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Weibliches Leid weltweit

Jahrelang haben die Autoren haben in Asien, Lateinamerika und Afrika die Lebenswirklichkeiten von Frauen recherchiert und Erschütterndes zu Tage gebracht: Sexuelle Versklavung und ungenügende medizinische Versorgung sind heute Alltag vieler Millionen von Frauen.

Von Simone Hamm |
    Millionen von Frauen und Mädchen leben heute noch in Sklaverei. Im beginnenden 21. Jahrhundert werden Jahr für Jahr weit mehr Frauen und Mädchen in Bordelle verschifft, als im 18. oder 19. Jahrhundert Afrikaner auf Sklavenplantagen. Mit dieser These beginnen Nicholas D. Kristof und Sheryl WuDunn ihr Aufsehen erregendes Buch: "Die Hälfte des Himmels. Wie Frauen weltweit für eine bessere Zukunft kämpfen."

    "Die Frauen stützen die Hälfte des Himmels" lautet ein altes chinesisches Sprichwort, und Mao Zedong hat gesagt, den Frauen gehöre die Hälfte des Himmels. Die Wirklichkeit sieht anders aus. Noch.

    So wie heute niemand mehr das Verschleppen und Versklaven von Menschen aus Afrika befürworten wird, so wird eines Tages niemand mehr verstehen können, dass die Weltöffentlichkeit von unfassbarem Leid gewusst hat, ohne es zu beenden. Davon sind von WuDunn und Kristof überzeugt.

    Das Leid, das sie beschreiben, ist weibliches Leid. Weibliche Babys werden getötet, weibliche Föten abgetrieben. Minderjährige Mädchen werden zwangsverheiratet, werden gegen ihren Willen in Bordellen gehalten. Massenvergewaltigungen sind längst zur Strategie in afrikanischen Bürgerkriegen geworden. In Indien und Pakistan werden Bräute verbrannt oder mit Säure überschüttet. Abertausende von afrikanischen Frauen krümmen sich nach schweren Geburten vor Schmerzen, hinter Bretterverschlägen auf Lehmböden, bevor sie sterben. Ohne jede ärztliche Hilfe.

    Die Reporter und Pulitzerpreisträger Sheryl WuDunn und Nicholas D. Kristof, das sei hier ausdrücklich angemerkt, gehen sehr vorsichtig mit Zahlen um. Drei Millionen Frauen und Mädchen weltweit - und das ist die niedrigste Schätzung - arbeiten gegen ihren Willen im Sexgeschäft.

    Die Weltgesundheitsorganisation WHO schätzt, dass weltweit in jedem Jahr über eine halbe Million Frauen an Schwangerschafts-, und Geburtskomplikationen sterben.
    In Sierra Leone sterben von einhunderttausend Frauen während der Geburt 2100.(Zum Vergleich: in Irland stirbt eine von einhunderttausend Frauen unter der Geburt.)Das Sterberisiko für eine werdende Mutter südlich der Sahara liegt bei eins zu 22.

    Was ihr Buch so lesenswert macht, sind natürlich nicht die dürren Zahlen, sondern die vielen Frauen, die WuDunn und Kristof vorstellen, die sie kennengelernt haben in Afrika, Asien oder Lateinamerika, Frauen, die ein grausames Schicksal hatten. Frauen, deren Geschichten WuDunn und Kristof nüchtern und frei von jedem Pathos erzählen. Denn ihre Schicksale, ihre Lebensgeschichten sprechen für sich.

    Usha Narayane aus Indien ist eine Unberührbare aus einem Slum bei Nagpur, die sich mit einer Bande junger Männer anlegte, die marodierend und vergewaltigend durch ihr Viertel zog. Srey Rath aus Kambodscha wurde als 15-Jährige nach Thailand gelockt und dort zur Prostitution gezwungen. Muktar Mai aus Pakistan wurde als junges Mädchen von mehreren Männern brutal vergewaltigt und hätte sich, hätte sie sich an die Gebräuche ihres Dorfes gehalten, das Leben nehmen müssen. Mahabouba aus Äthiopien konnte nach einer Totgeburt kaum mehr laufen. Man wollte sie den wilden Tieren zum Fraß vorwerfen. Edna aus Somalia wurden die Genitalien verstümmelt.

    Aber Sheryl WuDunn und Nicholas D. Kristof erzählen nicht nur von einem Grauen, das in vielen Ländern so alltäglich geworden ist, das kaum mehr jemand darüber spricht, sondern auch von der Hoffnung. Und Hoffnung, das heißt vor allem: Bildung.

    Heute organisiert Ushda Narayane Gemeinschaftsprojekte in ihrem Slumviertel. Srey Rath hat eine Lehre in einem Kosmetiksalon in Phnom Penh gemacht, Muktar Mai hat mehrere Schulen im ländlichen Pakistan gegründet. Mahabouba ist heute in der Klinik in Äthiopien, in der man sie operierte und in der sie wieder laufen lernte, Krankenschwester. Edna leitet eine Geburtsklinik in Somalia.

    Sie haben lesen und schreiben gelernt, eine Schule besucht, eine Lehre abgeschlossen. Irgendwann wurde den Eltern klar, wie wichtig es ist, auch Mädchen lernen zu lassen.

    Nicht jede Geschichte ist eine Erfolgsgeschichte. WuDunn und Kristof sind dabei, als junge Frau in Kamerun stirbt, weil der Arzt, der sie dringend hätte operieren müssen, sich durch den Hinterausgang davongestohlen hat. Allzu oft erfahren sie, das kluge Mädchen von der Schule abgemeldet und zwangsverheiratet werden.

    Sheryl WuDunn und Nicholas D. Kristof zeigen den Weg auf zu einer besseren Zukunft: Die Megaentwicklungshilfeprojekte der vergangenen Jahre haben das Leben der Frauen weder sicherer noch besser gemacht. Kleine Dorfprojekte, geleitet von Frauen vor Ort, können viel mehr verändern. Mikrokredite, an Frauen gezahlt, lassen sie unabhängig werden und selbstständig sein. Manches dauere seine Zeit, von heute auf morgen wird die Zwangsverstümmelung kleiner Mädchen sicher nicht aufhören.

    Prostitution wird es immer geben. Aber der Zwangsprostitution, der Sklaverei des 21. Jahrhunderts, könnte ein Riegel vorgeschoben werden.

    Sheryl WuDunn und Nicholas D. Kristof werden nicht müde zu betonen, dass jeder dazu beitragen könne, das Leben der Frauen würdiger und besser zu machen. Jeder könne eine kleine Organisation unterstützen. Adressen finden sich im Appendix.

    Nicholas D. Kristof/ Sheryl WuDunn: "Die Hälfte des Himmels.
    Wie Frauen weltweit für eine bessere Zukunft kämpfen."
    Aus dem Englischen von Karl Heinz Siber. Mit einem Vorwort von Margot Käsmann. C.H. Beck, 360 Seiten, 19,95 Euro.