Uwe Wolff ist 1954 in Münster geboren. Er hat evangelische Theologie studiert - auch Philosophie unter anderem bei Hans Blumenberg. Er ist Kulturwissenschaftler. Seit 30 Jahren beschäftigt er sich mit Engeln. Er lebt in Bad Salzdetfurth bei Hildesheim und bezeichnet sich selbst als Engelforscher.
"Selbst im Tod ist der Schutzengel Gottes gegenwärtig"
Andreas Main: Herr Wolff, heute am Weihnachtsfest frage ich Sie zunächst: Welche Rolle spielen die Engel in der Passion? Oder anders: Was machen Engel mit dem jüdischen Wanderprediger, der seine Hinrichtung kommen sieht und der allein zwischen Büschen und Olivenbäumen hockt?
Uwe Wolff: Eine wunderbare Frage! Weil sie das ganze Thema auf den Punkt bringt. Das ist ja so verkitscht - gerade an Weihnachten: Engel aus Watte und aus allem Möglichen hergestellt.
Die Engel haben etwas zu tun mit unserem gesamten Leben, eben auch mit der Passion. Wenn wir von Weihnachten aus weiterschauen, das Kind, das Weihnachten geboren wurde, wird ja sterben. Und dann gibt es so eine Schlüsselszene vom Tod Jesu. Er geht in den Garten Gethsemane kurz vor der Kreuzigung und er hat Angst. Und er betet. Und er sagt zu Gott dem Vater: "Lass diesen Kelch des Schmerzes, des Todes, des Leidens an mir vorübergehen!"
Aber der Kelch, den wird er austrinken müssen. Und jetzt kommt das Entscheidende: Das eine ist die Passion, das Leiden, das uns Menschen einfach zuteilwird, weil wir endliche Wesen sind. Das andere ist der Engel. Denn in diesem Garten Gethsemane heißt es dann: Da kam ein Engel zu Jesus und stärkte ihn. Er kam nicht und hat gesagt: "Na ja, gut, die Krankheit, die zaubern wir jetzt mal weg. Wir zaubern den Tod weg." Nein, das Leiden gehört zum Leben dazu, auch zum Leben Jesu. Aber das Leiden bewältigt Jesus - und auch wir - nicht alleine.
Der Engel ist mit dabei. Das ist der Kern eigentlich des ganzen Engelglaubens. Und, weil das so ist, sollen Menschen ja auch keine Angst vor dem Tod haben. Das ist ja sozusagen das Zentrum der christlichen Botschaft, was wir an Weihnachten feiern. Wir feiern das Licht, weil wir keine Angst mehr vor dem Tod haben müssen. Denn selbst im Tod ist der Engel, der Schutzengel Gottes, noch gegenwärtig.
"Engel sind Boten der unsichtbaren Welt"
Main: Also, Weihnachten, Karfreitag und Ostern hängen theologisch zusammen, auch "angelologisch". Das Neue Testament ist eine Sammlung von Glaubensbüchern. Könnte man sagen, dass die Autoren – wer weiß, vielleicht waren auch Autorinnen dabei -, dass die immer dann Engel ins Spiel bringen, wenn sie sagen wollen, diese Welt hier und die jenseitige Welt berühren sich?
Wolff: Genau das ist der Punkt. Engel sind ja Mittler. Angelos, das griechische Wort, oder Angelus im Lateinischen, bedeutet Bote, Mittler zwischen der sichtbaren und der unsichtbaren Welt. Das haben wir heute vergessen. Wir konzentrieren uns ja ganz auf das Leben in der sichtbaren Welt.
Es heißt ja auch in den Glaubensbekenntnissen der Kirche: Gott ist der Schöpfer der sichtbaren und der unsichtbaren Welt. Die Engel kommen aus der unsichtbaren Welt, in die wir ja auch hineingehen nach unserem Tod. Und sie sind Boten eben sozusagen dessen, was wir nicht sehen können, aber was doch in uns wirkt, nämlich des Himmels. Und immer dann, wenn Krisen im menschlichen Leben sind oder große Übergänge – Geburt, Hochzeit, Feier, Erwachsenwerden, die großen Rituale des Übergangs – immer dann sind Engel gegenwärtig.
"Engelworte öffnen den Himmel"
Main: Jetzt konzentrieren wir uns kurz auf Weihnachten. Bitte versuchen Sie doch mal möglichst nachrichtlich zu fassen, welche Rolle die Engel spielen vor und nach der Geburt dieses Kindes, dessen jüdische Mutter Miriam hieß und die im heute israelischen Ort Nazareth lebte.
Wolff: Ja, die Engel kündigen die Geburt Jesu an. Und sie kommen in Gestalt des Engels Gabriel zu Maria. Gabriel kündigt die Geburt des Kindes an. Dann findet diese Geburt statt, die wir ja an Weihnachten feiern. Und dann, so heißt es in der Bibel, im Lukasevangelium, dann ist da plötzlich die Menge der himmlischen Heerscharen. Also, das ganze Heer, die ganze Fülle von Gottes Engeln ist da und sie bringen die Hirten mit. Das heißt, sie bringen Menschen zur Krippe. Und jetzt kommt das Entscheidende. Diese Engel singen ein Lied, nämlich "Ehre sei Gott in der Höhe". Und an diesem Lied kann man sich jetzt theologisch verdeutlichen, was eigentlich Engelworte sind.
Engelworte öffnen den Himmel, öffnen den Lobpreis, öffnen das Herz des Menschen für Gott. Denn dieses "Gloria, Ehre sei Gott in der Höhe", "Allein Gott in der Höhe sei Ehr" - das wird ja im evangelischen wie katholischen Gottesdienst jeden Sonntag gesungen. Übrigens auch ein anderer heiliger Engelgesang, der bei Jesaja steht, nämlich das Sanctus "Heilig, heilig ist Gott, der Herr Zebaoth". Und noch ein drittes geht von Weihnachten her direkt in die Praxis der Kirche, der sogenannte Engel des Herrn, den die Katholiken beten im Kontext zum Beispiel des Rosenkranzes. Der Engel des Herrn kam zu Maria und sagte: "Gegrüßet seist du, Maria, voll der Gnaden."
Wir sind hier in einem hochtheologischen Gebiet, was poetisch, bildlich, dichterisch von Lukas formuliert wird. Das ist anheimelnd. Das tut der Seele gut. Und zugleich hat es eine ganz tiefe, tiefe Hintergrundstrahlung, die die ganze Frömmigkeit der Kirche seit zwei Jahrtausenden beeinflusst hat.
"Den Gesang nicht vergessen"
Main: Herr Wolff, Sie haben das Gloria angesprochen. Dann gibt es noch ein ganz spezielles Kirchenlied: Gloria in Excelsis Deo - Engel auf den Feldern singen. Es ist gerade schwierig, gemeinschaftlich zu singen. Wie kann man diese Freude in solchen Kirchenliedern zum Ausdruck bringen in Corona-Krisenzeiten?
Wolff: Ja, das ist ja das große Problem, dass wir auf der einen Seite Leben schützen müssen. Und deshalb tragen wir ja Masken. Deshalb schweigen wir auch und summen nur noch in den Kirchen. Und andererseits das ganze Engelthema, gerade mit Weihnachten verbunden, drängt ja da auf Ausdruck, auf Gesang, auf Musik. Eben Gloria in Excelsis Deo – Ehre sei Gott in der Höhe. Das übersteigt uns und soll ja auch unsere Seele übersteigen. Das soll uns auch alle Angst vor Ansteckung, vor übertriebener Furcht nehmen.
Es ist wichtig, gerade in diesen Zeiten, den Gesang nicht zu vergessen. In Verantwortung vor der Krise. Das Singen ist deshalb wichtig, weil es ja sozusagen jenseits der Vernunft ist. Der Glaube ist vernünftig und man kann über den Glauben nachdenken. Aber er steigt doch weit über alles, was wir verstehen, hinaus. Und er will uns ja auch erheben in die Mitte Gottes. Und die Mitte Gottes ist nicht das Nachdenken, ist nicht die schlaue Theologie, sondern es ist der Hymnus, der Lobpreis, das Gloria in Excelsis Deo.
"Engel haben auch keine Berührungsängste"
Main: Tragen Engel Maske?
Wolff: Engel tragen keine Maske – ganz eindeutig. Wir tragen Masken. Mir ist aufgefallen, dass es auf dem Markt ganz viele Engelmasken gibt, also diese Mund-Nasen-Schutzmasken mit Engelmotiven. Die schönsten mit der Sixtina zum Beispiel und den Putten von Raffael, die sind schon ausverkauft. Also, wir tragen Masken, weil wir atmen. Aber der Engel kommt aus einer anderen Welt. Er atmet natürlich die Liebe Gottes, bildhaft gesprochen, aber er atmet nicht mehr durch die Lunge wie wir. Deshalb brauchen Engel keine Masken.
Engel haben auch überhaupt keine Berührungsängste. Der Engel ist sozusagen die Gegenwelt zu dieser Corona-Zeit. Wir sollen und dürfen uns ja nicht berühren, oder wenn, dann ganz vorsichtig nur im familiären Kreis. Der Engel hat keine Angst vor Berührung. Er nimmt einen bildhaft gesprochen in den Arm. Er hält unsere Hand. Er hat keine Angst in die Altenheime zu gehen. Er hat keine Angst zu den Kranken zu gehen. Das gilt übrigens ja auch für Jesus.
Jesus hatte auch keine Berührungsängste gehabt gegenüber den Kranken, den Aussätzigen. Oder denken Sie an den heiligen Franz von Assisi, der mit einem Leprakranken aus einer Schüssel gegessen hat. Also, die religiöse Welt sprengt sozusagen auch immer wieder alle aus medizinischer Sicht natürlich notwendigen Vorsichtsmaßnahmen und sagt: Ja, das ist alles richtig. Es gibt die Für- und die Vorsorge und es gibt die Vernunft. Und die hat auch klare Gebote. Aber es gibt etwas Anderes. Es ist das Leben aus dem Glauben.
Es gibt etwas, was wichtiger ist als alle Gesundheit. Das ist der Frieden der Seele mit Gott. Und davon spricht Weihnachten eigentlich. Frieden auf Erden. Das ist nicht nur eine politische Vision, sondern vor allen Dingen ist es eine religiöse, eine seelische Botschaft, nämlich: Das Wichtigste, was der Mensch braucht, ist der Frieden mit Gott.
"Engel sind unsichtbare Gegenwart"
Main: Nun haben wir sicherlich ganz viele Hörerinnen und Hörer, die sich als religiös unmusikalisch bezeichnen würden. Und deswegen ist meine nächste Frage womöglich für sie eine Zumutung. Ich stelle sie trotzdem. Wie heißt der Engel, der Sie durch die Pandemie begleitet?
Wolff: Das sind die Schutzengel. Es gibt ja ganz verschiedene Engel, die namentlich bekannt sind. Gabriel, Michael, Raphael. Und diese Engelnamen enden ja alle auf der Silbe El. El bedeutet Gott. Das heißt, sie sind Boten Gottes und bringen immer einen bestimmten Aspekt der Liebe Gottes zur Sprache. Und dann gibt es diese vielen, vielen namenlosen Schutzengel, die jeden Menschen, nicht nur den Getauften, nicht nur den kirchlich gebundenen, sondern jeden Menschen begleiten – durch das ganze Leben, durch alle Phasen des Lebens. Und den Namen braucht man nicht zu kennen. Es gibt Menschen, die legen sehr viel Wert drauf, also die zum Beispiel in der esoterischen Szene sind. Die channeln mit Engeln und versuchen den Namen des Engels herauszufinden. Das muss man alles gar nicht.
Der Engel geht ins Namenlose, also ins Geheimnisvolle, aber er ist immer da. Er ist da, gerade in den Ritualen, die wir ja an Weihnachten pflegen. Das Leben in der Familie, die Stille, der Glanz, der Kerzenschein, der Gesang, die Innigkeit, vielleicht sogar am allerwichtigsten: das gemeinsame Schweigen, die Ruhe. An all diesen Momenten da ist der Engel gegenwärtig. Er ist sozusagen unsichtbare Gegenwart. Und dieses Unsichtbare, was aufbauend ist, also für den Menschen, für die Seele, das bedarf keines Namens. Aber, wenn jemand also seinem Engel einen Namen geben möchte, soll er das gerne tun.
"Engel helfen in dieser Corona-Zeit"
Main: Ich frage jetzt mal ganz bewusst dümmlich, zynisch. Dieser Schutzengel, der Sie in der COVID-19-Pandemie begleitet, ist der in der Lage, dieses kleine unsichtbare Virus von Ihnen fernzuhalten?
Wolff: Ja, das ist er. Ich weiß, dass ich da etwas sage, wo unsere Zuhörenden sagen: Na ja, jetzt sagt er aber etwas, da sollte er lieber schweigen. Natürlich glaube ich nicht an Zauberei. Die Welt der Viren ist eine von Ärzten und Naturwissenschaftlern erklärte Welt. Sie gehört mit zum Leben. Zum Leben gehören Viren dazu, gehört Gefährdung, gehört der Altersprozess, das Sterben und der Tod und Unfälle. Und das hat erst mal mit Engeln und Glauben gar nichts zu tun.
Aber – und das ist jetzt das Entscheidende und das hat mir gefehlt auch in den ganzen letzten Corona-Monaten – es gibt doch so etwas wie die Kraft der positiven Gedanken - jetzt nicht religiös formuliert. Oder die Kraft des Glaubens an Jesus Christus – christlich formuliert. Aber auch die Moslems und die Juden glauben ja an die Wirklichkeit der Engel.
Es gibt eine innere Kraft, eine innere Stärke. Und die ist gerade in solchen Momenten der Pandemie äußerst wichtig. Warum? Weil sie nicht den Virus wegzaubert. Aber die Frage ist ja auch: Warum bekommt der eine Mensch den Virus, der andere nicht? Und die Fragen treten auch auf im Zusammenhang mit anderen schweren Erkrankungen, wie Krebs zum Beispiel oder Schlaganfällen, Herzinfarkten. Man kann da keine Lehre und keine Wissenschaft draus machen. Aber man kann doch sagen, wir können etwas tun mit unseren Schutzengeln zusammen, indem wir uns nicht immer nur fixieren auf Zahlen und Krankheitsdaten, indem wir nicht immer nur über Corona reden, sondern auch über das andere, was ja gleichzeitig da ist: der Glaube, die Liebe, die Zuversicht. Und dafür sind Engel da. Also, Engel helfen in dieser Corona-Zeit. Wir brauchen sie dringender denn je.
"Wo das Leben an die Grenze kommt, ist auch der Engel"
Main: Ich bleibe jetzt in der Rolle des Advocatus Diaboli, als Anwalt des Teufels, aber auch als Anwalt der Hörerinnen und Hörer und frage Sie: Wo halten sich Engel auf Intensivstationen oder in Hospizen versteckt, wenn Menschen in diesen Tagen, auch an Weihnachten, in großer Zahl sterben, intubiert, keine Luft bekommend, sich seit Wochen mit Covid-19 plagend, wo halten sich die Engel dort versteckt?
Wolff: Ja, wir denken ja immer, wenn einer auf der Intensivstation lebt in all diesen Schrecknissen, dann kann es da keinen Engel geben. Sozusagen die Krankheit sei der Beweis dafür, dass es Gott und die Engel nicht gibt. Nein, wir haben ja angefangen mit der Szene aus dem Garten Gethsemane. Christus leidet. Christus wird sterben. Und gerade da ist der Engel.
Die Zuversicht, die Menschen haben, die an den Engel glauben, also an Gottes Beistand glauben, hört doch nicht auf der Intensivstation auf. Und wir wissen nicht, wie viel innere Welt, wie viel innere Erfahrung von Gottes Nähe gerade in diesen schrecklichen Grenzsituationen gemacht werden.
Nehmen wir mal das berühmteste aller Engellieder, was wir in beiden Kirchen singen, von Dietrich Bonhoeffer nämlich "Von guten Mächten wunderbar geborgen". Das hat er ja gedichtet im Konzentrationslager, als er gar keine Chance mehr sehen konnte. Gerade da, wo das Leben an die Grenze kommt, da ist auch das Rettende. Da ist auch der Engel. Das kann man nicht beweisen. Das kann man bezeugen, indem man eben nicht vor den Türen der Altenheime stehenbleibt, sondern indem man da hineingeht.
Lernen aus der Coronakrise
Main: "Von guten Mächten wunderbar geborgen erwarten wir getrost, was kommen mag", zitieren Sie. Ich zitiere jemand, die mir nahesteht und die ich als gläubige Katholikin bezeichnen würde und die nach einem sehr schlimmen Unfall sagte: ‚Da hat mein Schutzengel wohl ein Nickerchen gemacht.‘
Wolff: Natürlich gibt es auch die Erfahrung: Da war der Engel nicht. Und das muss man auch so stehenlassen. Das kann man auch nicht schönreden. Sondern das gehört mit zu den tiefen Erfahrungen des Lebens. Die Theologen, die Mystiker – ich denke jetzt an Johannes vom Kreuz oder Teresa von Ávila, also die spanische Mystik. Sie sprechen von der Nacht Gottes, von der Nacht Gottes, von der Gottesferne.
Wir dürfen und müssen lernen, gerade auch an Weihnachten, dass das Leben ja nicht immer nur auf so einem hohen Level läuft. Sondern es gehört die Erfahrung der Nacht, der Antwortlosigkeit, der Ratlosigkeit dazu. Ich glaube, dass wir gerade auch in dieser Coronakrise das wieder lernen müssen. Wir können nicht immer alles retten. Wir können nicht alles inkludieren. Wir können nicht alles integrieren. Der Schmerz, der Tod, das Namenlose, das, was uns verstummen lässt, das gehört mit zum Leben. Aber – jetzt sind wir wieder bei Weihnachten und dem Licht – inmitten dieser Erfahrung von Dunkelheit gibt es auch das Wunder des Lichtes.
Main: Jetzt mal mit Blick auf andere Religionen, die heute nicht Weihnachten feiern, da muss man sagen – und Sie haben es auch schon angedeutet – Engel sind dort wichtig. Beginnen wir mit den älteren Geschwistern der Christen. Wie wichtig ist im Judentum der Engel?
Wolff: Ja, das Judentum hat uns ja die Engel geschenkt. Das merkt man an den Namen schon, die Engelnamen. Ich habe sie schon mal zitiert – Gabriel, Michael, Raphael. Das sind die berühmtesten. Es gibt tausend andere Namen im Judentum verzeichnet. Diese Engelnamen sind alle hebräischen Ursprungs. Also, Michael zum Beispiel bedeutet: Wer ist gleich Gott?
Die großen jüdischen Geschichten im Alten Testament erzählen ja immer wieder von Engeln. Der Engel zum Beispiel mit dem flammenden Schwert, der das Paradies schützt, als Adam und Eva vertrieben werden. Oder eine der berühmtesten Engelgeschichten der Welt überhaupt: die drei Engel, die zu Abraham und Sara kommen und – auch hier wieder eine Geburtsgeschichte – die Geburt des langersehnten Sohnes ankündigen.
Dann verdanken wir dem Judentum die schönste aller Engelgeschichten, nämlich das Buch von dem Engel Raphael – Raphael bedeutet: Gott heilt – und dem Jungen Tobias. Das ist eine Geschichte vom Erwachsenwerden. Da wird erzählt, wie ein Junge eben einen Beruf erlernt, wie er seine Beziehung zu seinem Vater neu definiert. Und in dieser Geschichte läuft sozusagen unerkannt, als Engel unerkannt, der Raphael an Tobias‘ Seite. Und zwar nicht nur er, sondern das finde ich besonders schön, auch ein Hündchen. Das heißt also, der Engel ist, so will diese Geschichte bildhaft sagen, er ist sozusagen wie ein Hund, nämlich treu. Er ist immer dann bereit mitzugehen, wenn der Mensch ihn braucht.
"Die Engel verbinden die Religionen"
Main: Über die hebräische Bibel hinaus, wissen Sie als christlicher Theologe etwas darüber, welche Rolle Engel heute in jüdischer Volksfrömmigkeit spielen?
Wolff: Oh, ja, natürlich. Die Engel sind Erbe des Judentums. Ganz lebendige Gegenwart in den Ritualen des Judentums bis auf den heutigen Tag. Ich möchte nur ein Beispiel nennen, was unmittelbar einleuchtet. Das ist die hohe Bedeutung, die der freie Tag, der Feiertag im Judentum hat, nämlich der Schabbat, der Sabbat. Und, wenn es zur Sabbatfeier kommt, dann singt die Hausgemeinde ein Engellied. Dieses "Shalom Aleichem", also "Frieden euch allen, ihr Engel des Friedens".
Der Engel ist ganz Teil der gelebten Alltagskultur bei den Juden wie auch bei den Muslimen. Da spielen sie eine ganz große Rolle. Und wir suchen ja auch nach dem Gemeinsamen der Religion, nicht nur der Konfession, auch der Religion. Dieser Gabriel, der aus dem Judentum kommt, der die Geburt Jesu im Christentum ankündigt, dieser Gabriel – arabisch Jabril – er kommt in die Höhle von Hira. Dort ist Mohammed. Er befindet sich in einer Lebenskrise. Und dort beruft er diesen Propheten Mohammed zum neuen Propheten einer neuen Religion.
Über die Engel gibt es so eine Kontinuität, etwas Verbindendes zwischen den Religionen. Das können wir gar nicht oft genug betonen, gerade an Weihnachten auch, dem großen Fest des Friedens. Engel sind Boten des Friedens. Keine dieser großen Religionen Islam, Judentum, Christentum hat je die Existenz des Engels infrage gestellt.
"Die Engel verbinden uns mit vielem"
Main: Also, dann könnte man sagen, dass dieses Weihnachten gerade auch in Corona-Zeiten die Chance bietet, die Engel als politische Botschaft zu verstehen?
Wolff: So ist es. Das ist die große Botschaft, die von Weihnachten ausgeht. Ein Impuls, den wir mit in das neue Jahr hineinnehmen müssen. Das kommt nicht von alleine. Der Frieden kommt nicht von alleine. Er kommt erst mal vom Himmel. Und er kommt von Gott. Aber er will ja in unserem Leben wirken. Und er will vor allen Dingen auch wirken in den Momenten, über die wir auch gesprochen haben, wo wir an die Grenze unseres Glaubens kommen, wo wir Erfahrungen von Schatten, von Nacht, von Dunkelheit machen. Es ist nicht alles schön. Und wir können nicht alles Leben retten. Wir werden immer wieder in Grenzsituationen kommen, in schmerzhafte Situationen, in Situationen also der Ohnmacht.
Dennoch: Dieser Impuls der Engel, dieses Licht, dieses Leben, die Liebe, die von den Engeln ausgehen, der soll uns begleiten. Der soll wirken in uns, und zwar über das Christentum hinaus in die große Aufgabe der Begegnung mit den Weltreligionen, auch hier in unserem eigenen Land, in Deutschland.
Was mir auch sehr wichtig ist: Unsere Nachbarn hier - das sind Jesiden. Jesiden, die aus dem Irak kommen, die dort vertrieben worden sind. Und die Jesiden glauben ja an den Engel Melek Taus. Das ist ja die einzige reine Engelreligion auf der Welt.
Die Engel verbinden uns mit so vielen. Und das finde ich so schön, so wichtig, dass von Weihnachten aus dieser Impuls von Licht, Leben und Liebe ausgeht, den Engel zu suchen, nicht nur zur Weihnachtszeit, sondern auch im ganzen kommenden Jahr, ja, im ganzen Leben.
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