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Weg zu glücklichen Kindern in Pflegefamilien

Rund 130.000 Kinder in Deutschland sind in Heimen, betreuten Wohnformen oder Pflegefamilien untergebracht. Ihre Zahl steigt seit 2006 stark, deutschlandweit gibt es aber große Unterschiede im Ablauf. Nun untersucht eine Studie, welchen Standards eingeführt werden sollten.

Von Doris Arp |
    Mädchen: "Ich wusste nicht, was Zähneputzen ist und ich war sowieso total unterentwickelt. Ich hatte riesengroße Lücken, ich hab Fragen gestellt, die sich eigentlich für ein fünfjähriges Mädchen gar nicht gehörten, aber waren halt richtig Bildungslücken und merkte richtig, dass ich was verpasst habe."

    Junge: "Meine leibliche Mutter hat getrunken und geraucht, auch während sie mit mir schwanger war. Das war sicher auch ein Grund, dass sie mich weggegeben hat. Doch sie konnte mich auch vom Geld her nicht halten. Sie hat uns alle vier weggegeben. Die anderen drei hat sie gleich anderen Familien gegeben. Und mich hat sie ins Heim gesteckt. Sie hat es jedoch nicht böse gemeint. Sie wollte uns nur was Besseres geben."

    Klaus Wolf: "Es sind erhebliche Belastungen. Wir versuchen zunächst mal, durch eine intensivere Betreuung der Herkunftsfamilien die Herausnahme von Kindern zu verhindern. Weil die Herausnahme selbst für die Kinder schon eine weitere zusätzliche Belastung ist. Aber bei massivem Alkoholkonsum, der das Leben der gesamten Familie bestimmt, bei Drogenkonsum, bei Gewalt und Vernachlässigung oder psychischen Erkrankungen der Eltern, da können Situationen entstehen, die so gravierende Belastungen beinhalten für die Kinder, dass die Mitarbeiterinnen in den Jugendämtern sagen, das können wir nicht mehr verantworten."

    Manchmal sehen Eltern selbst, dass sie es nicht mehr schaffen, erklärt der Erziehungswissenschaftler Professor Klaus Wolf von der Universität Siegen. Öfter aber übernimmt der Staat per Gerichtsentscheid die Obhut über Kinder. Einige kommen in ein Heim oder eine betreute Wohngemeinschaft, für andere wird eine Ersatzfamilie gesucht. Es ist der massivste Eingriff den der Staat sich gegenüber Familien erlaubt – im Interesse der Kinder. Doch nicht immer gelingt, was gut gemeint war. Jüngstes dramatisches Beispiel ist der Tod der elfjährigen Chantal in Hamburg. Sie wurde bei drogenabhängigen Pflegeeltern untergebracht und starb im Februar an einer Überdosis Methadon.

    "In Pflegefamilien kann alles passieren, an Unglück und glücklicher Entwicklung, was in anderen Familien auch passieren kann. Und dass ein Pflegekind ums Leben kommt, ist eine radikale Ausnahme. Und wenn man sich die Fälle näher anguckt, dann schimmern da schon Strukturfragen durch, die natürlich nicht unbedingt zum Tod des Kindes geführt haben, aber wo wir schon sagen, da werden Strukturprobleme des Pflegekinderwesens deutlich."

    "Holt die Kinder aus den Heimen", hieß Anfang der 70er-Jahre eine Kampagne. Es war die Gründungszeit der bundesweiten Pflegekinderdienste. Wie die Kinder vermittelt und betreut werden, das überließ man den Kommunen.

    "Es gibt eine extrem unterschiedliche Praxis, das fällt völlig auseinander. Und das wirft die Frage an professionelles Handeln auf, was sind eigentlich die fachlichen Standards, an denen ihr euch generell orientiert? Und die gibt es für die Bundesrepublik nicht."

    Schon von einer Kommune zur Nachbargemeinde lägen manchmal Welten, sagt der Erziehungswissenschaftler Wolf. 2006 gründete er eine Forschungsstelle zur Pflegekinderhilfe an der Universität Siegen. Sein Forschungsteam hat nun zusammen mit dem Landschaftsverband Rheinland und dem Jugendamt Düsseldorf erste Qualitätsstandards in der Pflegekinderhilfe erarbeitet. Die Grundlage lieferten mehrstündige biografische Interviews, die dann nach dem Modell einer Ressourcen-Belastungsanalyse ausgewertet wurden.

    "Unser zentraler Zugang ist, dass wir Interviews geführt haben mit ehemaligen Pflegekindern, heute jungen Erwachsenen. Und von denen haben wir uns ihre gesamte Lebensgeschichte, von den ersten Erinnerungen bis zu ihrem heutigen Leben, erzählen lassen. Und dann haben wir uns die Stellen genauer angeguckt, in denen die Entwicklung in eine besonders günstige Entwicklung abgebogen ist und die Stellen an denen es neue Belastungen und eine ungünstige Eskalation gab und haben da versucht, genau zu sehen, welche Faktoren spielen da eine Rolle für einen günstigen oder einen extrem ungünstigen Verlauf."

    Daraus ergab sich, als Leitfaden der Arbeit, die Einbindung der Kinder in Entscheidungen.

    Junge: "Das wurde dann einfach von den Erwachsenen entschieden, ich weiß gar nicht wie, die haben mir nur mitgeteilt, dass ich jetzt eine neue Familie bekomme."

    Andreas Sahnen: "Es ist in der Tat so, dass einiges über die Köpfe der Kinder hinweg gesprochen wurde. Ein Hilfeplangespräch doch sehr ein Erwachsenenkonstrukt auch ist."

    Mindestens einmal im Jahr setzen sich Erwachsene an einen Tisch und beraten über die Zukunft eines Pflegekindes. Hilfeplangespräch heißt das im Fachjargon, erklärt Andreas Sahnen, Leiter des Pflegekinderdienstes in Düsseldorf. Am runden Tisch wird über Schicksale entschieden und zwar oft über die Köpfe der Kinder hinweg, sagt auch der Erziehungswissenschaftler Klaus Wolf:

    "Eines der großen, schwierigen Felder war, dass die Pflegekinder häufig das Gefühl hatten, dass keiner ihre Signale richtig wahrgenommen hat, dass sie nicht an den Entscheidungen beteiligt waren, die ihr Leben gestaltet haben und dass ihre Wünsche nicht richtig ernst genommen worden sind. Sodass wir daraus Schlussfolgerungen an die Praxis abgeleitet haben: In diesem Feld muss sich etwas verändern."

    Mädchen: "Ich hatte halt immer Angst, dass ich abgegeben werde. Das war das Schlimmste an diesem ganzen Pflegegedöns, sage ich jetzt mal. Also, das war wirklich das Allerschlimmste. Immer diese Angst zu haben, die können mich jederzeit abgeben. Das war ganz, ganz furchtbar. Und ich glaube, das hat mich einfach auch ein paar schöne Momente gekostet. So, also ich hätte es einfacher leben können, mein Leben."

    Eine verlässliche Lebensplanung ist der zweite große Qualitätsstandard, der sich aus der Studie der Universität Siegen ergibt. Pflegekinder kennen Unsicherheit und unzuverlässige Erwachsene. Um wieder Zuversicht in sich und andere Menschen zu bekommen, brauchen sie Ruhe und dauerhafte Beziehungen. Doch die Praxis sieht oft anders aus, sagt Klaus Wolf.

    "In vielen Jugendämtern und auch in Familiengerichten ist es eine zentrale Leitorientierung, zu sagen: Wir prüfen ständig und immer wieder, ob das Kind nicht doch noch zurückgeführt werden kann in die Herkunftsfamilie. Das führt dazu, dass ein Damoklesschwert über den Pflegefamilie und den Kinder hängt, wo die Situation vollkommen unklar bleibt."

    Markus, sein Name wurde geändert, genauso wie der aller anderen Familienmitglieder, hat seine ersten Lebensmonate bei der leiblichen Mutter gelebt, danach fast ein Jahr im Heim. Dann entscheid das Jugendamt, ihn für vier Jahre in eine Pflegefamilie zu geben, bis seine Mutter ihre Ausbildung beendet hat. Das Ehepaar Schäfer aus einer Kleinstadt am Niederrhein nahm den Jungen auf. Nach der Geburt ihrer Tochter konnten sie keine eigenen Kinder mehr bekommen, wünschten sich aber eine größere Familie.

    "Wir haben in der Zeit schon gemerkt, dass wir mit unseren Gefühlen auf Sparflamme gelaufen sind, weil wir versucht haben, dem Kind immer wieder zu signalisieren, wir sind da, aber wir werden dich irgendwann wieder abgeben. Also, das nicht ganz so dicht kommen zu lassen. Das Kind war anderthalb Jahre da, da wurde das auf einmal umgedreht, dann war sehr deutlich gesagt worden, dass das Kind dauerhaft bei uns ist. Dann haben wir das dem Kind mitgeteilt und auch unserer Tochter und da sind eigentlich so die Dämme gebrochen, bei uns wie auch bei den Kindern. Diese Aussage hat allen Beteiligten gut getan."

    Am Ende kam es doch zu einem Rechtsstreit mit der leiblichen Mutter, zu der es eigentlich einen guten Kontakt gab. Ein Kampf, den das Ehepaar Schäfer auf eigene Kosten bestritt – das zuständige Jugendamt hielt sich heraus. Markus' Mutter hat zwar das Sorgerecht bekommen, darf aber nicht seinen Aufenthalt bestimmen. So kann der Junge dauerhaft in seiner Pflegefamilie bleiben.

    "Dass es hinterher noch mal schwierig wurde, ich finde da hat sich jede Minute Kampf um das Kind gelohnt. Von daher rechne ich das mal als Lebenserfahrung ein."

    Junge: "Das fand ich am Schwierigsten. Dass ich immer zwischen den Stühlen stand. Und mich quasi entscheiden musste, wem ich glaube oder zu wem ich möchte."

    Die Kinder haben eine schwierige gemeinsame Geschichte mit ihren leiblichen Familien, sonst müssten sie nicht herausgenommen werden. Doch es bleiben die eigenen Eltern und es bleibt eine, wenn auch zwiespältige, Beziehung. Nicht in jedem Fall, aber doch häufig ist deshalb der weitere Kontakt zur Herkunftsfamilie wichtig. Und die leiblichen Eltern haben oft auch ein Anrecht darauf. Wie die Besuchskontakte gestaltet sind, ist deshalb eine weitere wichtige Frage.

    "Wir haben viele Interviewpassagen gehabt, wo die Kinder beschrieben haben, wie extrem belastend sie Besuchskontakte von Herkunftsfamilie und Pflegefamilie erlebt haben. Wie sie sich zwischen den Stühlen gefühlt haben. Angst hatten, wie sie nicht wussten, wie sie sich verhalten sollen. Das haben wir lange diskutiert und dann Standards abgeleitet, die zum Beispiel so lauten: Dass die Besuchskontakte an einem neutralen Ort stattfinden müssen und dass sie von einer Fachkraft vorbereitet, begleitet und nachbereitet werden müssen, sodass die Kinder einen sicheren, festen Ansprechpartner haben, der eingreift, moderiert, der sowohl die Eltern als auch die Pflegeeltern gut kennt. Und auf diese Weise werden die Belastungen nicht vollkommen aufgehoben, aber sie werden ganz erheblich abgemildert."

    Selbst, wenn sie gut von Beratern begleitet werden, sind die Besuche für alle schwierig, erzählt Bernd Meier, der vor vier Jahren zwei Schwestern in seine Familie aufgenommen hat:

    "Es geht auch um den Elternkontakt zu der Herkunftsfamilie, den aufrecht zu erhalten. Und gleichzeitig darum, dass die Kinder hier leben. Von daher ist das schon eine Situation, die so widersprüchlich in sich ist. Man will vermitteln, hier ist Dein Zuhause, wir sind jetzt Deine Familie, aber Mama und Papa gibt es auch noch. Da gibt es regelmäßige Besuche alle sechs Wochen. Und das ist auch richtig so, dass man das macht. Aber das ist eine widersprüchliche Situation und die müssen die Kinder aushalten und wir auch."

    Mädchen: "Dieses Gefühl überhaupt, dass jemand da ist für einen, woher sollt ich das kennen, dass jemand morgens an mein Bett kommt und mich ganz ruhig und vernünftig weckt. Überhaupt, dass mich jemand weckt. Und dass, wenn ich aufstehe, mir ein Brot gemacht wird. Oder dass die Mama mit mir am Waschbecken steht und drei Minuten lang die Zähne putzt. Ich musste ja alles selber machen, ich konnte ja gar nicht Kind sein, ich habe mich um meine Geschwister gekümmert, ich hab den Haushalt gemacht, ich bin einkaufen gegangen. Wenn ich das jetzt jemandem erzähle, ich war drei, vier Jahre alt, die packen sich bestimmt an den Kopp."

    "Wenn ich versuche, jemandem zu erzählen, was eigentlich das Anstrengende ist, ich kann es nicht formulieren. Ich weiß nur, dass ich manchmal nach anderthalb Stunden Umgang mit den Kindern platt bin wie 'ne Flunder und nicht mehr weiß, wo ich mich lassen kann. Es ist einfach, dass die Kinder wahnsinnig viel Aufmerksamkeit, Zuwendung, Nähe brauchen, vor allen Dingen Aufmerksamkeit und die holen sie sich auf jede erdenkliche Art und das ist anstrengend."

    Katrin und Bernd Meier sind erfahrene Eltern. Sie haben drei erwachsene leibliche Kinder und arbeiten beide in sozialpädagogischen Berufen. Daher wussten sie auch um die Not benachteiligter Kinder. Sie wollten ganz konkret helfen.

    "Ein weiterer Grund war auch noch, dass wir einfach Glück gehabt haben mit unseren Kindern. Das ist alles gut gelaufen und wir haben gedacht, das kann auch mit anderen Kindern gut gelingen."

    Soziale Verantwortung, Freude am Zusammenleben mit Kindern und eine große Portion emotionaler Belastbarkeit müssen Pflegeeltern mitbringen. Ihre sorgfältige Auswahl und Vorbereitung gehört deshalb auch zu einem wichtigen Qualitätsmerkmal dieser Form der Kinder- und Jugendhilfe.

    Andreas Sahnen: "Ich habe großen Respekt vor Pflegeeltern und was sie da leisten mit dem Pflegekind. Das ist oft auch über die Grenzen hinaus, was man leisten kann. Und da brauchen sie auch Unterstützung. Und da sind wir in der gemeinsamen Verantwortung."

    In Düsseldorf ist eine Mitarbeiterin für 35 Pflegekinder und ihre Familien zuständig. Das ist eher eine Ausnahme. Nicht selten müssen die Beteiligten mit einem Personalschlüssel von 1:80 oder sogar 1:100 und mehr klar kommen. Der bundesweite Durchschnitt liegt bei 1:50, sagt der Erziehungswissenschaftler Klaus Wolf. Dabei rechne sich ein guter Personalschlüssel auch für den Kämmerer. Denn eine Heimunterbringung sei mindestens viermal so teuer, wie eine Pflegefamilie. Und wenn die Familien gut betreut seien, dann gehe es allen gut. Und das wiederum könne auch andere Familien motivieren, ein Kind aufzunehmen:

    "Wenn man das mit anderen europäischen Ländern vergleicht, kann man auch sehen, dass es durchaus auch noch Spielraum gibt. Wir bringen in Deutschland etwas mehr als die Hälfte der Kinder in Heimen und ähnlichen Einrichtungen unter und weniger als die Hälfte in Pflegefamilien. Das ist in anderen Ländern ganz anders, da werden deutlich mehr Kinder in Pflegefamilien betreut und das könnten wir auch erreichen, wenn wir die Pflegefamilien flächendeckend gut betreuen würden."

    Auch in der Forschung seien beispielsweise die Niederlande und Großbritannien erheblich weiter, sagt der Erziehungswissenschaftler. Für die Praxis liefern die an der Universität Siegen erarbeiteten Qualitätsstandards jetzt eine konkrete Messlatte. Viele Pflegekinderdienststellen seien noch weit davon entfernt, meint Andreas Sahnen vom Jugendamt in Düsseldorf:

    "Es bedarf zunächst auch struktureller Veränderungen in den einzelnen Jugendämtern. Es gibt immer noch Jugendämter, die gar keine Fachdienste vorhalten. Wir sind von einer bundesweiten Regelung noch weit entfernt. In Bezug auf die Forschung bedarf es hier einer weiteren Vertiefung. Es bedarf auch hier der Vernetzung der Erkenntnisse aus den verschiedenen Bereichen der Entwicklungspsychologie, Hirnforschung, Traumatologie, der Sozialpädagogik, die im Transfer mit der Pflegekinderhilfe zu organisieren ist."