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Wege aus der Abhängigkeit

Nach Schätzungen der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen gibt es bundesweit mehr als 1,5 Millionen Medikamentenabhängige. Gut zwei Drittel davon sind abhängig von speziellen Schlaf- und Beruhigungsmitteln, den so genannten Benzodiazepinen. Zum größten Teil sind es ältere Menschen, die diese Tabletten einnehmen. Denn bei betagteren Patienten greifen Ärzte schneller und häufiger zum Rezeptblock, wenn es mit dem Schlafen nicht klappt oder die Ängste überhand nehmen. Obwohl Benzodiazepine nur für Kurzzeitbehandlungen geeignet sind, werden sie oft über lange Zeit eingenommen.

Von Hedwig Lechtenberg | 10.05.2005
    John Desmond Gallagher litt immer wieder mal unter Schlafstörungen. Vor zwei Jahren verstärkten sie sich plötzlich. Einen Grund fand der Übersetzer dafür nicht.

    " Das hat mich derart beunruhigt, dass ich einen Arzt aufgesucht habe. Dann habe ich zum ersten Mal ein Schlafmittel, Zopiclon, genommen. "

    Schlafstörungen, Angst und Unruhe können jeden treffen, die Gründe dafür vielfältig sein. Obwohl ältere Menschen insgesamt nicht häufiger unter seelischen Störungen - wie Depressionen - leiden als jüngere, verordnen die Ärzte ihnen viel öfter Schlaf- und Beruhigungsmittel als anderen Patienten, kritisiert Dirk Wolter, Chefarzt der geronto-psychiatrischen Abteilung der Westf. Klinik in Münster.

    " Was wir wissen ist, dass in einem sehr sehr hohen Prozentsatz Depressionen gerade bei alten Menschen fälschlicherweise mit Beruhigungsmitteln behandelt werden. Eigentlich müsste man Antidepressiva geben. Aber in ganz vielen Fällen, unter Umständen bis zu 90 Prozent, werden stattdessen einfach nur Beruhigungsmittel gegeben. "

    Der Grund: Hausärzte und Internisten stellen bei Älteren nicht selten eine falsche Diagnose. Das heißt: sie erkennen nicht, dass sich hinter Schlafstörungen, Unruhe und Angstgefühlen beispielsweise eine Depression verbirgt. Meisten werden dann so genannte Benzodiazepine verordnet. Mehr als 20 verschiedene Benzodiazepin- oder benziodiazepinähnliche Substanzen sind hierzulande auf dem Markt und unter mehr als 100 Namen erhältlich, so Dirk Wolter.

    " Bei manchen dieser Handelsnamen ahnt man gar nicht, dass ein Benzodiazepin dahinter steckt. Also Valium oder Tavor kennt jeder. Aber Laubeel z.B., dass das dasselbe ist wie Tavor, das weiß man nicht. "

    Was viele Patienten auch nicht wissen und manche Ärzte leider zu wenig beachten: Benzodiazepine können - anders als Antidepressiva - schon nach wenigen Wochen in eine Abhängigkeit führen, und das bei gleich bleibender Dosis. Diese Erfahrung machte auch John Desmond Gallagher. Als der 61jährige das ärztlich verordnete Schlafmittel nach einigen Monaten absetzte, tauchten seine Schlafstörungen wieder auf, stärker als je zuvor.

    " Ohne das Medikament konnte ich kaum schlafen. Ich hatte Herzschmerzen, Kopfschmerzen, Schweißausbrüche und Albträume. "

    Fachleute wie Psychiater Dirk Wolter sprechen hier von einem so genannten Rebound- oder Rückschlageffekt. Das heißt: Angst und Unruhe treten verstärkt wieder auf, klingen allerdings nach wenigen Tagen wieder ab. Wer das nicht weiß und die Tabletten weiternimmt, kann in eine ausgeprägte Abhängigkeit oder gar Sucht geraten. Und Patienten, die Benzodiazeoine über lange Zeit und in höheren Dosen einnehmen, riskieren dann bei abrupten Absetzen heftigste Entzugssymptome bis hin zu Halluzinationen oder gar epileptischen Anfällen, warnt der Psychiater. Zudem können ältere Menschen bei längerer Einnahme von Benzodiazepinen in eine schleichende Vergiftung geraten.

    " Die sich darin äußert, dass man apathisch wird, abgeschlagen wird, dass die Beweglichkeit und Bewegungskoordination nachlässt, der Muskeltonus schlaffer wird. Es gibt eine Sturzgefahr, Vergesslichkeit kann die Folge sein. Es kann im Extremfall wie eine Demenzerkrankung, wie Alzheimer aussehen. "

    Benzodiazepine können zwar nach dem derzeitigen Stand wissenschaftlicher Erkenntnisse keine Demenzen auslösen, aber vortäuschen und somit zu weiteren Fehldiagnosen führen. Zudem greifen die Substanzen in den Gefühlshaushalt ein. Die schwierigen Dinge im Leben werden nicht mehr so deutlich wahrgenommen, die positiven, erfreulichen allerdings auch nicht mehr. Durch ihre erregungsdämpfende Wirkung im Gehirn vermindern Benzodiazepine außerdem die Fähigkeit zu lernen. Dirk Wolter:

    " Und das ist wahrscheinlich der Grund dafür, weshalb im Laufe der Jahre bei Menschen, die das dauerhaft einnehmen, man den Eindruck gewinnt, dass sich die Persönlichkeit verändert, einfach deshalb, weil die keine neue Erfahrungen mehr machen können. Weil sie neue Erfahrungen nicht mehr lernen können. "

    Wer feststellt, dass etwas nicht stimmt, sollte die Medikamente auf keinen Fall von heute auf morgen absetzen, sondern unbedingt mit dem Arzt sprechen oder eine Suchtberatungsstelle aufsuchen, rät der Psychiater. John Desmond Gallagher hat sich z.B. für eine Behandlung im Schlaflabor der Universitätsklinik Münster entschieden.

    " Und ich brauche jetzt keine Medikamente mehr, jetzt wird eine so genannte Schlafrestriktionstherapie angewandt. Die Schlafmittel allein genügen nicht. "

    Unter psychotherapeutischer Anleitung lernt John Desmond Gallagher wieder richtig zu schlafen. Vor die Gespräche mit dem Therapeuten haben ihm sehr geholfen.