"Ich glaube, er war wirklich ein extrem introvertierter unsicherer Mensch."
Daniel Grossmann, der Gründer und Leiter des Jewish Chamber Orchestra Munich, kennt die Musik von Mieczyslav Weinberg seit vielen Jahren: "Mir kommt es so vor, als sei er immer schon in meinem Leben gewesen."
Mieczyslaw Weinberg – wer sich mit ihm beschäftigt, muss ihn dem Vergessen entreißen. Ihn, der die einzige Oper über Auschwitz geschrieben hat: "Die Passagierin" war die Sensation der Bregenzer Festspiele 2010. Seitdem hat sich wenig getan. Weinberg ist zwar inzwischen auf CD gut dokumentiert, aber in den Konzertsälen und Opernhäusern findet er nicht statt. Acht Opern und Operetten hat er geschrieben, zehn Instrumentalkonzerte, viele Lieder, Klaviermusik, 17 Streichquartette – und 21 Sinfonien. Die 22. blieb unvollendet, da reichte die Kraft nicht mehr, mit 75. Zwei Jahre später, 1996, war er tot.
Waches Orchester, brilliante Solisten
Beim Weinberg-Festival in München erklingt seine zweite Sinfonie, entstanden kurz nach dem Zweiten Weltkrieg. Viele Werke haben den Charakter einer Sinfonía concertante, bei der die Musikerinnen und Musiker einander behutsam die Motive weiterreichen. Eine Klarinette besänftigt ein zorniges Cello, dann finden sich die beiden zum Zwiegespräch. Musik als Frage-und-Antwort-Spiel. Raunende Klangteppiche wie aus dem Weltall – das alles ist unsagbar schön. Und wird intensiv dargeboten von einem wachen Orchester und brillanten Solisten. Wie kann man das so lange überhören? Daniel Grossmann: "Ein Teil des Problems ist natürlich schon, dass man im Konzertsaal sehr oft die Schlager spielt und zu wenig nach rechts und links schaut. Anders kann ich mir es nicht erklären."
1942 hört Dmitrji Schostakowitsch von seinem jüngeren Kollegen, ein Jahr später begegnen sie sich zum ersten Mal, werden Freunde. Die enge Freundschaft hält bis zu Schostakowitschs Tod 1975. In der Stalin-Herrschaft leiden beide unter verdeckter und offener Diskriminierung. Immer wieder werden sie auch hofiert, aber sie können sich nie sicher sein vor den willkürlichen Urteilen der Partei. 1948 wird, als Verkehrsunfall getarnt, Weinbergs Schwiegervater umgebracht. Als Weinberg selbst 1953 verhaftet wird, rettet ihn Stalins Tod vor der Ermordung. "Komponieren als Trauerarbeit" – das ist der immer wieder zitierte Satz für das Werk des Mieczyslaw Weinberg.
Komponieren für die, die er verloren hat
1965 erst erfährt Weinberg, dass seine Eltern und seine Schwester im Warschauer Ghetto umgekommen sind. Im selben Jahr scheint seine "Kantate der Liebe", die den Kindern von Auschwitz gewidmet ist. In seiner sechsten Sinfonie vertont er ein Kinderlied: ein Junge hat sich eine Geige gebaut und klettert auf einen Baum, um sie zu schützen. Der Baum wird von Soldaten gefällt. Sinnbild für Weinbergs eigenes Leben. Komponieren für die, die er verloren hat:
"Er hat sehr stark auf den Verlust seiner Familie reagiert, auf die Katastrophe des Holocaust. Das sehe ich schon als ganz starkes Thema seiner Musik. Aber auch schon davor gibt es Sätze unfassbarer Traurigkeit, wo man geradezu seinen Verlust fühlen und spüren kann."
Weinberg hat, anders als Schostakowitsch, kaum mit musikalischem Sarkasmus auf das reagiert, was um ihn herum geschah. Er gilt als der still Leidende, der Dulder. Umso erstaunlicher ist für Daniel Grossmann, dass er sich George Bernard Shaws groteske Ehebruchs-Posse "Lady Magnesia" ausgesucht hat, um daraus 1975 eine Kammeroper zu machen: "Ich finde auch, dass die Geschichte überhaupt nicht zu seiner Person passt, wie ich es seinen Biografien entnehme. Umso lustiger ist die Geschichte und umso witziger ist auch die Musik, die er dazu komponiert hat."
Lady Magnesia und ihr Hausdiener Adolphus haben eine Affäre. Der Lord rächt sich und verabreicht dem Liebhaber vergiftetes Sodawasser. Als Gegengift empfiehlt er, nachdem die Lady ihre Liebe wieder auf ihren Mann überträgt, hochdosierten Kalk. Dazu wird die Gipsbüste der Lady in Wasser aufgelöst; das Gebräu verhilft Adolphus zu einem sanften Tod – und den Eheleuten zu einem Andenken in Gips.
Fünf Probentage mussten reichen für die Einrichtung dieser Farce in München: Miriam Ibrahim und Nicole Wytyczak stecken ihre Protagonisten in weißen Batist und weiße Seide; wie Zombies bewegen sie sich (mit weiß gekalkten Gesichtern, rot umränderten Augen und bizarren Tierbemalungen) auf der Bühne der Münchner Kammerspiele – zu Techno-Klängen im Stroboskoplicht, vor hohen Spiegelwänden. Ein Alptraum, der musikalisch berückend beginnt: mit einem Schlaflied von Jean-Baptiste Lully. Und dann tauchen wir ein in dieses witzig-brutale, kaum einstündige Notturno um Liebe und Macht. Und um die Frage, wozu ich imstande bin, um einen Menschen zu halten, an mich zu binden. Man kann sich fragen, ob die Bebilderung des Stücks, die ja doch recht abstrakt bleibt, notwendig war. Kein Lotterbett; keine Gipsbüste der Lady; das Messer, mit dem der Lord seine Gattin umbringen möchte, erscheint nur als Video … Alles wird auch erzählt von Weinbergs Musik, die lustvoll spielt mit Angst und Arroganz, mit gespielter Verzweiflung und echtem Schmerz. Der Chor kommt vom Band, das Harmonium summt sanft – und wie ein Fallbeil schlägt von Zeit zu Zeit das Klavier zu. Plötzlich meldet sich die E-Gitarre und auch mal der Schlagzeuger mit federleicht swingender Percussion-Einlage. Der Interpret hat freie Hand, denn an dieser Stelle hat Weinberg nur Kringel in die Partitur gemalt. Was für eine grandiose Musiksprache, famos umgesetzt vom Jewish Chamber Orchestra Munich. Und letztlich doch echter Weinberg, der eben auch Witz und Sarkasmus beherrschte.