Carl Orffs Kantate Carmina Burana als brasilianische Protesthymne: "Fora Temer / Weg mit Temer!” sangen Hunderte von Kulturschaffenden, nachdem sie den historischen Palacio Capanema besetzt hatten. Er ist ein emblematischer Ort, denn hier befand sich einst das Kulturministerium, als Rio de Janeiro Hauptstadt Brasiliens war. Heute beherbergt er nur noch eine ministerielle Außenstelle, eine von vielen in den verschiedenen Bundesstaaten.
Sie alle wurden Mitte Mai von wütenden Demonstranten okkupiert, die sich mit der Degradierung des Kulturministeriums zu einer Unterabteilung des Bildungsministeriums nicht abfinden wollten – wie Marco Nanini, ein bekannter Theaterregisseur und Schauspieler.
Proteste bei dem Filmfestspielen von Cannes
"Die Kultur ist zu unserer populärsten Ausdrucksform geworden, dank der Kulturpolitik der letzten Regierungen. Bisher gab es eine staatlich geförderte Kultur für alle... Doch wen wird das künftig noch interessieren? Das ist ein enormer Rückschritt, eine Zensur der Kreativität."
Caetano Veloso, einer der berühmtesten Liedermacher des Landes, schrieb in "O Globo", einer der einflussreichsten Tageszeitungen:
"Das Kulturministerium abzuschaffen, ist fatal. Obwohl es nie über sehr große Mittel verfügte, hat es der Kultur die Anerkennung verliehen, die sie verdiente."
Bei den Filmfestspielen in Cannes erreichte der Protest eine weitere politische Dimension. Als die Akteure des brasilianischen Wettbewerbsbeitrags Aquarius sich auf dem roten Teppich den Kameras der internationalen Medien präsentierten, zeigten sie plötzlich Flugblätter mit Aufschriften wie diesen:
"Brasilien erlebt einen Putsch!"
"Die Welt darf die illegitime Regierung nicht akzeptieren!"
Bald darauf kursierten zahllose Protestvideos von Künstlerinnen und Künstler im Internet. Die Gruppe "Historiker für die Demokratie" schloss sich ihnen an und verurteilte das Amtsenthebungsverfahren gegen Präsidentin Dilma Rousseff – wie die Professorin Beatriz Mamigonian.
Hier hat sich der herrschende Kapitalismus mit den konservativsten Traditionen verbunden, die verheerende Spuren in der Vergangenheit des Landes hinterlassen haben.
Ihre parlamentarische Phalanx erklärt der Soziologe Luiz Ramalho.
"Diese starke Gruppierung von Abgeordneten wird mit den Begriffen Bibel, Kugel, Rind charakterisiert, denn es sind fundamentalistische Evangelikale, Vertreter von Militär, Polizei etc. sowie Großgrundbesitzer. Diese Kameraderie hat in der letzten Zeit die reaktionärsten Initiativen ins Parlament eingebracht: sie will den Kreationismus durchsetzen, jede Gender-Diskussion verbieten oder die Homosexualität unter Strafe stellen... Das ist ein politischer, kultureller und moralischer Rückfall, den ich nie für möglich gehalten hätte."
Ein ähnlich reaktionäres Weltbild verkörpern auch die Regierungsmitglieder, von denen mehrere bereits wegen Korruptionsverdacht zurücktreten mussten.
"Der Interimspräsident Temer überraschte mit der Zusammensetzung seines Kabinetts: die 25 Minister sind alle weiß, männlich, alt und meist Millionäre, 20 von ihnen... An die Spitze des Bildungsministeriums berief er einen Mann, der für seinen Mangel an Kultur und seine Ablehnung der Programme der Regierungen von Dilma und Lula sehr bekannt ist."
Temer wolle Kulturschaffende beschwichtigen
Die Regierung scheint von der massiven Reaktion der Kulturschaffenden überrascht worden zu sein. Interimspräsident Temer ruderte zurück: er stellte die Eigenständigkeit des Kulturministeriums wieder her und suchte sicherheitshalber nach einer Frau für den Spitzenposten.
Eliane Costa, eine der Auserwählten, twitterte:
"Ich arbeite doch nicht für eine Putsch-Regierung und will auch nicht die Totengräberin des Kulturministeriums werden."
Da keine Brasilianerin den Posten habe wollte, entschloss sich Temer für Marcelo Calero, den Luiz Ramalho so charakterisiert:
"Das ist ein Jüngling von 33 Jahren, ein Diplomat ohne wirkliche Erfahrung. Er hat lediglich ein Jahr lang die Kulturabteilung der Stadt Rio geleitet, mehr nicht. Temer glaubte mit der Ernennung dieses Neulings die Kulturschaffenden zu besänftigen, aber bis jetzt ist noch nicht einmal klar, ob der Kulturetat gekürzt wird oder nicht."
Letzte Woche ließ die Regierung den Palacio Capanema nach 73 Tagen der Besetzung gewaltsam räumen. Sie wollte Ruhe vor den Olympischen Spielen schaffen. Die Demonstranten teilten jedoch bereits auf ihrer Facebook-Seite mit:
"Olympia dient uns als Schaufenster, um der Welt die Vergewaltigung der Demokratie in Brasilien vor Augen zu führen."
"Fora Temer!", "Weg mit Temer!” dürfte deshalb in der nächsten Zeit noch oft in Rio de Janeiro zu hören sein.