu faschistische Elemente erkennen wollen – die erwähnte Sprachverwirrung wird also dadurch erhöht, dass sie selbst im Land der Überlebenden des Holocaust spürbar wird. Insofern muss der antifaschistische Kampf heute als globaler Kampf gegen eine religiös-identitäre Unterwanderung der liberalen Demokratie erneuert werden.
Dringender noch ist schließlich die Frage, ob ein postfaschistisches Russland möglich sein wird und wie man dazu von außen beitragen kann. Es mag deplatziert wirken, eine Zeit „nach Putin“ in Erwägung zu ziehen, während dieser einen immer brutaler werdenden Angriffs- und Vernichtungskrieg weiterführt. Das darf aber nicht die ganze Vorstellungskraft in einem Krieg absorbieren, den das ukrainische Volk genau dafür führt: für die postfaschistische Zeit in einem Nachbarstaat nach Wladimir Putin, der einzig die Freiheit der ukrainischen Nation verbürgt und dafür Sorge trägt, dass keine weitere Aggression aus Moskau folgt. Die Fixierung auf Putin lässt auch im Westen private Pläne und politische Projekte verblassen. Das birgt die Gefahr, dass die anfangs ziemlich einhellige Solidarität mit der Ukraine einer Kapitulationsstimmung weicht.
Auch dieser Krieg wird nicht ewig währen (und nicht in einem Armageddon enden). Er kann gewiss noch lange dauern und in Zustände führen, wie sie derselbe Kriegstreiber Putin in Syrien herbeigebombt hat. Doch der 70jährige Putin wird absehbar eines natürlichen Todes sterben (oder einem Tyrannenmord erliegen). Zuvor kann er sich an einen Verhandlungstisch setzen und das offensichtliche Desaster seines Feldzugs – das Scheitern des Blitzkriegs und die Zerstörung einer blühenden Region, die er doch in die „russische Welt“ zurückholen wollte – seinen Landsleuten gegenüber durch mehr oder weniger eindrucksvolle Annexionen zu vertuschen suchen. Realisten der internationalen Beziehungen halten dieses Szenario für alternativlos und angemessen, damit der Krieg endet und der Druck auf die Weltwirtschaft und die Wohlfahrtsstaaten nachlässt.
Nicht allein ein solcher Pyrrhussieg, vor allem der durch die Sanktionen beschleunigte Ruin einer extraktiven Wirtschaft Russlands kann aber auch dazu führen, dass Putin das Ruder aus der Hand genommen wird – per Putsch oder in Gestalt einer friedlichen Transition. Die Legitimität eines Post-Putin-Regimes wird daran gemessen werden, inwieweit es die Kriegsschuld Russlands anerkennt, Putin und seine Kamarilla einem Tribunal überantwortet und sich glaubhaft von ihm distanziert. Der fällige Regimewechsel erschöpft sich nicht in der Auswechslung der Person Putins und der Einsetzung eines kongenialen Autokraten, sie erfordert einen Demokratisierungsprozess, der sich nicht wie nach 1991 auf die Abhaltung von regelmäßigen Wahlen ohne normativen und institutionellen Unterbau beschränkt.
Schon die Fortführung des Präsidialsystems tendiert zur Autokratie, wie Alexei Nawalny herausgestrichen hat, als er jüngst aus dem Kerker heraus für eine parlamentarische Demokratie mit einem ausgefächerten Parteiensystem in Russland plädierte. Auch wenn man das derzeit für ausgeschlossen halten mag, wird das politische System eine Teilung der Gewalten durchlaufen müssen, um sich von oligarchischen Netzwerken und Korruption lösen zu können, so wie es in der Ukraine nach dem Maidan 2014ff. erfolgreich begonnen worden ist. Dazu gehört die Auflösung des tiefen Staats, eine unabhängige Justiz, eine freie Presse und die Garantie der Bürgerfreiheiten. Dafür ist Russland ob seiner jahrzehntelangen autoritären Tradition noch weniger geeignet als das Deutsche Reich 1945, aber auch in Russland gab es liberale Strömungen, an die anzuknüpfen wäre – von den adeligen Reformern der 1860er Jahre über Pjotr Stolypin und die Februarrevolution 1917 bis zu den Reformern der Perestroika und der Jelzin-Jahre, stets gegen den autokratischen Grundcharakter der russischen Gesellschaft und Politik.
Mit einem auch nur ansatzweise „neuen Russland“ würden westliche Politiker und Manager rasch wieder Handel aufnehmen und manche am liebsten jetzt schon Nordstream 1 reaktivieren. Das wäre natürlich ein Riesenfehler, würde es doch eine überholte Rentenökonomie retten, die besonders anfällig ist für autokratische und kleptokratische Neigungen. Russischen Unternehmern müssen vielmehr Alternativen einleuchten und perspektivisch bei einem Regimewechsel geboten werden, die das Land in die weltweiten Bemühungen um Klima- und Artenschutz zurück- und an alternative Energiequellen und Wirtschaftsweisen heranführen, darunter Wasserstoff-, Wind- und Solaranlagen in geeigneten Regionen. Dazu ist eine derzeit ebenso „undenkbare“ Abrüstung erforderlich und damit die Entflechtung und der Rückbau jener Strukturen, die Armee und Rüstungssektor an den Kreml binden und einen Staat im Staat gebildet haben.
Ich weiß: Viele dieser Ideen wirken angesichts der inneren Verfassung Russlands wie Luftschlösser und sie können Energien binden, die vielleicht besser militärisch‑politischen Fortschritten der Ukraine zukommen sollten. Doch auch wenn eine bilaterale Zukunft der beiden kriegsführenden Ländern völlig utopisch erscheint und der Wiederaufbau der Ukraine absolute Priorität besitzen muss, darf eine mittelfristige Kooperation der beiden Länder so wenig ausgeschlossen bleiben wie nach 1945 die für ganz unmöglich gehaltene Verständigung zwischen den deklarierten „Erbfeinden“ Deutschland und Frankreich im Rahmen eines freien Europa. Voraussetzung war damals freilich die bedingungslose Kapitulation des Deutschen Reichs und die Besatzung durch die Alliierten, die eine Kontrolle über die geforderten Schritte der Demokratisierung erlaubte.
Die große Unbekannte ist, inwieweit Kräfte in der russischen Bevölkerung und im Exil eine Perspektive „nach Putin“ erwägen und konkret in Angriff nehmen. Die potenzielle Opposition ist seit Jahren dezimiert worden, das faktische Kriegsrecht und die weltanschauliche Mobilisierung tun ein Übriges. Wie stark die Kräfte sind, die unabhängige Meinungsforscher als tendenzielle Gegner der Kriegsführung und des Regimes erkannt haben wollen, ist Spekulation, die meisten Russinnen und Russen haben jetzt „andere Sorgen“. Eine Post-Putin-Perspektive muss westlicherseits solche Keime des Widerstands fördern, mit der Aufnahme russischer Oppositioneller, mit dem Aufbau von Nachwuchskräften im Exil bis hin zu einer Exilregierung, mit der Fortführung wissenschaftlicher und kultureller Kontakte, wo immer sie noch möglich sind oder wieder werden. Der deutsche und europäische Widerstand war in den 1940er Jahren von Hitler mindestens so marginalisiert wie Kritiker Putins es heute sind, aber er konnte ungeachtet seiner hoffnungslosen Lage Pläne schmieden für den Tag danach, den die meisten Zeitgenossen für völlig „undenkbar“ hielten – und die gleichwohl zu einem beträchtlichen Teil in einem freien Europa unter Einschluss der Westdeutschen verwirklicht wurden.