Zur Galavorstellung von Dvořaks tragischer Märchenoper Rusalka am 14. März 1939 hatte der tschechoslowakische Staatspräsident Emil Hacha sein Erscheinen im Prager Nationaltheater angekündigt.
Doch die Loge des Staatspräsidenten blieb an diesem Abend leer. Hacha war kurzfristig zu einem Treffen mit Adolf Hitler nach Berlin abgereist - seit Tagen prangerten die Medien im Reich angebliche Gewaltakte der Tschechen gegen die deutsche Minderheit an. Das Regionalparlament in Bratislava hatte auf deutschen Druck hin am Nachmittag die Unabhängigkeit der Slowakei ausgerufen. In den Opernlogen spekulierten die ausländischen Diplomaten über die Zukunft des tschechischen Volkes. Der amerikanische Gesandtschaftssekretär George Kennan erinnert sich:
"Wir hielten es für wahrscheinlich, dass die deutschsprachigen Enklaven im Flaschenhals von Mähren von den Deutschen besetzt würden. Das Gebiet ostwärts davon würden sie wahrscheinlich den Slowaken als Belohnung für ihren Verrat überlassen. Die verstümmelten Reste Böhmens und Mährens blieben dabei vielleicht unangetastet, um die Fiktion einer unabhängigen Tschechoslowakei aufrechtzuerhalten. Dieses Gebiet könnte von Deutschland als Devisen- und Rohstoffquelle benutzt werden. Auch die bestinformierten Beobachter in der Stadt teilten diese Auffassung."
Angesichts der seit dem Münchener Abkommen vom September 1938 unbestrittenen deutschen Hegemonie in Mitteleuropa schien ein deutscher Einmarsch in die tschechischen Siedlungsgebiete eigentlich überflüssig zu sein - die tschechischen Politiker hatten sich seitdem gegenüber der deutschen Regierung fast willfährig verhalten. Doch was niemand in Prag wusste: Hitler hatte bereits vier Tage zuvor die militärische Besetzung der sogenannten "Rest-Tschechei" für den 15. März angeordnet. Und schon am Abend des 14. März besetzten Einheiten der SS die Industriestadt Mährisch-Ostrau.
Der überrumpelte tschechoslowakische Präsident wurde in Berlin von Hitler erst spät in der Nacht empfangen und vor die Wahl gestellt, entweder die kampflose Übergabe des Landes durch die tschechischen Streitkräfte zu veranlassen oder die Verantwortung für die Bombardierung Prags durch die deutsche Luftwaffe auf sich zu nehmen. Hacha gab dem erpresserischen Druck nach: Er unterschrieb eine Erklärung, in der er das Schicksal seines Landes in die Hände Hitlers legte und gab telefonisch Weisung nach Prag, keinen Widerstand zu leisten.
Längst nicht alle Deutschen in Prag begrüßten den Einsatz
Der deutsche Rundfunk triumphierte am 15. März:
"Das Straßenbild in Prag hat sich heute Morgen gewaltig verändert. Mit Tagesgrauen erschienen auf den Häusern die ersten Hakenkreuzfahnen. In den Gesichtern der Deutschen strahlt die Freude darüber, dass die Stunde der Befreiung für die Deutschen Prags, der einstigen Hauptstadt des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation, geschlagen hat."
Längst nicht alle Deutschen in Prag waren über den Einmarsch der Wehrmacht glücklich. Mehr als 1200 deutsche Emigranten, denen die demokratische Tschechoslowakei in den 30er Jahren Asyl gewährt hatte, wurden in der sogenannten "Aktion Gitter" von der Gestapo verhaftet. Die Prager Botschaften der USA und Großbritanniens füllten sich mit verzweifelten Flüchtlingen, die dort allerdings vergeblich Hilfe erhofften.
Hitler, der am 15. März selbst nach Prag reiste, sprach vom "schönsten Tag seines Lebens". Er glaubte, endlich freie Hand für seine Expansionspläne in Osteuropa zu haben. Von der Prager Burg verkündete Reichsaußenminister Joachim von Ribbentrop am Tage darauf:
"Die von den deutschen Truppen im März 1939 besetzten Landesteile der ehemaligen tschechoslowakischen Republik gehören von jetzt ab zum Gebiet des Großdeutschen Reiches und treten als Protektorat Böhmen und Mähren unter dessen Schutz. Als Wahrer der Reichsinteressen ernennt der Führer und Reichskanzler einen Reichsprotektor; sein Amtssitz ist Prag.“
Sieben Millionen Tschechen wurden nicht gefragt. Das Selbstbestimmungsrecht der Völker, mit dem Hitler bislang seine territorialen Forderungen begründet hatte, wischte der deutsche Diktator beiseite. Hitler verlor den letzten Rest an internationalem Ansehen, doch für die Kriegsbereitschaft seiner Wehrmacht war der 15. März 1939 ein großer Erfolg: Kampflos fielen ihr bedeutende tschechische Armeebestände in die Hände, darunter mehr als 1200 Flugzeuge, 800 Panzer und 2200 Geschütze. Und die Rüstungsindustrie in Pilsen, Prag und Brünn sollte im Zweiten Weltkrieg ein Hauptlieferant der deutschen Wehrmacht werden.