Ein Glühweinstand in Friedrichshafen am Bodensee: Erdal blickt auf eine Krippe mit lebenden Tieren. Er stammt aus der Türkei, ist Muslim. Weihnachten?
"Für mich spielt das keine Rolle: Ich gehe halt auf den Weihnachtsmarkt, trinke meinen Wein und fertig."
Allerdings: So ganz kann und will sich Erdal dem Treiben rund um Weihnachten dann doch nicht entziehen. So hat auch er Geschenke eingekauft.
"Ja, für den Sohn und so, für Familienangehörige. Mein Sohn kommt immer am zweiten Feiertag zu mir. Und am ersten bin ich bei der Freundin, bei der Familie halt. Man isst, redet halt, eigentlich so, wie es bei den Christen üblich ist.
Und so ist Erdal ein Beispiel dafür, wie Weihnachten auch Angehörige anderer Religionen einbindet. Monique Scheer, Direktorin des Tübinger Ludwig-Uhland-Institutes für Empirische Kulturwissenschaft, stellt dazu fest,
"Dass wir einerseits an Weihnachten sehen, dass das Fest wahnsinnig inklusiv ist: Alle können irgendwo andocken. Andererseits kann das auch zu einem Druck werden, Weihnachten mitfeiern zu müssen um zu zeigen, dass man integriert sei."
Spannungsfeld zwischen Integration und Abgrenzung
Damit steht "Weihnachten in der multikulturellen Stadt", so der Titel einer Tagung an der Universität Tübingen, im Spannungsfeld zwischen Integration und Abgrenzung. Unter welchen Umständen findet Integration statt, und ab wann wirkt Weihnachten ausgrenzend? Dabei erscheint der Kulturwissenschaftlerin Monique Scheer ein Aspekt besonders wichtig:
"Weihnachten ist zwar ein christliches Fest. Aber es ist auch ein kulturell geprägtes Fest. Man könnte sogar vielleicht die Behauptung aufstellen: Weihnachten ist eher ein kulturelles Fest als ein religiöses."
Neben den religiösen Elementen besteht Weihnachten aus einer Fülle von weltlichen Traditionen und Bräuchen: Weihnachtsmärkte gehören dazu, das Weihnachtsgebäck, Weihnachtsfeiern im Betrieb, Weihnachtsmusik im Radio, im Fernsehen und im öffentlichen Raum, bei der religiöse Inhalte oftmals keine Rolle mehr spielen. Diese Traditionen sind aus Sicht der Kulturwissenschaftlerin auch ein Angebot an Nicht-Christen, im Weihnachtstreiben mitzumachen, ohne die eigene Religion aufs Spiel zu setzen. Hinzu kommt die Kommerzialisierung von Weihnachten. Gerade die stecke auch Angehörige anderer Glaubensrichtungen an, sagt Monique Scheer:
"Vieles läuft auch über die kulturelle Schiene, dass die Kinder, nachhause kommen und sagen: Alle feiern Weihnachten – ich will auch Geschenke haben – und die Familien dann in die Situation kommen und sagen und überlegen müssen: Wollen wir da mitmachen – oder wollen wir nicht? Und so steht auch eine höchst individuelle Umsetzung von Weihnachten in nicht-christlichen Familien an."
Dabei seien sich viele Muslime, Hindus und Buddhisten gar nicht ihrer "individuellen Umsetzung von Weihnachten" bewusst. Sophie Reimers, Kulturwissenschaftlerin an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt an der Oder, hat über zwei Jahre hinweg eine muslimische Familie in Berlin begleitet. Die gab zunächst vor, Weihnachten vollständig zu ignorieren.
"Dann kam natürlich auch raus, dass es so ganz schwarz-weiß wohl nicht ist, dass sie schon auch diese Stimmung genießen und die Kinder in der Schule und im Kindergarten an den jeweiligen Festen auch teilnehmen, aber dass sie selber eben die Grenze gezogen haben, dass sie im Privaten das Fest nicht feiern, weil sie sagen: Wir sind keine Christen."
Wenn aus "Weihnachten" ein "Winterfest" wird
Und auf diese Weise arrangierten sich viele Nicht-Christen mit den Traditionen eines urchristlichen Festes, fänden dadurch sogar Zugang zur christlich dominierten Gemeinschaft. Anders sei es immer dann, wenn die Nicht-Christen in der Mehrheit sind. Kulturwissenschaftlerin Monique Scheer nennt das Beispiel eines Kindergartens mit überwiegend muslimischen Kindern. Dem haben die Kindergartenträger Rechnung getragen – durch eine Art "Entweihnachtung" von Weihnachten.
"Und die kommen dann auf die Idee, dass zum Beispiel Winterfest oder Lichterfest zu nennen. Und das ist ein Beispiel dafür, wie an diesem Fest genau diese Spannungsfelder in der Gesellschaft auf den Tisch kommen und ausgehandelt werden müssen."
Denn wo aus "Weihnachten" ein "Winterfest" wird, bleiben Proteste aus der christlich geprägten Mehrheitsgesellschaft nicht aus.
"In diesem Fall ging es um Proteste dagegen, dass man das nicht tun soll: Wir sind in Deutschland, es ist nun mal Weihnachten und so weiter."
Wie weit darf Integration im Umfeld von Weihnachten gehen? Und wo sind die Grenzen? Für Kulturwissenschaftlerin Monique Scheer wäre gerade das Weihnachtsfest der ideale Zeitpunkt für einen offenen Diskurs:
"Weihnachten ist ein Fest, an dem wir nicht nur aufgerufen werden, großherzig zu sein. Sondern wir sind auch aufgefordert, darüber nachzudenken, in welcher Gesellschaft wir leben und leben wollen – und die Gelegenheit ergreifen, dafür auch etwas zu tun anlässlich des Festes."