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"Weißes Gold" aus Europa

1806 erklärte Kaiser Napoleon dem englischen Königreich, Hauptlieferant des Rohrzuckers, den Wirtschaftskrieg. Auf der Suche nach Alternativen wird er auf die Runkelrübe aufmerksam. Damit legte er den Grundstein für die Entstehung der europäischen Zuckerindustrie.

Von Ulrich Breitbach |
    Zu Beginn des Jahres 1811 befindet sich der Kaiser der Franzosen, Napoleon Bonaparte, auf dem Höhepunkt seiner Macht. Doch nicht nur der Ausbau seiner Herrschaft auf dem Kontinent beschäftigt den genialen Feldherrn, sondern auch die Herstellung eines Nahrungsmittels, das zu dieser Zeit in Europa kaum noch erhältlich ist. Am 25. März 1811 erlässt er ein Dekret:

    "Es sollen im Französischen Reiche 32.000 Hektaren Land zur Kultur der Runkelrüben, die zur Fabrikation des Zuckers geeignet sind, gebraucht werden. Der Kaiser stellt die Summe von einer Million zur Verfügung, um zur Fabrikation des Zuckers aus der Runkelrübe aufzumuntern."

    Zucker wurde bislang nur aus eingedicktem Zuckerrohrsaft gewonnen und seit der Entdeckung Amerikas in den Kolonien auf riesigen Plantagen erzeugt. Unzählige Sklaven gingen Jahr für Jahr bei völlig unzureichender Ernährung und täglich bis zu 18 Stunden härtester Arbeit an der Siedehitze der Produktion zugrunde.

    In Europa erzielte das "weiße Gold" Höchstpreise, versüßte den Café- und Kakaogenuss der Wohlhabenden und diente der Zurschaustellung des Reichtums einer winzigen Oberschicht. Napoleon selbst soll Szenen seiner Schlachten, aus Zuckerwerk modelliert, als Tischdekoration geschätzt haben.

    Doch 1806 erklärte er dem englischen Königreich, Hauptlieferant des Rohrzuckers, den Wirtschaftskrieg. Der Rivale sollte so im Kampf um die Hegemonie in Europa entscheidend geschwächt werden.

    "Die Britischen Inseln befinden sich im Blockadezustand. Jeder Handel mit den Britischen Inseln ist untersagt."

    Mit der Sperrung des Kontinents für englische Produkte kam die süße Kostbarkeit nur noch spärlich über Schmuggelwege auf das Festland. Ersatz war gefragt, nicht nur, um den kontinentalen Markt zufriedenzustellen, sondern auch, um den Briten das lukrative Handelsgeschäft ein für allemal zu verderben. Da erinnerte man sich in Frankreich, dass 1798 der Preuße Franz Carl Achard erstmals Zucker aus der Runkelrübe gewonnen hatte. Napoleon nahm sich der Sache höchstpersönlich an. Eine deutsche Zeitschrift meldete:

    "Der französische Kaiser besuchte die Fabrik von Runkelrübenzucker, die von dem Bankier Delassert angelegt worden und den Eigentümer bereits 80.000 Livres gekostet hat. Seine Majestät nahmen dieses Etablissement auf's Genaueste in Augenschein und bezeugten darüber Ihre Zufriedenheit."

    Der Kaiser war so begeistert, dass er spontan das Kreuz der Ehrenlegion vom eigenen Mantel gelöst und dem Fabrikanten an die Brust geheftet haben soll. Doch im großen Stil wollte die Gewinnung von Saccharose aus der im Verhältnis zum Rohr zuckerarmen Rübe nicht in Gang kommen. Im Januar 1812 gewährte Napoleon deshalb privaten Produzenten großzügige Steuervergünstigungen und ordnete die Errichtung von fünf kaiserlichen Unternehmen an.

    So wurde der Herrscher höchstselbst zum größten Rübenzucker-Erzeuger des Reiches. Im August 1813 produzierten immerhin 158 Betriebe Rübenzucker, die jedoch bei einer Menge von 1500 Tonnen pro Jahr noch weit hinter den Erwartungen zurückblieben.

    Napoleons Stern sank da bereits unaufhaltsam. Im Sommer 1812 war er nach Russland marschiert, hatte Moskau eingenommen – und war vernichtend geschlagen worden. Es folgten Abdankung, Gefangenschaft und 1821 ein einsamer Tod.

    Doch manches blieb aus seiner großen Zeit, zum Beispiel der Code Napoleon, Vorbild für die Gesetzgebung vieler Länder. Und für die Entstehung der europäischen Zuckerindustrie hatte Napoleon den Grundstein gelegt. Nach Aufhebung der Kontinentalsperre hatte zwar zunächst wieder der Rohrzucker den europäischen Markt überschwemmt. Doch nach und nach gelang es, aus der zuckerarmen Runkelrübe die bis zum Vierfachen gehaltvollere Zuckerrübe zu züchten. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts machte sie den Überseeimporten mit niedrigen Preisen überall in Europa Konkurrenz. Das "Weiße Gold" wurde vom Luxusartikel zum Volksnahrungsmittel.