Seit Beginn des russischen Angriffs gegen die Ukraine im Februar 2022 erhebt die Regierung in Kiew schwere Vorwürfe gegen das Putin-Regime. Auch internationale Beobachter sprechen von Kriegsverbrechen, Ermittlungen laufen. Die Verantwortlichen in Moskau sollen zur Rechenschaft gezogen werden. Ist das möglich?
Was sind Kriegsverbrechen?
Juristisch werden Kriegsverbrechen als schwere Verstöße oder Verletzungen des humanitären Völkerrechts definiert. Festgelegt ist dies durch die Haager Landkriegsordnung von 1907 und die vier Genfer Konventionen von 1949 mit ihren Zusatzprotokollen von 1977 und 2005.
Verboten sind etwa bestimmte Waffen, darunter chemische und biologische Kampfstoffe. Zudem geht es um den Schutz der Menschen, die nicht unmittelbar an Kampfhandlungen beteiligt sind - etwa Zivilisten, Gefangene und medizinisches Personal.
Die Tatbestände, die als Kriegsverbrechen nach internationalem Recht strafbar sind, werden ausführlich im Römischen Statut des Internationalen Strafgerichtshofs von 1998 aufgeführt. Unter anderem abgeleitet aus den Genfer Konventionen werden dort in Artikel 8 genannt:
- vorsätzliche Angriffe auf die Zivilbevölkerung und zivile Objekte
- die Tötung oder Verwundung sich ergebender oder wehrloser Kombattanten
- Folter
- Vergewaltigung und sexuelle Nötigung
- Sklaverei
- Zwangsvertreibung
- Geiselnahmen
- willkürliche Zerstörung von Eigentum und Plünderungen
- vorsätzliche Angriffe auf Krankenhäuser, Schulen und Gebäude, die der Religionsausübung oder der Kunst und Kultur dienen
Auf der Grundlage des Römischen Statuts könnten demnach aus der Ukraine berichtete Angriffe auf Schulen und Entbindungsstationen oder etwa auf das Theater in Mariupol Kriegsverbrechen sein. Auch die willkürliche Tötung von Zivilisten, wie etwa im Ort Butscha, könnte als Kriegsverbrechen gewertet werden.
Allerdings gilt auch im Völkerrecht: Bis eine Straftat nicht eindeutig belegt und bewiesen worden ist, kann nur von einem mutmaßlichen Verbrechen gesprochen werden. Zumal es auch im humanitären Völkerrecht Grauzonen und Interpretationsspielräume gibt.
Wie werden Beweise zu möglichen Verbrechen gesammelt?
Viele verschiedene Akteure dokumentieren mögliche Kriegsverbrechen. Darunter sind NGOs wie das staatlich finanzierte Rafael-Lemkin-Zentrum in Polen, das extra für diese Aufgabe gegründet wurde.
Auch in- und ausländische Journalistinnen und Journalisten sammeln Belege. So hat die "New York Times" im Frühjahr 2022 nach dem Abzug der russischen Truppen aus Butscha über eine aufwendige Recherche mit Satellitenbildern zahlreiche Gräueltaten russischer Soldaten nachgewiesen. Zudem sammeln Privatmenschen aus der Ukraine und aus dem Ausland akribisch Zeugnisse und Beweise des Grauens.
Die Anwältin Kateryna Busol ist Expertin für humanitäres Völkerrecht an der renommierten Nationalen Universität Kiew-Mohyla-Akademie. Opfer sollten am besten direkt mit Ermittlern und Staatsanwälten zusammengebracht werden, es brauche ein professionelleres Vorgehen bei der Dokumentation von Kriegsverbrechen, betont sie. Würden Überlebende zu oft interviewt, steige das Risiko von erneuten Traumatisierungen.
Strafjustiz ist immer reaktiv
Strafjustiz funktioniere immer langsam, sagt der Völkerstrafrechtler Wolfgang Kaleck: "Sie ist immer reaktiv." In kriegerischen Konflikten Beweise darüber zu sichern, wie Menschen getötet wurden, sei "enorm schwierig". Zugleich kritisiert der Jurist, dass der Internationale Strafgerichtshof seit 2002 nur wenige Fälle bearbeitet hat.
Wer entscheidet, ob ein Kriegsverbrechen vorliegt?
Grundsätzlich gibt es vier Wege zur Ermittlung und Feststellung von Kriegsverbrechen. Seit 2002 führt der erste über den Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) in Den Haag.
123 Staaten haben sich darauf geeinigt, dass der Strafgerichtshof das Grausamste verfolgt wird, was Menschen fertigbringen: Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen, Verbrechen der Aggression.
Noch in den 1990er-Jahren wurden individuelle Taten vor allem von Sondergerichten verhandelt: Das Kosovo-Tribunal und der Internationale Strafgerichtshof für den Genozid in Ruanda waren eigens für diese Konflikte geschaffene Gerichte.
Ermittlungsverfahren zu etwaigen Kriegsverbrechen
Die Ukraine hat bereits in der Vergangenheit in zwei Erklärungen die Zuständigkeit des Gerichtes für sein Territorium anerkannt. Anfang April 2022 eröffnete der IStGH-Chefankläger, der britische Jurist Karim Khan, ein förmliches Ermittlungsverfahren zu etwaigen Kriegsverbrechen in der Ukraine. Dies war ohne richterlich Anordnung möglich, weil zuvor 40 Staaten die Aufnahme von Ermittlungen in Den Haag beantragt hatten.
Dieses Verfahren sollte zunächst Kriegsverbrechen auf der Krim und im Osten der Ukraine seit 2014 erfassen. Laut IStGH-Chefankläger Karim Khan ist die gesamte Ukraine als möglicher "Tatort" zu betrachten.
Eine weitere Möglichkeit, mutmaßliche Kriegsverbrechen in der Ukraine zu verfolgen, böte die vom UN-Menschenrechtsrat bereits eingerichtete Untersuchungskommission. Die Vereinten Nationen könnten die Arbeit der Kommission an ein hybrides internationales Kriegsverbrechertribunal übergeben.
Drittens könnte eine Gruppe von interessierten oder betroffenen Staaten ein Tribunal oder ein Gericht für einen Prozess gegen mutmaßliche Kriegsverbrecher ins Leben rufen. Ein Beispiel dafür sind die Nürnberger Prozesse gegen führende Nationalsozialisten nach dem Zweiten Weltkrieg.
Mehrere Länder wollen ein Sondertribunal
Die Ukraine und die EU-Staaten Polen und Litauen haben bereits ein gemeinsames Ermittlerteam gebildet, um mutmaßliche russische Kriegsverbrechen zu untersuchen. Der IStGH arbeitet mit dieser europäischen Untersuchungsgruppe zusammen.
Die Idee eines Sondertribunals wird von mehreren Staaten vorangetrieben. Doch Kai Ambos, Professor für internationales Strafrecht an der Universität Göttingen, rät davon ab, denn es handele sich um ein "antirussisches Tribunal". Damit sei es für viele Staaten von vornherein nicht akzeptabel. Der Internationale Strafgerichtshof sei die bessere Lösung.
Andere Experten befürworten hingegen ein Sondertribunal. Es sei eine Schwachstelle, dass der Strafgerichtshof zum Verbrechen der Aggression nicht tätig werden könne, heißt es. Wenn man ein internationales Tribunal dazu bilde, könnte das den Weg ebnen, das zu ändern.
Auch einzelne Staaten verfolgen Kriegsverbrechen
Diskutiert wird darüber, weil das spezielle Verbrechen der Aggression nur dann in die Zuständigkeit des Internationalen Strafgerichtshofs fällt, wenn beide Länder Vertragsstaaten sind. Weil Russland das Gericht nicht anerkennt, ist der Internationale Strafgerichtshof beim Verbrechen der Aggression machtlos.
Schließlich haben auch Staaten die gesetzliche Möglichkeit zur Verfolgung von Kriegsverbrechen. So ermittelt etwa in Deutschland nach einer Anzeige der Generalbundesanwalt in Karlsruhe gegen den russischen Präsidenten Waldimir Putin sowie gegen weitere verantwortliche Politiker, Kommandeure und Soldaten.
Könnte Russlands Präsident Putin als Kriegsverbrecher angeklagt und verurteilt werden?
Als Kriegsverbrecher können nach dem humanitären Völkerrecht und dem Römischen Statut nur Einzelpersonen verfolgt und verurteilt werden, keine juristischen Personen und auch keine Staaten. Militärische Befehlshaber und Politiker, die nicht persönlich an Kriegsverbrechen beteiligt waren, können dabei über die weithin anerkannte Vorgesetztenverantwortlichkeit juristisch zur Rechenschaft gezogen werden. Dies gilt nicht nur, wenn die Personen diese Verbrechen angeordnet haben, sondern auch, wenn sie davon gewusst haben oder wenn sie in einer Position waren, in der sie darüber Bescheid gewusst haben könnten und nichts dagegen getan haben.
Haftbefehl gegen Wladimir Putin
Auf dieser Grundlage hat der Internationale Strafgerichtshof wegen mutmaßlicher Kriegsverbrechen in der Ukraine Haftbefehl gegen den russischen Präsidenten Wladimir Putin erlassen.
Die Richter haben einem entsprechenden Antrag des Chefanklägers Karim Khan auf Ausstellung eines Haftbefehls stattgegeben. Das Gericht wirft Putin vor, für die Verschleppung von ukrainischen Kindern verantwortlich zu sein. Auch gegen die Kinderrechtskommissarin in Putins Präsidialverwaltung, Maria Lwowa-Belowa, wurde Haftbefehl erlassen.
Da das IStGH selbst keine Möglichkeit hat, einen Haftbefehl zu vollstrecken, müsste dies durch einen Staat geschehen, der Vertragspartner des IStGH ist. Putin - so viel ist klar - wird nicht vor dem Gericht in Den Haag erscheinen.
Der Internationale Strafgerichtshof ist nicht immer machtlos, nur weil ein Staat kein Mitglied ist. Beispiel Ukraine: Das Land ist zwar kein offizieller Mitgliedsstaat des Internationalen Strafgerichtshofs, hat die Zuständigkeit des Gerichts aber für ukrainisches Territorium nach dem russischen Angriffskrieg rückwirkend anerkannt.
Nach Putin kann international gefahndet werden
Deshalb kann der Internationale Strafgerichtshof nun auf dem Gebiet der Ukraine ermitteln. So kam auch der internationale Haftbefehl gegen den russischen Präsidenten Putin zustande. Nach Putin kann also international gefahndet werden, obwohl Russland selbst den Internationalen Strafgerichtshof nicht anerkennt.
Doch wirft der Fall Fragen auf: Was bringt ein Haftbefehl, der womöglich nie vollstreckt wird? Schließlich gibt es genügend Länder, in die Putin weiterhin reisen kann und die ihn nicht ausliefern würden.
Verantwortung für den Angriffskrieg
Wenn über ein Verfahren gegen Putin gesprochen wird, dann kommt dabei auch die übergeordnete Schuldfrage in den Blick, nämlich die Verantwortung für den Angriff an sich. Die juristisch zu klären, wäre zentral.
„Wenn wir es nicht schaffen, das Verbrechen des Angriffskriegs zu ahnden, dann kann es passieren, dass am Ende nur die kleinen und mittleren Täter für Kriegsverbrechen vor Gericht gestellt werden, weil es schwer wird, die Verbindung zwischen einzelnen Kriegsverbrechen und den konkreten Befehlen aus dem Kreml in Moskau nachzuweisen. Ohne eine Verfolgung des Verbrechens des Angriffskriegs wird es keine Gerechtigkeit geben", sagt Anton Korynewych, Sonderbotschafter der Ukraine.
Wulf Wilde, Gesine Dornblüth, pto, tei