Die Gefühlsleere weit weg von denjenigen, die man liebte, habe dazu geführt, dass fast an allen Ecken der Front - vom Ärmelkanal bis zur Schweizer Grenze - eine Verbrüderung stattgefunden habe. Die Deutschen begannen zu singen - und als dann beide Seiten entdeckten, dass die bis dahin tödliche Nähe von keiner Seite ausgenutzt wird, bewegten sich die Soldaten friedlich aufeinander zu.
Kleiner Frieden im Großen Krieg
Franzosen, Briten und Deutsche hätten sich in der Mitte der Front getroffen und einander in die Augen gesehen, so Jürgs, Autor des Buchs "Der kleine Frieden im Großen Krieg". Gemeinsam feierten sie Weihnachten mit den "Liebesgaben" der jeweiligen Heeresleitung, also Lebensmitteln und warmer Kleidung - und tauschten Wollmützen aus.
Die deutsche Heeresführung habe erst einmal nichts bemerkt und gehofft, die Liebesgaben würden die Bedürfnisse der Soldaten ausreichend befriedigen. Die englische Heeresleitung habe nichts unternommen, weil sich auch viele Offiziere am Weihnachtsfrieden beteiligten, erklärte Jürgs. Deutschen Soldaten wurde im Nachgang mit Kriegsgericht gedroht. Doch verurteilt wurde niemand. Die Drohung mit dem Kriegsgericht "hat nur leider bei einem nicht ganz gewirkt, den sie gerne nach vorne geschickt hätten, nämlich wenn geschossen wäre", sagte Jürg. "Das waren die Bayern in ihrem Infanterieregiment, ein gewisser Adolf Hitler sagte: Wieso schließen wir Frieden, lasst uns doch kämpfen, kämpfen, kämpfen! Da haben sie gesagt: Junge, geh nach hinten, halt's Maul! Anstatt zu sagen, geh nach vorne, wir sagen allen Bescheid, erschießen."
Das Interview mit Michael Jürgs in voller Länge:
Christiane Heuer: Michael Jürgs, früher Chefredakteur beim "Stern", heute Buchautor, hat den Weihnachtsfrieden von 1914 sehr eindrücklich beschrieben in seinem Buch "Der kleine Frieden im Großen Krieg". Er ist jetzt am Telefon, guten Morgen, Herr Jürgs!
Michael Jürgs: Guten Morgen, ich grüße Sie!
Heuer: Stimmt Weihnachten an sich friedlich?
Jürgs: Na ja, wenn man auf die Welt heute schaut, stimmt Weihnachten nicht friedlich und ich möchte auch nicht wissen, was in vielen Familien los ist. Aber in dieser Weihnachtsnacht, von der Sie gerade sprachen, schien es, als ob der liebe Gott, wenn man an den glaubt, auch die, die nicht an ihn glauben, mitgespielt hätte, denn das schlammige Niemandsland zwischen den Schützengräben, seit Wochen schlammig, wo man nicht auftreten konnte, wo die Leichen lagen, plötzlich war die Luft kalt, der Boden war gefroren, der Mond schien, man konnte aufrecht gehen und einander sehen. Und dann begann eigentlich dies, was man als kleines Wunder betrachten kann.
Heuer: Ja, bei Wundern ist es immer schwer, sie zu erklären. Versuchen Sie es trotzdem?
Jürgs: Ich glaube, es ist eine Gefühlsleere, dass man sagt, man sitzt im Schützengraben, weit weg von denen, die man liebt, nicht unter einem Christbaum die Deutschen, unterm Mistelzweig die Engländer, und man fühlt sich von Gott verlassen. Und da plötzlich fängt einer an zu singen. Und Sie wissen ja, dass die Musik etwas bewirkt im Menschen, egal welcher Rasse, welcher Religion, die etwas auslöst. Dann singen die erst "Adeste, Fideles" oder "Amazing Grace" oder "Stille Nacht, heilige Nacht", das waren ja die Deutschen, es waren die Deutschen!
Heuer: Die haben angefangen.
Jürgs: Die haben angefangen, das glaubt ja kein Mensch, dass Deutsche mal die Waffen niederlegen. Aber so war es. Und diese Musik, die über dieses seltsame Niemandsland hinwegtrug in die andere Seite, und die erleuchteten kleinen Tannenbäume und Kerzen, all das erzeugte eine Stimmung von: Frieden.
Heuer: 100.000 Soldaten sollen daran beteiligt gewesen sein. Wie muss man sich das vorstellen? Die ganze Front reicht sich die Hand?
Jürgs: So einfach ist es nicht, aber die Front ging ja vom Ärmelkanal bis zur Schweizer Grenze, die war viele Hundert Kilometer lang. In den Schützengräben konnte man zwischen Ärmelkanal und Schweiz laufen, ohne gesehen zu werden. Die waren ja da und die lagen nur 200 Meter voneinander entfernt. Aber als die Ersten begonnen haben und sie merkten, dass der andere sie nicht rauslockte, um sie zu erschießen, sondern sich in der Mitte traf, beobachtet von beiden Seiten ging es gut, ging es gut, merkten plötzlich alle, es geht gut. Und dann hat sich das – und diesen Begriff darf man jetzt verwenden – wie ein Lauffeuer durch die Schützengräben weitergetragen und dann hat in dieser Nacht an fast allen Ecken dieser Fronten – nicht an allen, an fast allen – eine Verbrüderung stattgefunden.
Heuer: Sie sagen, 200 Meter lagen diese Männer voneinander entfernt. Die räumliche Nähe, war das ein Grund, dass es dazu kommen konnte, dass es sozusagen auch damals einen kleinen Schritt für die Menschen, aber einen großen für die Menschheit gab?
Jürgs: Es war so, dass man sich bei 200 Meter in der Mitte leicht treffen konnte, ohne weite Wege zu gehen. Man konnte sich in der Mitte – noch einmal! – beleuchtet vom Mondlicht treffen und einander in die Augen sehen. Auch dieser Begriff ist wichtig, um zu sehen, stimmt das denn, was ich jetzt gerade empfinde, oder falsch empfinde? Und plötzlich – noch einmal! – kommt dazu, dass diese Nähe, die ja bisher tödlich war, sobald einer den Kopf hob, wurde er erschossen, Sie kennen ja das Ende des Films von Erich Maria Remarque "Im Westen nichts Neues", nach dem Buch, der 'rausragt, und dann zack, der Schmetterling, das ist ja symbolisch tief in allen drin, die sich je geweigert hätten oder weigern würden in Kriege zu ziehen. Dies ging damals alles nicht, sie wurden befohlen zu schießen, egal, wenn einer sich hochhebt. Und in diesem Moment, hoch erhoben, aufrechten Ganges, wurde nicht geschossen.
Heuer: Gab es Mentalitätsunterschiede, waren die Briten versöhnlicher als die Franzosen oder die Bayern versöhnlicher als die Preußen?
Jürgs: Die Preußen, die lassen wir jetzt mal außen vor, die waren nicht so ganz versöhnlich. Die Sachsen waren versöhnlich, die Bayern waren versöhnlich, die Franzosen hatten viel mehr Sorge vor ihren Offizieren, weil sie Angst hatten, von denen angeklagt zu werden. Aber es gibt in den Briefen der Poilus, die ich gelesen habe, damals auch unglaublich emotionale Geschichten an ihre Eltern geschrieben von jungen Soldaten, die diesen Weihnachtsfrieden erzählen und geschildert haben. Und als ich dieses Buch geschrieben habe, meine Mutter dies gelesen hat, die schrieb mir oder rief mich an und sagte, weißt du, in dem Wald, den du da gerade beschreibst, wo die Franzosen gesungen haben "Chrétiens, minuit, chrétiens" und plötzlich die Baden-Württemberger von der anderen Seite aus dem Wald gesungen haben "Stille Nacht" oder sich getroffen haben, in dem Regiment war dein Großvater!
Heuer: Ach, das ist ja ...
Jürgs: Das heißt, es ist eine persönliche Geschichte plötzlich geworden, nachdem ich sie geschrieben habe. Und jetzt kommen wir wieder zum hohen Politischen: Natürlich haben die über ihre Erfahrungen im Ersten Weltkrieg, der damals der Große Krieg hieß, denn kein Mensch konnte sich vorstellen, dass es je einen zweiten geben würde, diesen Großen Krieg ... Die zurückkamen, das Glück hatten, lebend zurückzukommen, wie zum Beispiel mein Großvater, die haben nie darüber gesprochen. Und diese Versteinerung der kaputten Soldaten, die also zurückgekehrt sind – die können Sie ja sehen bei Statuen von Käthe Kollwitz, die ihren Sohn da um Ypern verloren hat –, hat sicher mit dazu geführt, dass in der Sprachlosigkeit ein Schreihals wie Hitler und so eine Verbrecherbande an die Macht kommen konnte.
Heuer: Aber an Weihnachten 1914 wurde geredet. Wie hat eigentlich die Heeresführung darauf reagiert?
Jürgs: Die Heeresführung hat in der Etappe eigentlich erst mal gar nichts gemerkt. Sie haben ihren Champagner getrunken, ihren Kronprinzen hochleben lassen, ihren Kaiser hochleben, und dachten, na gut, die Liebesgaben, die wir an die Front haben schicken lassen, das reicht schon für die. Also, ein bisschen Wurst und eine Kerze und einen kleinen Tannenbaum, und ansonsten ... und warme Wollsocken. Die Engländer kriegten von ihrer Prinzessin ähnliche Liebesgaben, das war so üblich. Die englische Heeresführung, also deren höchste Offiziere, haben sehr wohl gewusst, was da los war. Haben aber, da auch viele Offiziere mitmachten, nichts unternommen. Und es erschien bald was in den Zeitungen in England. Und sobald eine Öffentlichkeit über ein solches, wenn Sie so wollen, kleines Wunder hergestellt wird, mit Fotos ... Es gibt ja Fotos, wie deutsche und französische und englische Soldaten gemeinsam in die Kamera gucken, Wollmützen austauschen, Fotos, Würste, Liebesgaben, rauchen, Zigaretten austauschen oder gar später Fußball spielen. Dann war Öffentlichkeit hergestellt. In Deutschland herrschte Zensur, es erschien nichts, und nach zwei, drei Tagen haben natürlich die aus der Heeresplanung verboten, weiterhin Frieden zu schließen. Auch da gibt es eine wunderbare Geschichte, dass die Sachsen ihren Gegnern oder Freunden, wenn Sie so wollen von den drei Tagen, Engländern gegenüber sagten, wir müssen jetzt schießen, aber macht euch keine Sorgen, wir schießen über den Kopf hinweg.
Heuer: Herr Jürgs, die Heeresführung hat den Deutschen ja gedroht. Womit denn genau?
Jürgs: Ja gut, Kriegsgericht hat sie gedroht, aber kein einziger deutscher Soldat ist vors Kriegsgericht gestellt worden. Das heißt, die Drohung, Kriegsgericht, oder dass man degradiert wird, die hat nur leider bei einem nicht ganz gewirkt, den sie gerne nach vorne geschickt hätten, nämlich wenn geschossen wäre, das waren die Bayern in ihrem Infanterieregiment, ein gewisser Adolf Hitler sagte: Wieso schließen wir Frieden, lasst uns doch kämpfen, kämpfen, kämpfen! Da haben sie gesagt: Junge, geh nach hinten, halt's Maul! Anstatt zu sagen, geh nach vorne, wir sagen allen Bescheid, erschießen.
Heuer: Das ist ein Ding, Herr Jürgs! Michael Jürgs, Buchautor von "Der kleine Frieden im Großem Krieg". Ich danke Ihnen für das Gespräch und ich wünsche auch Ihnen frohe Weihnachten!
Jürgs: Ich wünsche Ihnen auch Merry Christmas! Tschüss!
Heuer: Danke, tschüss!
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