Im Weißbuch gibt es den Begriff der "Ad-hoc-Kooperationen". Dabei geht es um Bündnisse von sogenannten Willigen, wie etwa bei der US-geführten Anti-IS-Koalition in Syrien und dem Irak. Sie sollen künftig ein Normalfall für die Entsendung der deutschen Streitkräfte werden.
Das steht laut Brugger im Widerspruch zu den Vorgaben des Grundgesetzes und der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes, es führe auch zu einer Abkehr von Institutionen wie der UNO. Aber um den aktuellen Krisen in der Welt zu begegnen, brauche es gerade starke Institutionen.
Einsätze im Innern: "Mir ist nicht klar, wer hier was üben soll"
Kritisch sieht sie auch den Einsatz der Bundeswehr im Inneren. Hier sieht das Weißbuch Übungen von Polizei und Streitkräften vor, um beispielsweise im Falle einer "terroristischen Großlage" vorbereitet zu sein. "Mir ist nicht klar, wer hier was üben soll," sagte Brugger. Das Ganze bleibe unkonkret. Sie wirft der Union vor, lediglich eine "abstrakte Debatte" über das Thema zu eröffnen. Außerdem könne man nicht dauernd die Überlastung der Bundeswehr beklagen und gleichzeitig neue Aufgaben einfordern.
Das Interview in voller Länge:
Dirk-Oliver Heckmann: Eineinhalb Jahre hatten die Experten an dem neuen Weißbuch der Bundesregierung gearbeitet. Heute stellt es Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen vor. Das Grundsatzpapier, das die Leitlinien bildet für die strategische Ausrichtung der Bundeswehr. Nur alle 10, 15 Jahre wird es an die aktuellen Herausforderungen angepasst. Jetzt ist es wieder soweit, denn 2006, als das letzte Weißbuch entstand, bestand noch eine ganz andere Sicherheitslage.
Am Telefon begrüße ich jetzt Agnieszka Brugger. Sie ist verteidigungspolitische Sprecherin von Bündnis 90/Die Grünen im Deutschen Bundestag und Obfrau im zuständigen Verteidigungsausschuss. Guten Morgen, Frau Brugger!
Agnieszka Brugger: Guten Morgen.
Heckmann: Frau Brugger, das Weißbuch soll ja dazu dienen, die aktuellen sicherheitspolitischen Herausforderungen zu definieren und die Bundeswehr darauf einzustellen. Heute legt Ministerin von der Leyen das neue Papier vor. Sind denn die Herausforderungen, die da genannt werden, nämlich islamistischer Terrorismus, Cyber-Angriffe, hybride Kriegsführung à la Russland, darin zutreffend beschrieben?
Brugger: Bei all dem, was wir bisher zum Weißbuch gehört oder sogar gesehen haben, habe ich den Eindruck, dass der Beschreibungsteil auch gar nicht so schlecht gelungen ist. Neben den von Ihnen erwähnten Punkten, Bedrohungen, Gefahren und Risiken, ist auch das Thema Staatszerfall als Ursache für Bürgerkrieg und Instabilität beispielsweise auch gut beschrieben. Mein Problem ist eher, dass dann die falschen Schlussfolgerungen getroffen werden und das Weißbuch damit die Chance versäumt, für diese komplexen Krisen unserer Zeit die richtigen klugen Antworten zu geben.
Notwendigkeit einer gemeinsamen Friedens- und Sicherheitsstrategie
Heckmann: Dann kommen wir mal zu den Schlussfolgerungen. Gehen wir doch mal peu à peu ein bisschen ins Detail. Die Bundesregierung, die verfolgt ja auch im Weißbuch ein Konzept der vernetzten Sicherheit. Wir haben es gerade im Bericht von Rolf Clement gehört. Und Außenminister Steinmeier, der will dazu bald noch ein eigenes ergänzendes Konzept vorlegen. Ist das nicht ein Ansatz, der Ihnen entgegenkommt?
Brugger: Ich glaube, da ist eines der Grundprobleme enthalten, nämlich dass die Bundesregierung, und zwar sowohl das Auswärtige Amt als auch das Verteidigungsministerium als auch das Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, in den letzten Jahren ihre jeweils eigenen Grundlagendokumente geschrieben haben, relativ für sich genommen, und es wäre eigentlich eine wichtige Chance gewesen, zehn Jahre nach dem letzten Weißbuch, jetzt eine gemeinsame Friedens- und Sicherheitsstrategie auf den Weg zu bringen.
Heckmann: Aber es waren ja alle Ressorts jetzt auch beteiligt.
Brugger: Ja, es gibt dann immer die Ressortabstimmung. Aber in der Analyse der Vergangenheit sind sich ja viele Sicherheitspolitiker einig, dass das Thema mangelnde Kohärenz, mangelnde Abstimmung der Instrumente ein zentrales Problem ist. Was ich aber noch schlimmer finde ist, dass das Weißbuch suggeriert, das militärische Instrument, die Auslandseinsätze der Bundeswehr, das ist ein gleichwertiges Instrument zu vielen. Da habe ich eine völlig andere Auffassung. Ich glaube, es kann unter sehr eng begrenzten Bedingungen in Systemen kollektiver Sicherheit notwendig sein, die Bundeswehr einzusetzen, aber immer untergeordnet und eingebettet in eine Strategie, die Konfliktursachen angeht, und genau in diesem Teil wiederum bleibt das Weißbuch sehr dünn und liefert eigentlich vor allem primär militärische Antworten.
Heckmann: Da würden die Linken Ihnen allerdings vorhalten, dass die Grünen noch bei jedem Militäreinsatz mitgemacht haben in der Regierungszeit.
Brugger: Ja, wobei wenn Sie sich jetzt anschauen, wie wir Grüne im Bundestag abstimmen, dann sagen wir weder blind Ja zu den Auslandseinsätzen der Bundeswehr, wie CDU und SPD das tun, noch reflexartig Nein, sondern wir schauen ins sehr genau den Einzelfall an, ob auch der Auslandseinsatz gerechtfertigt ist, ob er völkerrechtlich legitim ist, aber vor allem, ob er eingebettet ist in ein Gesamtkonzept, das wirklich langfristig die Konfliktursachen bearbeitet. Denn auch das ist eine Lehre aus den letzten Jahren: Konflikte lassen sich nicht militärisch lösen. Und insofern versäumt das Weißbuch die wichtige Chance zu erklären, was eigentlich denn wirklich unser Beitrag aktiv in der Welt zu mehr Verantwortung und zu mehr Konfliktlösung ist, jenseits des Militärischen.
Streit um Einsatz im Inneren
Heckmann: Kommen wir mal zu dem Thema Bundeswehreinsatz im Innern, Frau Brugger. CDU und CSU, die dringen ja schon lange darauf, den Bundeswehreinsatz dort zu ermöglichen, bei der Terrorabwehr beispielsweise, und sie fordern eine Grundgesetzänderung zur Klarstellung. Das hat die SPD jetzt erneut abgelehnt. Stattdessen wird auf die aktuelle Rechtslage verwiesen. Das müssten Sie doch begrüßen, oder?
Brugger: Das ist einer der wenigen Punkte, für den ich am Ende auch was übrig habe, dass die SPD hier kurz vor knapp aufgewacht ist und die ursprünglichen Formulierungen, die ganz klar in diese ja auch immer wieder ideologischen Antworten der CDU gehen, wir müssen jetzt die Bundeswehr im Innern einsetzen, dann auch verhindert haben. Aber trotzdem öffnen, glaube ich, die Formulierungen nach wie vor den Weg dafür, dass die Bundeswehr im Innern eingesetzt werden soll. Man plant jetzt gemeinsame Übungen. Und da frage ich die Verteidigungsministerin auch immer wieder: Wer soll da eigentlich genau was üben? Man hat immer wieder den Eindruck, hier geht es eher darum, dann trotzdem, auch wenn die Grundgesetzänderung vorerst vom Tisch ist, diese Debatte wieder aufzumachen und weiter voranzutreiben.
Heckmann: Das wurde ja ganz klar wohl auch formuliert. Da geht es um Katastrophenlagen infolge von Terroranschlägen. Wir denken mal an Paris, wir denken an Brüssel. Auch dort ist dann ja Militär eingesetzt worden, zum Schutz von Einrichtungen beispielsweise. Und so ein Einsatz wäre laut Verteidigungsministerium ja auch in Deutschland vom Grundgesetz gedeckt. Was also haben Sie dagegen, dass solche Einsätze auch geübt werden, damit es auch wirklich funktioniert?
Brugger: Von den grundgesetzlichen Regelungen, die, glaube ich, aus sehr guten Gründen so sind, wie sie sind, gibt es ja eine klare Trennung der inneren und äußeren Sicherheit, und nur im alleräußersten Notfall nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes könnte es eine Rolle für die Bundeswehr geben.
Heckmann: Also bei einem Terroranschlag beispielsweise?
Brugger: Ja, wobei ich da, glaube ich, nicht an so ein Szenario denke, wie wir es dann in Paris und auch in Belgien derzeit sehen, wo das Militär natürlich nach wie vor sehr präsent ist auf der Straße und dort patrouilliert. Aber wenn ich noch mal auf einen anderen Punkt an der Stelle eingehen darf? Man kann nicht einerseits immer die Überlastung der Bundeswehr beklagen, wie das die Koalition und auch die Ministerin tut, und dann gleichzeitig immer mehr neue Aufgaben einfordern. Die Ministerin muss klar definieren für diesen absoluten Katastrophenfall, was dann genau die Aufgaben der Bundesehr sein können, statt immer wieder nur abstrakt diese Debatte aufzurollen.
Heckmann: Ich will aber trotzdem bei dem Punkt noch mal bleiben, Frau Brugger, und zwar, was die Übungen angeht. Was haben Sie dagegen, dass solche Szenarien dann wirklich auch durchgespielt werden?
Brugger: Ich würde mich jetzt nicht kategorisch gegen Übungen aussprechen, wenn wirklich klar ist, wer da eigentlich was üben soll. Da geht es ja nicht nur um die Polizei, da gibt es natürlich andere zivile Organisationen im Bereich Katastrophenschutz, Katastrophenhilfe, die da wichtige Aufgaben übernehmen, und da ist eigentlich nicht die Verteidigungsministerin gefragt, sondern der Innenminister Thomas de Maizière, hier zu zeigen, dass diese Organisationen gut aufgestellt sind und im Falle des Falles, den wir uns alle natürlich nicht wünschen, dann auch gut zusammenarbeiten können. Warum das jetzt vor allem aus dem Blick der Bundeswehr geführt ist, ist für mich eher der Versuch, hier Dinge zu verändern, die eigentlich im Grundgesetz doch sehr klar getrennt und beschrieben sind. Ich würde mich nicht kategorisch gegen Übungen aussprechen, aber die beiden zuständigen Minister müssen dann schon auch noch mal klar sagen, wie sie auch diese rechtlichen Vorgaben einhalten wollen und wer da zusammen eigentlich genau was üben soll.
"Eine aktive Abkehr von den internationalen Organisationen"
Heckmann: Frau Brugger, kommen wir noch mal zurück auf die Auslandseinsätze. Bisher ist es ja so, dass Militäreinsätze nur im Rahmen von Bündnissen kollektiver Sicherheit - so heißt das - möglich sind, also UNO oder NATO, auch Europäische Union. Jetzt soll auch die Teilnahme an Militäraktionen möglich gemacht werden im Rahmen von sogenannten Ad-hoc-Bündnissen. Ist das nicht aber die richtige Konsequenz aus der Tatsache, dass Institutionen wie zum Beispiel der UNO-Sicherheitsrat regelmäßig handlungsunfähig ist?
Brugger: Das ist eine der Passagen, die ich am schlimmsten finde am neuen Weißbuch. Ad-hoc-Koalition bedeutet übersetzt eigentlich Koalition der Willigen, außerhalb von Systemen kollektiver Sicherheit wie Vereinte Nationen, Europäische Union und NATO, und auch da haben wir ja in den letzten Jahren ein paar Auslandseinsätze gesehen, die genauso auch konstruiert sind. Und für mich steht diese Formulierung mit den Ad-hoc-Koalitionen klar im Widerspruch zu den Vorgaben aus dem Grundgesetz für die Auslandseinsätze der Bundeswehr, aber auch zur Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Besonders schlimm finde ich daran aber auch, dass das ja eine aktive Abkehr ist von den internationalen Organisationen, was so natürlich erst recht dazu führt, dass Institutionen wie die Vereinten Nationen eher geschwächt werden, handlungsunfähiger werden, und ich glaube, angesichts der Instabilitäten in dieser Welt ist eine funktionierende internationale Ordnung und starke Vereinte Nationen eigentlich eher die Antwort auf die Krisen unserer Zeit und man sollte nicht irgendwas tun, um sie zu schwächen.
Heckmann: Das ist deutliche Kritik. Ganz kurz noch in einem Satz, Frau Brugger. Wir haben nicht mehr so viel Zeit. Sie sind der Ansicht, dass das Weißbuch in diesem Punkt gegen das Grundgesetz verstößt?
Brugger: Ja, das ist meine Auffassung, weil wirklich gesagt wurde, auch in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, nur im Rahmen von Systemen kollektiver Sicherheit, und das ist für mich hier wirklich ein großer Tabubruch.
Heckmann: Agnieszka Brugger war das, verteidigungspolitische Sprecherin von Bündnis 90/Die Grünen im Deutschen Bundestag, zum neuen Weißbuch der Bundeswehr, das heute vorgestellt wird. Frau Brugger, danke Ihnen für Ihre Zeit!
Brugger: Ja, sehr gerne.
Heckmann: Schönen Tag noch.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.