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Webplattform "Sans A" in Frankreich
Die Unsichtbaren sichtbar machen

Menschen "ohne Unterkunft, ohne Liebe, ohne Geld" porträtiert die französische Webplattform "Sans A". Sie erzählt die Geschichten der Ausgegrenzten in professionellen Bildern, Videoclips und Podcasts.

    Auf einem Spielplatz im Pariser Süden steuert eine Gruppe junger Männer eine Parkbank an. Auf der, seinen Rollstuhl vor sich, sitzt Philippe Le Cloedec: ein älterer Mann mit Schmerbauch, die Zähne nichts mehr als Ruinen, schwarzes T-Shirt, schwarze Hose, ausgebeult und speckig.
    Er lächelt schüchtern und erklärt: "Mein Leben ist zum Heulen. Ich bin in einem Sozialheim für mittellose Behinderte untergebracht, da geht es zu wie im Gefängnis, mit Sperrzeiten und so."
    Er sei mutterseelenallein, ein Findelkind. Die Pflegemutter habe ihn links liegen gelassen, hat Le Cloedec Filmemacher Cyril Bruel anvertraut.
    Über 20.000 Follower wollen helfen
    "Leute, die einen Penner sehen, denken oft: Der ist selbst schuld an seinem Schicksal. Um zu zeigen, dass dies nicht stimmt, veröffentlicht 'Sans A' die Geschichten von Menschen wie Philippe." "Sans-A"-Gründer Martin Besson hat sich neben Le Cloedec gesetzt. Er will seine Geschichte in einem Video nacherzählen.
    Dadurch könne Le Cloedec Freunde finden, verspricht Martin Besson. Denn "Sans A" hat über 20.000 Follower - Menschen, die sozial Ausgegrenzten helfen wollen, sagt Besson. "Wenn Ihre Geschichte online steht, kann es passieren, dass jemand auf Sie zutritt und sagt: Philippe, kommst Du mit ins Restaurant oder ins Kino? Worauf hast Du Bock? Wir unternehmen was zusammen!"
    Währenddessen schießt Martin Varret Bild über Bild. Der Fotografiestudent steht schon mit einem Fuß im Berufsleben - und arbeitet seit Jahren auch für "Sans A". Ein Job, der Varret sehr am Herzen liegt: "In den herkömmlichen Medien kommen Obdachlose zumeist schlecht weg. Fast immer begleitet da der Reporter den sozialen Hilfsdienst - wenn es im Sommer zu heiß oder im Winter zu kalt ist."
    "Ohne Pathos oder Gejammere"
    Für das mangelnde Medieninteresse gäbe es eine einfache Erklärung, meint Varret: Viele Franzosen würden ihren gesellschaftlichen Abstieg fürchten, der auf der Straße enden könnte. Deshalb wolle man mit denen, die ihr Dach über dem Kopf bereits verloren haben, nicht zu tun haben. "Wir wollen Unsichtbare sichtbar machen, ohne Pathos oder Gejammere. Der einzige Unterschied zu stinknormalen Porträts ist, ich arbeite nicht im Büro oder im Fotostudio, sondern draußen."
    Der aktuelle Aufmacher auf der Online-Seite von "Sans A" ist die Geschichte von Severine und Fabien. Das junge Obdachlosen-Pärchen will von der Weinlese leben. Die "Sans A"-Community spendete genug Geld für einen Campingwagen.
    In der Geschichten-Galerie in Bild und Ton findet sich der Sohn einer Prostituierten oder auch eine vereinsamt lebende Rentnerin auf dem Land. Seit ihre Geschichte online steht, erhält sie aufmunternde Briefe aus der ganzen Welt.
    Geschichten, die zum Handeln ermutigen
    Das Büro von "Sans A" besteht aus einer langen Tischreihe, im ersten Stock eines gigantischen Neubaus: der Station F, das größte Start-up-Zentrum weltweit. Chief Development Officer Laurent Tisserand weist auf eine lange Liste auf dem Computerbildschirm - Namen von Unternehmen, die das Projekt bald unterstützen könnten.
    "Sans A" finanziert sich mittels einer eigens gegründeten Werbeagentur. Sie liefert Unternehmen mit einem sozialen Profil Geschichten von gesellschaftlich Ausgegrenzten - Geschichten, die die User wiederum zum eigenen Handeln ermutigen.
    Laurent Tisserand: "Früher habe ich als Ingenieur Autos gebaut. Nun konnte ich im Namen von 'Sans A' einem Obdachlosen-Pärchen einen Campingwagen übergeben. Das gefällt mir viel besser als mein alter Job."