Man könnte meinen, wir lebten im Zeitalter der Empfindsamkeit. Immer mehr Menschen bezeichnen sich als hyper- oder hochsensibel und fühlen sich vom Alltag und den auf sie einprasselnden Eindrücken überfordert. Andere zeigen sich tief verletzt oder empört, wenn jemand sich nicht an die aktuellen, politisch korrekten Sprachregelungen hält. Mit dem Zeitalter der Empfindsamkeit aber bezeichnet man speziell in der Literatur eine Epoche in der Mitte der 18. Jahrhunderts, die von heute nur noch von Germanisten gelesenen Autoren wie Christian Fürchtegott Gellert und Friedrich Gottlob Klopstock geprägt wurde.
Allerdings ist die Literatur keine Sache, die im luftleeren Raum entsteht; schon damals scheint ein verbreitetes Lebensgefühl Niederschlag in Romanen und Gedichten gefunden zu haben, und diese Romane und Gedichte wiederum haben möglicherweise das Empfindungsvermögen vieler Leserinnen und Leser weiter sensibilisiert und damit eine neue Generation besonders empfindsamer Menschen geschaffen. Gerade im 19. Jahrhundert findet man darum Romanfiguren, die vor Romanen warnen. Aber schon in Johann Karl Wezels „Wilhelmine Arend“ von 1781 führt eine der Hauptfiguren die in seinen Augen übertriebene Empfindsamkeit der Titelfigur auf die Lektüre empfindsamer Romane zurück:
„Hören Sie, Madam! wenn Sie gesund seyn wollen, so lassen Sie endlich einmal das ewige Weinen und Härmen. Essen Sie nicht lauter weichliche Speisen, trinken Sie nicht zu viel Thee, schlafen Sie nicht in zu weichen Betten, stecken Sie nicht beständig in der Stube, lesen Sie nicht immer so viele traurige Bücher und hypochondrische Historien: das alles macht empfindsam und melancholisch.“
Raritäten im Kabinet
Glaubt man der Vorrede zu „Wilhelmine Arend“, so will Johann Karl Wezel mit seinem Roman eben das: vor den Gefahren der Empfindsamkeit warnen. Liest man allerdings, was die beiden Doktoren des Buches der Protagonistin anempfehlen, so könnte man meinen, es zuallererst mit einer Satire auf einen sehr bodenständigen, wenn nicht äußerst einfältigen Pragmatismus zu tun zu haben. Auch wenn Wezel betont, das Thema Empfindsamkeit nicht von der komischen Seite angehen zu wollen, so ist doch vor allem einer der beiden Doktoren des Buches, Doktor Braun, eine durch und durch komische Figur, ein Privatgelehrter und Hagestolz, der sich leidenschaftlich der Erforschung von Würmern und Raupen widmet, und überhaupt nicht verstehen kann, dass andere beim Anblick des Gewürms ein gewisses Unbehagen beschleicht.
„Ich führe also Herrn und Madam Arend in mein Kabinet, um ihnen die Rarität zu zeigen, und denke, wie sehr sie sich über das Wunderwerk freuen werden. Kannst du dir vorstellen? Da fürchtet sich das empfindsame Weibchen vor meinen Würmern. Ich stehe voller Vergnügen da und demonstrire ihr vor, wie ich die Kreaturen zerhacke, und in wie vielen Tagen die Köpfe und die Schwänze hervorkommen: als ich sie von ungefähr anblicke, zittert sie und ist kreideweiß vor Entsetzen. Ich frage sie, was ihr fehlt. - „Ach die armen Würmer! die entsezliche Grausamkeit! die fürchterlichen Kreaturen!“
„Wilhelmine Arend“ spielt in Hamburg, und das ist bemerkenswert, weil im 18. Jahrhundert so wenige deutschsprachige Romane einen nach der Natur gezeichneten Handlungsort haben. Große Städte spielen fast überhaupt keine Rolle. Auch die beiden kurzen Versdramen, die diesem Band der Gesammelten Schriften beigegeben und eher von historischer Bedeutung sind, spielen an Orten, die dem Reich der Phantasie und nicht dem der Geographie angehören.
Flatterhafte, verschwenderische Wesen
In „Wilhelmine Arend“ aber legt Wezel sehr viel Wert auf das realistische Setting: Die Alster kommt immer wieder vor, es finden Ausflüge nach Altona und die weitere Umgebung statt, und vor allem der Hafen erfährt hier eine der lebendigsten Schilderungen der Zeit.
„Die geräuschvolle seemännische Geschäftigkeit herrschte ringsum auf der weiten Wasserfläche: ein dichter Wald von hohen Mastbäumen mit mannichfarbigen wallenden Wimpeln stieg aus den ruhenden Schiffen auf allen Seiten empor: zwischen den weitbauchigen Gebäuden wimmelte ein Schwarm kommender und gehender Fahrzeuge herum, mit Männern und Weibern befrachtet, die in platter tönender Sprache sich ihre Verrichtungen erzählten, sich lachenden Scherz oder ernste Aufträge zuriefen.“
Der Roman spielt nicht nur in Hamburg, Wilhelmine Arends Mann ist zudem auch Hamburger Kaufmann. Er ist allerdings nach zwei Jahren Ehe mit Wilhelmine ihrer überdrüssig und einer jungen Französin verfallen. Madame Pouilly nennt sich dieses flatterhafte und verschwenderische Wesen, das mit ihrem Bruder in der Hansestadt weilt und Arend den Kopf verdreht. Schon zwei Wochen lebt er mit ihr zusammen, als die Handlung einsetzt und Doktor Braun, der Würmerforscher, seinem Freund Doktor Irving, einem Arzt, von der Angelegenheit schreibt und ihn auffordert, gemeinsam etwas zu unternehmen, um Arend wieder zu seiner Ehefrau zurückzuführen.
Wilhelmine, Werther und weiter
Irving weigert sich zwar, denn er habe so schon genug zu tun und menge sich prinzipiell nicht in Ehesachen. Braun aber, der sich verantwortlich fühlt, weil er meint, die Ehe der beiden überhaupt erst gestiftet zu haben, nimmt die Sache selbst in die Hand und schafft es tatsächlich, Arend davon zu überzeugen, dass er die beste aller möglichen Ehefrauen habe und die Geliebte verlassen müsse.
So gehen einige Briefe hin und her, und man meint es schon mit einem Briefroman zu tun zu haben, was um 1780 ja sehr in Mode war, der berühmteste von allen, „Die Leiden des jungen Werther“ erschien 1774. Aber dann wechselt Wezel die Form hin zu einer klassischen auktorialen Erzählung, bevor er schließlich in eine derart ausführliche rein dialogische Passage übergeht, dass es wirkt, als sei man unversehens in einem Theaterstück gelandet.
Im Laufe des Romans wird Wezel noch häufiger zwischen diesen drei Erzählformen wechseln, und diese Wechsel tragen sehr zur Lebendigkeit der Geschichte bei. Ebenso ist die Handlung an überraschenden Wendungen nicht arm. Denn anders als man von einem Hamburger Kaufmann erwartet, handelt es sich bei Herrn Arend ebenfalls um eine, wie Wezel schreibt, „sonderbare Kreatur … eine schwache Seele, die von starken Empfindungen und Leidenschaften regiert wurde: der gegenwärtige Eindruck, das gegenwärtige Gefühl riß ihn jederzeit unwiderstehlich zu guten oder bösen Handlungen hin: sein Wille that nicht das mindeste dabey, sondern er handelte so mechanisch, wie auf einem Marionettentheater die eine Puppe die andere umarmt oder ihr eine Ohrfeige gibt, wenn der Mann über ihnen am Faden zieht.
Der Mann als schwache Figur
Die Rolle der Frau in „Wilhelmine Arend“ ist sehr ambivalent. Einerseits behauptet Wezel in seinem Vorwort, Frauen seien reizbarer und die Empfindsamkeit unter ihnen verbreiteter als unter Männern. Und auch wenn sie für ihn deswegen „poetischer“ sind, schreibt er damit doch Stereotypen fort. Andererseits ist die eigentlich schwache Figur in diesem Roman ein Mann, Herr Arend eben, der so gar keine Kontrolle über seinen Gefühlshaushalt hat, während seine Frau ihre ebenfalls sehr intensiven Gefühle doch bis zu einem gewissen Grad steuern kann.
„Die Frau erfuhr auf ihr dringendes Bitten vom Doktor Braun, was ihrem Manne an ihr misfiel, und gab sich seitdem alle Mühe, ihre Empfindsamkeit zu unterdrücken und sich die Übertreibung in Ausdruck und Gefühl abzugewöhnen: sie brachte es darinne so weit, daß sie sogar nicht mehr, wie sonst, Erkältung der Liebe argwohnte, wenn ihr Mann in einem gemäßigten ernsthaften Tone mit ihr umging und nicht bey jedem Händedrucke, jedem Kusse, jeder Umarmung in theatralisches Entzücken ausbrach, nicht beständig bei jedem Vorfalle die Thränen in Bereitschaft hatte und nicht alle Augenblicke entweder vor Wonne oder Rührung schmelzen wollte.
Doch es hilft alles nichts. Madame Pouilly gibt sich nicht so schnell geschlagen und zieht in ein Haus schräg gegenüber, so dass der arme Arend irgendwann schwach wird und ihr aufs Neue erliegt, mehr noch, er bietet ihr eine lebenslange Rente, dass sie ihn wieder zu sich nehme, und sogar ihrem Bruder, der, man kann es nicht anders sagen, als der Zuhälter seiner Schwester fungiert, teilt er eine monatliche Apanage zu. Man wundert sich ein wenig, wie so jemand es überhaupt zum wohlhabenden Kaufmann gebracht haben kann, aber mit der Kaufmannsherrlichkeit ist es ohnehin bald vorbei. Die Pouillys rupfen ihn wie eine Weihnachtsgans, und bald endet er als Bewohner einer jämmerlichen Kellerwohnung.
Triumvirat der Vernunft
Seine Frau hat zum Glück ihr eigenes Geld; arbeiten muss in dieser besseren Gesellschaft ohnehin niemand wirklich, zumindest spielt die Arbeit keine Rolle, was auch Teil des Problems ist: Man hat nichts anderes zu tun, als in den eigenen Gefühlen zu wühlen, oder, wie es Wilhelmines beste (und einzige) Freundin, die zupackende Scharlotte formuliert: „Die Liebe ist ein vortrefflicher Zeitvertreib, aber eine sehr langweilige Beschäftigung.“
Als sie diese Weisheit äußert, ist, man ahnt es schon, ein weiteres Problem hinzugekommen, ein Problem namens Webson, ein Freund und regelmäßiger Gast des Hauses Arend. Solange Wilhelmine mit ihrem Mann das Ehebett teilte, hegte sie für Webson, wie sie meinte, rein freundschaftliche Gefühle, und auch er meinte, mit Madame Arend durch und durch freundschaftlich verbunden zu sein. Nun aber stellt sich heraus, dass die Gefühle doch etwas anders gelagert sind, auch wenn sich die Liebenden dessen lange Zeit nicht bewusst werden. Einmal erwähnt Doktor Braun den Namen Webson, da bricht es aus Madame Arend hervor.
„Sie entzücken meine ganze Seele, wenn Sie mir diesen Namen nennen! So ein vortrefflicher Mann! so theilnehmend, so edel, so voll der feurigsten Freundschaft! Kein Stäubchen ist in der ganzen Natur, das ihn nicht eine Empfindung ablockte. Wie oft saß er neben mir und vereinigte bey so mancher rührender Geschichte, die er mir vorlas, seine Thränen mit meinen! Ein Kind kan nicht so lenkbar seyn, so leicht jeden Eindruck annehmen und sein Herz ganz nach seinen Freunden stimmen, wie Webson.“
Ob dieser Reden muss sich Madame Arend immer wieder den Spott und die Ermahnungen von Doktor Braun, Doktor Irving und Scharlotte Schönebeck anhören, ein Triumvirat der praktischen Vernunft, das mit Wilhelmine Arend, ihrem Mann und Webson einem Trio der Leidenschaft und der ungefilterten Gefühle gegenübersteht. „Zuckermännchen“ nennt Braun, der selbst sehr aufbrausend sein kann, die Empfindsamen, zitternde Wesen seien sie, butterweiche Geschöpfe, wie Gallert. Wegen der kleinsten Kleinigkeit verlöre die Seele bei diesen weichen Kerlchen an „Elasticität“.
Just a contrarium, Madam
Tatsächlich werden Webson und Madame Arend krank und rücken dem Tode nahe, so sehr machen ihnen ihre uneingestandenen Gefühle zu schaffen. Dass Körper und Seele zusammenhängen, bestreiten die Doktoren dabei auch gar nicht; nur sehen sie den Ursprung der Qualen allein im Körperlichen, statt dass sie ernst nehmen, was die Seele sagen will.
„Just a contrarium, Madam. Die Empfindsamkeit macht Verstopfungen, Blähungen, treibt den Unterleib auf. Die Sache recht aus dem Fundamente zu betrachten, entsteht die Empfindsamkeit eigentlich aus dem Magen. Schlechte Verdauung, viel Wind, viel Empfindung: das treibt ihnen das Blut nach dem Kopfe, die kleinen Gefäße verstopfen sich, die Thränendrüsen werden voll, und das Weinen geht los.“
Bis zu Sigmund Freuds „Traumdeutung“ wird noch über ein Jahrhundert vergehen, aber wie groß schon im 18. Jahrhundert das Bedürfnis nach einer Seelenheilkunde war, zeigt Johann Karl Wezels virtuoser, witziger, mitreißender und in vielerlei Hinsicht bereits sehr moderner Roman. Auch in „Wilhelmine Arend“ spielen Träume im Verlauf eine immer größere Rolle.
Dabei scheint irgendwann alles auf einem guten Weg zu sein; die Liebenden erkennen dank der tätigen Mithilfe ihrer Freunde ihre Gefühle füreinander, auch wenn es Wilhelmine schwerer fällt als Webson, offen mit ihnen umzugehen. Sie ist immerhin noch verheiratet und fühlt sich vor Gott und der Welt auf ewig an ihren Nichtsnutz von Ehemann gebunden. Der nämlich will einer Scheidung nicht zustimmen, und hier zeigt sich einmal mehr, wie aktuell Wezel damals war, wie sehr er sich an seiner Gegenwart gerieben hat: Nicht nur in „Wilhelmine Arend“, auch anderorts greift er ein Scheidungsrecht an, dass die Frau dem Mann ausliefert, mag er sich auch noch so schändlich betragen.
Überhaupt hat Wezel regen Anteil genommen an der gesellschaftlichen Situation seiner Zeit, hat unermüdlich Essays, Artikel, Rezensionen verfasst, sich mit der Zensur angelegt und es sich schließlich auch mit seinen Förderern und Freunden verdorben. Es ist aus ihm offenbar ein regelrechter Querulant geworden, der seine Energie kurz nach der Veröffentlichung von „Wilhelmine Arend“ in Kämpfe gegen die berühmten Windmühlen gesteckt hat, statt konzentriert an seinem Werk zu arbeiten.
Überhaupt hat Wezel regen Anteil genommen an der gesellschaftlichen Situation seiner Zeit, hat unermüdlich Essays, Artikel, Rezensionen verfasst, sich mit der Zensur angelegt und es sich schließlich auch mit seinen Förderern und Freunden verdorben. Es ist aus ihm offenbar ein regelrechter Querulant geworden, der seine Energie kurz nach der Veröffentlichung von „Wilhelmine Arend“ in Kämpfe gegen die berühmten Windmühlen gesteckt hat, statt konzentriert an seinem Werk zu arbeiten.
Ein Sarg in Sondershausen
Den Roman wollte er zudem selbst verlegen, das Subskriptionsverfahren aber lief schlecht, das Buch wurde kaum gekauft und gelesen, der Autor geriet in finanzielle Schwierigkeiten und ging schließlich zurück nach Sondershausen in Thüringen, die Stadt, in der er geboren worden war und über die er sich in dem Roman „Hermann und Ulrike“ lustig gemacht hatte. Hier zog er sich in eine Kammer zurück und verlor den Kontakt zur Welt. Mit „Wilhelmine Arend“, scheint es, hat er diesen Weg in die Umnachtung vorweggenommen. Denn auch, wenn Doktor Braun und Scharlotte Schönebeck ihre Freunde in die Liebe geredet haben, die festsitzenden gesellschaftlichen Konventionen können sie ihrer Freundin nicht mehr austreiben, zumindest nicht dauerhaft.
„Meine Ehre verlieren oder meine Neigung aufopfern – das ist also meine Wahl? Eine schreckliche Wahl! Folg’ ich meinem Herze, so muß ich die Gesetze übertreten und meinen Namen mit der Schande brandmarken, daß ich eine Frau von zwey Männern zugleich wurde: flieh’ ich die Schande und folge den Gesetzen – Gott! wie soll ichs aussprechen, was ich dann thun muß? Meinem Herze soll ich gebieten, ‚Liebe den einzigen Liebenswürdigen nicht und gräme dich, so lange du schlägst!‘ Bester liebster Freund, wissen Sie keinen Ausweg, der mich zwischen Schande und Liebe durchführt? Zeigen Sie ihn!
Erstaunlicherweise äußern die beiden Herausgeber im Nachwort die Ansicht, „Wilhelmine Arend“ sei künstlerisch nicht Wezels gelungenster Roman. Wo allerdings seine Schwächen liegen, sagen Sie nicht. Möglicherweise sehen sie im Wechsel zwischen Dialog-, Brief- und Erzählpassagen eine gewisse Unentschiedenheit, aber gerade dieser Wechsel gibt dem Roman seinen Rhythmus. Auch die verschiedenen Tonlagen – mal satirisch und ironisch, mal tragisch und, ja, empfindsam – verleihen dem Werk eine Offenheit, die es überhaupt erst zu einem eigenständigen Kunstwerk macht.
Im Grunde weicht Wezel ständig von dem Programm ab, das er im Vorwort proklamiert. „Wilhelmine Arend“ ist alles andere als eine Streitschrift wider die Empfindsamkeit. Der Roman ist, vier Jahre bevor Karl Philipp Moritz’ „Anton Reiser“ erschien, der gemeinhin als erster psychologischer Roman deutscher Sprache gilt, psychologisch sehr differenziert. Er arbeitet zwar mit Klischees und Stereotypen, aber er bricht sie immer auch wieder auf. Und er arbeitet geschickt mit verschiedenen Motiven; das wichtigste unter ihnen ist das Todesmotiv. Sehr früh klingt es unterschwellig an, wird dann immer präsenter, bis Wilhelmines Zerrissenheit zwischen Konvention und Emotion erst in Todesahnung, dann in einen regelrechten Todestrieb kulminiert.
Der verfaulte Sarg stand frey da
Inzwischen ist sie mit Webson nach Sondershausen gezogen, um ihn dort zu heiraten und fern von Hamburg eine zweite Ehe zu führen. Aber schon bei der Trauung beschleichen sie schlimme Ahnungen, die sich bald zu Halluzinationen steigern, sie trennt sich von Webson und zieht auf ein kleines Gartengrundstück. Von hier aus besucht sie immer wieder den Friedhof des Ortes und lässt sich schließlich vom Totengräber gegen Bezahlung einen alten Sarg in seiner Grube öffnen.
„Man räumte den Deckel weg, und der verfaulte Sarg stand frey da. Kaum rührte man den Deckel an, so brach er in viele Stücken entzwey, wie mürber Zunder: man schaffte auf mein Verlangen alles heraus, bis die Trümmer des Leichnams vor meinen Augen offen dalagen. Ich sprang hinab und erblickte bey dem blassen Laternenscheine – soll ich Dir sagen, was ich erblickte? Der gräßlichste Totenkopf, den Du Dir denken kannst, starrte mit holen Augenlöchern, eingedrückter Nase und gefletschten Zähnen mir entgegen.“
Es ist dies wohl die erste Szene einer Schauerromantik avant la lettre. Und Wezel geht noch weiter: Er lässt seine Heldin schließlich ihr eigenes Grab schaufeln, in das sie sich immer wieder selbst hineinlegt. Darin findet sie für Stunden Ruhe vor dem schlechten Gewissen, den bösen Ahnungen, den Gesichten, die sie plagen. Heute würde man sagen: Vor ihren Depressionen.
Ende mit Raupe
Aktuell ist der Roman auch deswegen, weil noch heute, hundert Jahre nach der Entwicklung der Psychoanalyse als medizinischer Praxis, depressiven Menschen häufig dasselbe Unverständnis entgegentritt wie Wilhelmine Arend. Wenn Doktor Braun ihr sagt, sie solle doch mal für einen Moment von ihrer Schwermut lassen, dann ist das, als würde man einem Blinden sagen, er möchte doch bitte, nur kurz, von seiner Blindheit lassen.
So schließt der Roman mit einem Briefwechsel zwischen Doktor Braun und Webson, der ob des Todes seiner geliebten Frau - und zumindest wie es dazu kommt, soll nicht verraten werden, es ist die letzte der zahlreichen überraschenden Wendungen des Romans - am Ende selbst in die Depression rutscht und Braun schreibt:
„Ich will vegetiren, ich will ein Thier seyn, so lange diese Adern, Muskeln und Nerven zusammenhalten, aber kein Mensch, kein Wesen, das über seinen Zustand nachdenkt. Glückliche Geschöpfe, denen der Himmel die Erinnerungen des Vergangenen und die Furcht vor der Zukunft versagte! Gewürme, Insekten, Fische, Vögel, ihr Alle von der Monade bis zum Elefanten, wie beneid’ ich euch izt!“
Hier, und das zeigt einmal mehr die enorme literarische Klugheit Johann Karl Wezels, treten auf der vorvorletzten Seite des Romans noch einmal die Würmer und Raupen auf, die uns als Spleen des Doktors schon auf den ersten Seiten begegnet sind. Damals fürchtete sich Madame Arend vor ihnen. Jetzt erscheint ihrem Geliebten das, was Wilhelmine in ihrem Grab zersetzt, als positive Utopie.
Johann Karl Wezel: „Wilhelmine Arend“
Band 4 der Gesamtausgabe
Herausgegeben von Jutta Heinz und Wolfgang Hörner
Mattes Verlag, Heidelberg,
752 Seiten, 79 Euro.
Band 4 der Gesamtausgabe
Herausgegeben von Jutta Heinz und Wolfgang Hörner
Mattes Verlag, Heidelberg,
752 Seiten, 79 Euro.