Die Corona-Inzidenzen in Deutschland sinken seit einigen Tagen, gleichzeitig beunruhigt das Auftauchen der neuen Omikron-Mutation. Modellierer warnen vor vollen Intensivstationen an Weihnachten.
Der Arzt, Gesundheitsökonom und Medizinethiker Eckard Nagel betonte im Deutschlandfunk, dass man die Gefahren der Pandemie weiterhin sehr ernst nehmen müsse. Er wirbt allerdings auch dafür, nicht nur Ängste zu betonen, sondern auch die Erfolge im Kampf gegen die Corona-Pandemie wahrzunehmen.
"Was ich merke, ist, dass die positiven Dinge, die wir im Umgang mit der Pandemie haben, gar nicht mehr wirklich wahrgenommen werden", sagte Nagel. Ein Beispiel dafür sei die Reaktion auf die Entscheidung der Ständigen Impfkommission zur Impfung von Kindern am 10.12.2021. Man habe jetzt einen Impfstoff, der für viele Kinder als Schutz empfohlen wird. In der Debatte sei aber der Fokus darauf gelegt worden, dass viele Kinder vielleicht erst einmal nicht geimpft werden könnten.
Auch in der Diskussion um volle Intensivstationen gerieten die Erfolge aus dem Blickfeld. "Da vergisst man ganz, dass wir in den letzten fast nun bald zwei Jahren alles an Behandlungen möglich gemacht haben, was es brauchte, um Patientinnen und Patienten mit SARS-CoV-2 auf Intensivstationen aufzunehmen", sagte Nagel. Dass Deutschland ein sehr gutes Gesundheitswesen habe, gerate in den Hintergrund. Stattdessen dominiere die Angst, dass es eine unzureichende Versorgung geben könnte. Angst stehe "so im Vordergrund, dass wir eben diese vielfältigen Angststörungen schon heute in der Klinik sehen".
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Das Interview im Wortlaut:
Jürgen Zurheide: Herr Nagel, in diesen Tagen haben Sie jetzt wiederum gewarnt vor zu viel Alarmismus. Nehmen Sie das Virus nicht mehr ernst?
Eckard Nagel: Nein, auf gar keinen Fall! Aber ich nehme es sehr ernst, wie viele Menschen auf die Diskussion reagieren, Man kann ja schon aus den Statistiken, aber auch aus der persönlichen Situation des Patienten, der Patientin erleben, dass eine große Verunsicherung besteht, dass Angstsymptome zunehmen in allen Altersgruppen. Insofern haben wir neben dieser Problematik dieser Pandemie mittlerweile eine Problematik mit der Art und Weise, wie wir damit umgehen. Und das bringt die Leute in einen wirklichen Stress.
Nagel: Erfolge gegen die Pandemie werden "nicht mehr wirklich wahrgenommen"
Zurheide: Wo blockiert denn dieser Alarmismus und die Angst, wo wird was zu viel, was beobachten Sie da?
Nagel: Was ich merke, ist, dass die positiven Dinge, die wir im Umgang mit der Pandemie haben, gar nicht mehr wirklich wahrgenommen werden. Nehmen wir mal den gestrigen Tag, als die Ständige Impfkommission empfohlen hat, dass jetzt Kinder geimpft werden können mit bestimmten Vorerkrankungen, das war ein guter Tag, weil wir nun eine Möglichkeit haben, eine Gruppe innerhalb unserer Gesellschaft zu schützen, die wir vorher noch nicht adäquat schützen konnten. In der Diskussion kam aber nur vor, dass wir ganz viele Kinder vielleicht nicht impfen können, dass es doch eine neue genetische Variante des Virus gibt und dass das doch auch gefährlich sein könnte.
Also, das Positive tritt immer in den Hintergrund, das, was wir schaffen können, bewältigen können, und die negativen, häufig gar nicht richtig einzuschätzenden Aspekte treten in den Vordergrund und machen Angst.
Zurheide: Und man kann feststellen, die Modellierer, die da auftreten, ich will die Gruppe jetzt mal allgemein bezeichnen, die haben auch häufig genug daneben gelegen. Da hieß es gelegentlich, wir werden Inzidenzen von 2.000 haben und wir hatten am Ende dann furchtbar viel weniger. Außerdem gibt es immer regional starke Unterschiede, das ist ja, was wir gerade beobachten. Meinen Sie das eventuell auch?
Nagel: Ich möchte auf keinen Fall falsch verstanden werden dahingehend, dass ich die Problematik, die Gefahr der Pandemie unterschätze, aber ich möchte doch sehr davor warnen, immer nur von dem Schlechten auszugehen. Wir haben eine intensive Diskussion jetzt auch darüber, können Patienten unter Umständen nicht mehr adäquat behandelt werden. Da vergisst man ganz, dass wir in den letzten fast nun bald zwei Jahren alles an Behandlungen möglich gemacht haben, was es brauchte, um Patientinnen und Patienten mit SARS-CoV-2 auf Intensivstationen aufzunehmen. Natürlich ist es zu Engpässen an bestimmten Punkten gekommen, aber das gehört zu unserem Alltagsleben ja von jeher dazu. Diesen positiven Aspekt, dass wir in Deutschland ein sehr gutes Gesundheitswesen haben, der positive Aspekt tritt immer in den Hintergrund, und die Angst, es könnte unzureichende Versorgung geben, die Angst, ich selber bin betroffen und werde unter Umständen nicht mehr adäquat behandelt, die steht so im Vordergrund, dass wir eben diese vielfältigen Angststörungen schon heute in der Klinik sehen.
"Angst ist immer ein Zeichen von Verunsicherung"
Zurheide: Jetzt schauen wir nach vorne, lassen wir diese Angst beiseite. Was muss denn getan werden, ich sage mal impfen und testen als zwei ganz wichtige Elemente. Was wäre das für Sie, sind das so die wichtigsten Elemente?
Nagel: Angst ist immer ein Zeichen von Verunsicherung, und Verunsicherung ist in dieser Situation verständlich, weil wir immer wieder mit Situationen konfrontiert sind, wo man nicht genau weiß, mit welchen nächsten Schritten man vorangeht. Und da haben wir uns sicherlich auch nicht besonders gut aufgestellt. Nehmen wir mal das Impfen, dass es immer noch Situationen gibt, ich hatte gerade jetzt bei uns in Oberfranken wieder eine Diskussion, dass niemand so richtig weiß, wie viele Impfdosen er in der nächsten oder übernächsten Woche hat. Das macht unsicher.
Das heißt, wir brauchen eine verlässliche Impfstrategie, ich muss die Termine, die ich bekommen habe, auch gut einhalten können. Und wir brauchen sicher noch mehr Selbstverständnis beim Testen. Wir erleben jedenfalls in verschiedensten Programm zum Beispiel an der Universität, dass eine ganz strukturierte Art und Weise des Testens hilft, im Alltag mit der Situation umzugehen, also 2G+ zum Beispiel ist etwas, mit dem man sehr gut auch im Alltag leben kann.
Zurheide: Was machen Sie an der Universität und welche Ergebnisse haben Sie?
Nagel: Wir haben ja nun schon eine längere Phase von Impfangeboten, von Kontrollangeboten durch Testzentren, die es eben tatsächlich ermöglichen für die Studierenden, aber auch für die Mitarbeitenden eine Situation zu erzeugen, wo man selber sich gut einschätzen kann. Wir raten allen, zu Hause zu arbeiten, die zu Hause arbeiten können, aber gleichzeitig allen, auch zu kommen, die in der Lage sind, eben über die Situation mit einer Impfung, einem Genesenen-Status oder eben auch mit adäquaten Testmöglichkeiten sich sicher zu fühlen und den anderen auch die Sicherheit zu geben, dass man zusammenkommen kann und vor Ort die Lehre stattfinden lässt. Das ist etwas, was gut gelingt und was auch eine hohe Annahme hat, das heißt, die Studierenden kommen wirklich gerne in die Universität und lernen vor Ort.
Zurheide: Und Sie haben keine besonders hohen Fälle, das wäre ja die entscheidende Frage.
Nagel: Nein, wir haben keine höheren Fälle als in anderen Situationen, bei den Studierenden muss man sehr positiv anmerken, fast 90 Prozent aller Studierenden, nach dem, was wir erheben, das ist ja freiwillig mitgeteilt, sind geimpft. Insofern haben wir da eine Grundlage. Aber durch die regelmäßigen Testangebote gibt es noch mal eine ganz andere Sicherheit, denn wir wissen ja, auch Geimpfte können unter Umständen das Virus übertragen. Deshalb ist es so wichtig, dass wir hier die Impfstrategie durch eine ganz strukturierte Teststrategie ergänzen.
"Unverändert unzureichende klinische Informationen"
Zurheide: Es beklagen ja viele auch zwei Jahre nach der Pandemie, dass die Studienlage über das, was sozusagen real passiert, wo Ansteckungen passieren, dass das immer noch höchst unzureichend ist. Nicht zuletzt der Medizinstatistiker Gerd Antes weist ja immer wieder darauf hin und beklagt das eigentlich. Hat er da eigentlich recht?
Nagel: Ja, ich glaube, wenn man genau hinschaut, alle unsere erfahrenen Statistiker beklagen schon seit Anfang, dass wir keine adäquate Gesundheitsberichterstattung in Deutschland haben. Das war auch schon vor der Pandemie so, das ist ein Bereich, der im Gegensatz zu anderen Ländern wie zum Beispiel USA oder auch Großbritannien immer schon recht stiefmütterlich ausgeprägt war. Aber wir haben eben eine Situation, dass wir unverändert unzureichende klinische Informationen haben, dass wir eigentlich über den Impfstatus der Bevölkerung unverändert relativ unsichere Daten haben, dass wir über die Fälle von Ausbrüchen meist erst im Nachhinein wirklich etwas hören, und auch, dass das Intensivstationsregister an bestimmten Punkten keine adäquaten Antworten geben kann – zum Beispiel wie das mit dem Impfstatus der Patienten ist. Wir haben also tatsächlich unverändert einen relativ großen Mangel.
Zurheide: Und vielleicht müsste das dann genau auch bei den neuen Gremien in Berlin besser berücksichtigt werden.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.