Debatte um Wehrpflicht
Pistorius will Wehrfähigkeit junger Menschen erfassen

Seit Russlands Angriff auf die Ukraine wird verstärkt über eine neue Wehrpflicht diskutiert. Verteidigungsminister Pistorius will nun mehr Freiwillige gewinnen. Über ihre Bereitschaft zum Dienst sollen junge Menschen per Fragebogen Auskunft geben.

29.06.2024
    Bundeswehrsoldat mit Maschinengewehr.
    Deutscher Soldat mit Maschinengewehr: Die Verteidigungsfähigkeit der Bundeswehr ist umstritten, Verteidigungsminister Pistorius will das Land "kriegstüchtig" machen. (picture alliance / Panama Pictures / Christoph Hardt)
    Die Wiedereinführung der Wehrpflicht: Kann es dafür vor dem Hintergrund einer neuen Bedrohungslage durch den Überfall Russlands auf die Ukraine politische Mehrheiten in Deutschland geben?
    Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) ist eigentlich ein Befürworter dieser Idee. Doch ein neues Konzept aus dem Verteidigungsministerium, das für mehr Soldaten sorgen soll, sieht keinen verpflichtenden Dienst an der Waffe vor. Pistorius' Modell setzt im Grundsatz auf Freiwilligkeit.
    Die CDU plädiert in ihrem neuen Grundsatzprogramm hingegen für eine Rückkehr zur Wehrpflicht - ihr gehen die Pläne von Pistorius nicht weit genug.

    Inhalt

    Was beinhalten die neuen Pläne von Verteidigungsminister Pistorius?

    Die neuen Pläne von Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) sehen zwar nicht die Wiedereinführung eines Wehrpflichtmodells vor, können aber als Vorbereitung darauf verstanden werden - denn Pistorius will die vor 13 Jahren ausgesetzte Erfassung von Wehrfähigen wieder aufbauen.
    Das Modell des Verteidigungsministers: Alle jungen Leute eines Jahrgangs sollen erfasst werden. Konkret bedeutet das: Frauen und Männer werden zum 18. Geburtstag angeschrieben. Die Männer werden aufgefordert, in einem Fragebogen Auskunft über ihre Bereitschaft und Fähigkeit zum Bundeswehr-Dienst zu geben und sich bei Auswahl einer Musterung zu stellen. Bei Frauen ist die Rücksendung des Fragebogens freiwillig. Niemand soll gezwungen werden, Wehrdienst zu leisten. Zumindest bis auf weiteres.
    Die Militärplaner des Ministeriums gehen davon aus, dass bei 600.000 jungen Menschen eines Jahrganges ca. 40.000 zur Musterung bestellt werden könnten. Aktuell gibt es allerdings nur Kapazitäten für eine Ausbildung von 5000 bis 7000 Rekruten. Der Wehrdienst soll sechs Monate dauern und kann auf bis zu 17 Monate verlängert werden. Nur wenn ausreichend Ausbildungskapazitäten vorhanden sind, kann die Zahl der Wehrdienstleistenden steigen.
    Viele Fachleute bezweifeln jedoch, dass das geplante Tempo ausreicht, um die Bundeswehr in den nächsten fünf Jahren auf die gewünschte Größe zu bringen. Hans-Peter Bartels, Präsident der Gesellschaft für Sicherheitspolitik, hält das Modell des Auswahlwehrdienstes für unzureichend. Er meint, die Bundeswehr müsse bei Bedarf alle tauglichen Männer eines Jahrgangs für sechs bis 23 Monate zum Wehrdienst verpflichten können.

    Warum wird immer wieder über die Wehrpflicht debattiert?

    In der Wehrpflicht-Debatte geht es vor allem um die Verteidigungsfähigkeit und Schlagkraft der Bundeswehr – und um die Frage, für welche Aufgaben Deutschland seine Armee braucht. Anlass der Diskussion ist vor allem der russische Angriff auf die Ukraine. Die Sorge, dass Deutschland in einen Krieg hineingezogen werden könnte, ist in der Bevölkerung seitdem groß. Vor diesem Hintergrund stellt sich auch die Frage nach dem Zustand der Bundeswehr. Verteidigungsminister Pistorius betont, das Land müsse "kriegstüchtig" werden.
    Klar ist: Die Truppe braucht mehr Personal und mehr Geld. Um sie besser auszustatten, hat die Bundesregierung ein Sondervermögen von 100 Milliarden Euro bereitgestellt, das mittlerweile komplett ausgegeben oder verplant wurde. Außerdem soll es dauerhaft einen höheren Verteidigungsetat geben, wie Bundeskanzler Scholz auf einer Bundeswehrtagung im November 2023 unterstrich.
    Grafik zur Personalstärke der Bundeswehr im Zeitverlauf.
    Personalstärke der Bundeswehr im Zeitverlauf. (dpa / dpa-infografik)
    Auch auf der Personal-Seite klaffen laut Bundeswehrverband Lücken – und eine mögliche Lösung für das Problem wäre, die Wehrpflicht wieder einzuführen. Doch noch gibt es dafür keine politischen Mehrheiten. Auf einer Bundeswehrtagung in Berlin lehnte Bundeskanzler Olaf Scholz Forderungen nach einer Rückkehr zur Wehrpflicht ab. Es sei "keine gute Idee", die 2011 beschlossene Aussetzung und die Umstrukturierung der Bundeswehr zur Berufsarmee "wieder rückabzuwickeln", betonte der Kanzler.

    Was spricht für die Wehrpflicht?

    Der Reservistenverband der Bundeswehr hält eine Wiedereinführung der Wehrpflicht für unumgänglich. Deutschland sei ohne Wehrpflicht nicht verteidigungsfähig, meint der Präsident des Verbands, Patrick Sensburg. Neben einer gut ausgebildeten und ausgestatteten Truppe brauche es eine ebenso gut ausgebildete und ausgestattete Reserve. Auch der Bundeswehrverband sieht die Notwendigkeit, mehr Personal zu gewinnen und zu binden. Sonst drohe die Einsatzbereitschaft "auf ein Maß zu sinken, das kaum zu verantworten wäre."
    Durch eine Wehrpflicht wäre die Bundeswehr auch stärker in der Gesellschaft verankert, argumentiert Marineinspekteur Jan Christian Kaack: "Ich glaube, dass eine Nation, die in diesen Zeiten resilienter werden muss, ein besseres Verständnis hat, wenn wir eine Durchmischung mit den Soldaten haben."
    Verteidigungsminister Pistorius hatte sich in der Vergangenheit ähnlich geäußert: "Früher saßen an jedem zweiten Küchentisch Wehrpflichtige. Auch dadurch gab es immer eine Verbindung zur Zivilgesellschaft", sagte er der "Süddeutschen Zeitung". Für CSU-Chef Markus Söder stärkt die Wehrpflicht "die Bindung junger Menschen an Staat und Gesellschaft".

    Was spricht gegen die Wehrpflicht?

    Eine Wiedereinführung der Wehrpflicht würde massiv in die Selbstbestimmung der davon Betroffenen eingreifen - in allen Parteien der Regierungskoalition gibt es deutlichen Widerspruch. So setzt sich SPD-Chef Lars Klingbeil dafür ein, bei der Rekrutierung weiterhin auf Freiwilligkeit zu setzen und die Bundeswehr dafür attraktiver zu machen.
    Drei Reihen von Soldaten eines Wachbataillons stehen auf grauem Pflaster.
    Wachbataillon der Bundeswehr. (IMAGO / IPON)
    Für den Ersten Parlamentarischen Geschäftsführer der FDP, Johannes Vogel, wäre die Rückkehr zur Wehrpflicht ein Hindernis "auf dem Weg zur Profi-Bundeswehr". Vogel greift damit ein zweites Argument gegen die Wehrpflicht auf: Zur effektiven Landesverteidigung sind Wehrpflichtige heute womöglich gar nicht mehr in der Lage.
    So argumentiert auch Florian Kling, Hauptmann der Reserve: Er hält Wehrpflichtige angesichts der Komplexität bei Ausrüstung, Material und Waffensystemen nicht mehr für geeignet, den Dienst an der Waffe zu verrichten. Kling spricht sich daher für eine Reform des Reservistensystems aus, das sich beispielsweise an der Schweiz orientieren könnte.
    Gegner der Wehrpflicht geben außerdem zu bedenken, dass eine Wiedereinführung umfangreich vorbereitet werden muss: Kasernen müssen neu gebaut oder erweitert werden, mehr Ausbilder und militärische Ausrüstung wären nötig. Um das System wieder in Gang zu setzen, werden demnach zweistellige Milliardenbeträge benötigt.
    Auch die Wehrbeauftragte Eva Högl hat sich gegen eine erneute Wehrpflicht ausgesprochen. "Die Aussetzung der Wehrpflicht in Deutschland wieder rückgängig zu machen, hilft überhaupt nicht. Wir haben nicht genügend Ausbilder und nicht genügend Infrastruktur dafür", sagt die SPD-Politikerin.

    Warum wurde die Wehrpflicht ehemals überhaupt ausgesetzt?

    Die Wehrpflicht erschien 2011 als ein Relikt vergangener Tage. Deutschland war von befreundeten Staaten umgeben, ein Verteidigungsfall nur noch schwer vorstellbar. Die damalige schwarz-gelbe Koalition unter Bundeskanzlerin Angela Merkel wollte sparen und zugleich die Bundeswehr professionalisieren. Eine große Zahl Soldaten schien nicht mehr gebraucht zu werden – stattdessen sollte es eine kleinere und auf Auslandseinsätze spezialisierte Armee geben. Zudem wurde ehemals nicht jeder wehrfähige junge Mann auch eingezogen, was zur Frage der Wehrgerechtigkeit führte.

    Ist das Konzept der Einsatzarmee gescheitert?

    Momentan ist die Bundeswehr unter anderem im Kosovo, Jordanien, Irak, Niger, Libanon, Südsudan und der Westsahara im Einsatz und in einigen anderen Ländern und im Mittelmeer auch noch auf Missionen unterwegs. Sie hat sich in vielen Auslandseinsätzen bewiesen.
    Bundeswehr auf UN-Mission in Mali, Patrouille im Dorf Bagoundje (2020).
    Bundeswehr auf UN-Mission in Mali, Patrouille im Dorf Bagoundje (2020). (imago images / Jörg Böthling)
    Doch ob sie auch die Bundesrepublik Deutschland im Ernstfall verteidigen kann, ist umstritten. Der frühere NATO-General Egon Ramms sagte auf eine entsprechende Frage im ZDF: „Kurze, klare Antwort: Nein.“ Und im Bundestag ist schon die "Munitionskrise" bei der Bundeswehr debattiert worden – laut Bundeswehrverband fehlen Patronen und Granaten im Wert von 20 bis 30 Milliarden Euro. Berichten zufolge würde die Munition im Kriegsfall nur wenige Tage reichen.

    Sind die Deutschen bereit, selbst eine Waffe in die Hand zu nehmen?

    Im Falle eines militärischen Angriffs auf Deutschland würden sich laut einer Umfrage nur rund fünf Prozent der Bundesbürger zum Kriegsdienst melden. Jeder Zehnte wäre zumindest darauf eingestellt, das Land mit der Waffe in der Hand zu verteidigen. Laut der YouGov-Erhebung im Auftrag der dpa will fast jeder vierte Deutsche im Kriegsfall so schnell wie möglich das Land verlassen.
    Auch andere Zahlen belegen eine große Zurückhaltung bei der Bereitschaft zur Teilnahme an militärischen Einsätzen. Die Zahl der Kriegsdienstverweigerer in der Bundeswehr ist seit dem Angriff auf die Ukraine sprunghaft angestiegen. Die Politik diskutiert aktuell, ob sich die Bundesrepublik ein Beispiel am Modell Schweden nehmen sollte. Dort werden alle 18-jährigen Frauen und Männer angeschrieben - aber nur ein Teil von ihnen wird gemustert und fürs Militär in Betracht gezogen.
    ahe