Im 15. Jahrhundert war der Atlantik von Neufundland bis Maine erfüllt vom "Gesang" des Kabeljaus.
Die See wimmelt von Fischen, die wir nicht nur mit Netzen herausholen können, sondern auch mit Körben, die wir zusammen mit einem Stein hinablassen, so dass sie ins Wasser sinken.
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1497 - fünf Jahre, nachdem Christoph Kolumbus die Karibischen Inseln entdeckt hatte -, berichtete Botschafter Raimondi de Soncino dem Herzog von Mailand Außergewöhnliches über die Entdeckungsfahrt des Genuesers Giovanni Caboto nach Neufundland. Die Nachricht von den reichen Fischgründen verbreitete sich schnell, und schon bald brachen Fischer aus ganz Europa dorthin auf, um den Alten Kontinent mit Stockfisch zu versorgen... Die Fischgründe entlang der nordamerikanischen Atlantikküste schienen ein Schlaraffenland zu sein: Als 1602 der Engländer Bartholomew Gosmold an einer Stelle landete, die heute Cape Cod heißt - Kabeljaukap -, fühlte er sich durch den Kabeljau "belästigt", wie er schrieb:
Sie stehen so dicht nebeneinander, dass es fast unmöglich ist, mit einem Beiboot an Land zu rudern.
Die Fischerei wurde ein wichtiger Wirtschaftsfaktor für die amerikanischen Kolonien - und sie blieb es, als aus Kolonien längst selbständige Staaten geworden waren, bis ins späte 20. Jahrhundert. Am 2. Juli 1992 schloss das Fischerei-Unternehmen "Canadian Grand Banks Northern Cod Fishery" seine Tore - nach einem halben Jahrtausend des Firmenbestehens: In Neufundland und Labrador war der Kabeljaubestand zusammengebrochen. Ebenso weiter südlich vor der Küste von Maine. Der Grund: die Industrialisierung der Fischerei nach dem Zweiten Weltkrieg. Das Fabrikschiff "Fairtry" hat 1951 den Anfang gemacht, und seitdem durchkämmen immer größere und vor allem immer besser ausgestattete Supertrawler die Meere. Sie schleppen beispielsweise anderthalb Kilometer lange Netze durchs Meer, deren hochhaushohen Öffnungen nichts entkommt. Leistungsstarke Winden holen die bis zu 1200 Tonnen schwere Beute an Bord.
Trawl für Trawl verschwindet der Reichtum des Meeres in den Bäuchen der Schiffe - ausgenommen, zerlegt und eingefroren. Bis so gut wie nichts mehr übrig ist. Von Fischen "belästigt" wird sich heute niemand mehr fühlen: Was im Jahr 2005 in einem 700 Kilometer langen Küstenabschnitt vor Ostkanada an erwachsenem Kabeljau zu finden gewesen wäre, hätte gerade einmal 16 kleine Segelschiffe aus dem amerikanischen Bürgerkrieg gefüllt.
Was wissen wir über den Reichtum der Meere und die Vielfalt des Lebens in den Ozeanen? Um dieser Frage nachzugehen, war 1997 eine kleine Gruppe von Wissenschaftlern an der Scripps Institution of Oceanography im kalifornischen La Jolla zusammengekommen. Ihr Fazit: Ende des 20. Jahrhunderts ist das Unwissen über die Meere so groß wie die Ozeane selbst. Aber die Gruppe wollten das ändern: So wurde dieses Treffen die Geburtsstunde des von der Alfred-P.-Sloan-Foundation unterstützten Meereszensus, der Volkszählung mariner Lebewesen, an der rund 2000 Forscher teilnehmen sollten:
"Als der Zensus vor zehn Jahren begann, glaubten wir, dass die Meere für die Menschheit so etwas wie die letzte Grenze sind. Die Menschen waren schon überall, selbst auf dem Mond, aber es gibt auf der Erde noch so viel, das wir nicht wissen, vielleicht nie wissen werden."
Die Dänin Anne Marboe von der Roskilde Universitet gehört zu den Koordinatoren von H-Map, einem der 17 Teilprojekte des Meereszensus. Es ist ein besonderes Projekt, bei dem es darum geht, ein Bild der Vergangenheit zu entwerfen: Wie die Meere waren, bevor der Mensch sie tiefgreifend zu verändern begann:
"We have taken out 90 percent of the top level of the food web. That‘s a worry in itself."
90 Prozent der Tiere an der Spitze des Nahrungsnetzes haben wir aus den Meeren geholt, erklärt Poul Holm, Umwelthistoriker vom Trinity College im irischen Dublin: Das an sich sei schon beunruhigend. Noch beunruhigender sei, dass der Einfluss des Menschen überall zu spüren wäre. Anne Marboe:
"I don't think you will see anywhere the idea of the pristine. Humans HAS had its impact everywhere in the oceans."
Noch nicht einmal mehr die Tiefsee ist unberührt: Umweltverschmutzung und Industriefischerei erreichen auch sie. Der Zustand der Meere heute hat nicht mehr viel mit dem vor 50 oder 100 und mehr Jahren zu tun, urteilt Brian MacKenzie von Danmarks Tekniske Universitet in Lyngby:
"Die Frage ist jedoch, warum sich die Meere heute von denen früher unterscheiden. Das ist nicht nur wissenschaftlich interessant, sondern die Antwort darauf ist auch wichtig für Politik und Gesellschaft. Manche Veränderungen können aufgrund von natürlichen Prozessen erfolgt sein, andere verursacht der Mensch, der die Meere als Nahrungsquelle nutzt, als Transportweg oder Müllkippe. Für welchen Teil der Veränderungen, die wir feststellen, ist der Mensch verantwortlich?"
Poul Holm:
"Um das herauszubekommen haben wir im Rahmen des Meereszensus‘ rund um den Globus 15 Projekte durchgeführt: Unsere Untersuchungen führen uns bis zu 2000 Jahre zurück."
Bis in die Römerzeit - denn schon die haben ihre Küstengewässer und Flussmündungen so stark verändert, dass der Eingriff des Menschen spürbar war. Vor 240 Jahren, als der der britische Entdecker Captain James Cook Australien erreichte und in die Botany Bay bei Sydney einlief, war das Meer voller Fische, denn die Aborigines interessierten sich kaum dafür.
Log-Buch von Captain James Cook, 6. Mai 1770:
Die große Menge an Stachelrochen, die wir hier finden, veranlasst mich dazu, diesem Platz den Namen "Stachelrochenhafen zu geben.
Auch als sich Sydney im 19. Jahrhundert zur Metropole entwickelte, hatte der Mensch wenig Einfluss auf den Reichtum der Bucht. Bis 1914. Damals beschloss die australische Regierung, mit einigen von Großbritannien gekauften Schiffen eine moderne Fischereiflotte aufzubauen. Die Fangflotte zog aus - und machte reiche Beute. Aber schon 13 Jahre später brachen die Bestände zusammen. Die Schiffe fuhren weiter hinaus, erschlossen neue Fischgründe. Auch dort verschwanden die wirtschaftlich interessantesten Arten schnell. Die Fischer suchten noch weiter draußen. Als 1970 Industrieschiffe eingeführt wurden, kam das Ende für die südostaustralische Hochseefischerei - nach nur 60 Jahren.
"Lange hatten wir das Gefühl, dass das Meer so groß ist und unser Einfluss relativ zum Meer so klein, dass es - wenn es Probleme gab - dass diese lokal sein werden, zum Beispiel wenn ein Tanker auf Grund läuft. Wir haben lange nicht geglaubt, dass es möglich ist, dass die Menschen das Meer als Gesamtsystem beeinflussen und verändern können."
Inzwischen belehrten die Forschungsergebnisse uns jedoch eines Bessern, erklärt Meeresbiologe Boris Worm von der Dalhousie University im kanadischen Halifax:
"Da hat sich gezeigt, dass verschiedene Einflüsse des Menschen wirklich globale Auswirkungen haben und das Meer als Gesamtsystem nicht nur verändern können, sondern stark verändert haben."
Überfischung, Klimawandel, Meeresversauerung, Überdüngung, Plastikmüll, Verschmutzung - die Liste der schädlichen Einflüsse ist lang. Der Mensch hat einiges angerichtet. Heute lässt sich der verlorene Reichtum der Meere noch nicht einmal mehr erahnen. Stephen Palumbi, Leiter der Hopkins Marine Station an der Stanford University in Monterey, Kalifornien:
"Stellen wir uns die Meere vor, wie sie waren, bevor wir die großen Fische und die Wale gejagt haben. Außer uns haben sie kaum natürliche Feinde, so dass es so viele von ihnen gab, wie die Ökosysteme hergaben. Wir können das mit den Bisonherden Nordamerika vergleichen: 60 Millionen Tiere zogen einmal über das Land, so viele, dass der Boden unter ihren Hufen bebte. So etwas gibt es heute nicht einmal mehr ansatzweise. Wir haben uns an eine durch den Menschen verarmte Welt gewöhnt, daran, nur wenige Tiere um uns herum zu sehen. Wir haben vergessen, wie unglaublich produktiv die Erde einmal gewesen ist."
Im Meer sind die Veränderungen nicht so offensichtlich. Es läuft alles im Verborgenen. Wann war dort der Sündenfall? Mitte des 20. Jahrhunderts mit der Industriefischerei? Anfang des 20. Jahrhunderts, als die Dampfmaschine den Fischern das Leben erleichterte? Im 19. Jahrhundert, als die Weltbevölkerung rasant zu wachsen begann? Noch früher? Überhaupt: Wie müsste der Maßstab aussehen, an dem der Zustand der Ozeane gemessen wird? Wann ließ sich der Zustand der Meere als "natürlich" bezeichnen? Mit dieser Frage beschäftigt sich Umwelthistoriker Poul Holm seit vielen Jahren:
"1999 hielt ich in Sankt Petersburg einen Vortrag darüber, wie die Menschheit vor Jahrhunderten ihr Protein aus dem Meer geholt hat. Draußen herrschten minus 20 Grad und alle mussten im Saal bleiben. Nach dem Vortrag erklärte mir ein Biologe, wie wertvoll diese historischen Informationen doch für die Biologie wären. Denn wir sind heute zutiefst darüber besorgt, ob wir bei unseren Konzepten, die Meere nachhaltig zu bewirtschaften, die richtigen Referenzen gewählt haben. Derzeit beziehen sich unsere Konzepte meist auf die Daten aus den vergangenen 20 oder vielleicht 30 Jahre."
Also auf Daten, die gerade einmal ein Forscherleben weit zurückreichen: ein sehr kurzer Zeitraum, wenn es um Ökosysteme geht. Und anscheinend ein zu kurzer, um das Jahr Null zu finden, das letzte Jahr, an dem die Ozeane unberührt erschienen.
Für die Rekonstruktion der Vergangenheit arbeiteten unterschiedliche Disziplinen zusammen. Archäologen durchstöberten die Überreste mittelalterlicher Küchenabfälle nach Informationen. Historiker, Soziologen und Biologen studierten 200.000 Speisekarten aus der Zeit seit 1856, um aus den Preisen und dem wechselnden Angebot von Fischen und Meeresfrüchten den Bestand abzuschätzen. Oder sie gingen in den Logbüchern von Walfängern auf die Jagd, in den Archiven von Universitäten, staatlichen Stellen oder Klöstern.
"Die Fischindustrie hat ihre Produktion im Jahre 1929 weiter steigern können…."
Die Geschichte der Meere spiegelt sich in Daten aus aller Herren Länder - deshalb waren oft Sprachkenntnisse wichtig: So studiert Margit Eero von Danmarks Tekniske Universitet für ihre Arbeit im Ostseeraum Unterlagen, die auf deutsch, russisch, dänisch und estnisch geschrieben sind.
Dank der Steuern erwiesen sich die Archive als wahre Fundgruben: Im 15. oder 16. Jahrhundert war Kabeljau im Baltikum so gut wie bares Geld, und man konnte die Herrschenden mit einer Wagenladung voll Ostseefisch zufrieden stellen. Kein Wunder, dass Steuereintreiber ganz genau wissen wollten, wer wann was wo gefangen hat.
"We come up with some amazing results."
Die Ergebnisse der Forschungen waren erstaunlich, urteilt Poul Holm. Etwa für die Nordsee und das Wattenmeer:
"Ganz offensichtlich wird die Nordsee schon seit mehreren Jahrhunderten stark befischt. Dort reichen die Ursprünge der kommerziellen Seefischerei 1000 Jahren weit zurück, in die Zeit, als die Normannen England eroberten. 1050 veränderten sich die Ernährungsgewohnheiten der Menschen: Während sie bis dahin eher Süßwasserfische aßen, finden die Archäologen plötzlich in den Küchenabfällen der Städte Schichten mit Seefischknochen: Hering und Kabeljau tauchen in großen Mengen auf."
Anscheinend reichten Flüsse und Seen nicht mehr aus, um die wachsende Bevölkerung satt zu bekommen - und die Fischer wagten sich mit ihren einfachen Schiffen erst einmal an die Meeresküste. Um 1250 muss es einen neuen Entwicklungssprung in der Fischerei gegeben haben: In den Küchenabfällen tauchen Fische wie Seelachs auf, die im tieferen Wasser leben:
"Die fängt man nicht mehr mit offenen Schiffen, sondern mit solchen, die ein Deck haben und sich für das Fischen in tieferen Gewässern der Nordsee eignen - und die Ökosysteme reagierten: Es hat uns wie ein Blitz getroffen, dass der Fischfang fast von Anfang an die Umwelt veränderte. Wir sehen das im archäologischen Kontext daran, dass die größten Kabeljaue schnell verschwinden und kleinere Exemplare gefangen werden."
Aber noch gingen die Bestände nicht deutlich zurück.
Eine Postkarte aus dem Jahr 1910. Ein weißbärtiger Fischer steht da, hält stolz die Bauchflosse eines Heilbutts in der Hand, der schwer an einem massiven Haken hängt.
123 Kilogramm Heilbutt, gefangen in Princetown, Massachusetts.
Schwer wie fünf Zementsäcke und doppelt so groß und so breit wie der Mann selbst. Ein anderes Bild zeigt einen Fischer aus Maine mit einem Kabeljau. Der Fisch reicht ihm bis zur Schulter, und obwohl die Fotografie schon lange verblichen ist, scheint das tischtennisballgroße Fischauge immer noch zu leuchten. Auf einer kolorierten Fotografie von 1920 scheinen ein Fischer im kalifornischen Santa Barbara zwischen hoch aufgeschütteten Bergen von Abalone-Schnecken zu verschwinden. Obwohl wir heute über solche Fänge staunen, sind es doch schon Bilder aus der Zeit des Niedergangs. Beispiel: Nord- und Ostsee. Ab wann sanken die Bestände durch Überfischung? Das verraten die Daten der niederländischen Heringsfischerei, die bis ins 15. Jahrhundert zurückreichen (PDF-Datei). Poul Holm:
"Das Heringsaufkommen sinkt um das Jahr 1800. Wir können das genau nachvollziehen, weil die Fänge für die Berechnung der Steuern extrem genau dokumentiert worden sind, und ab dann sehen wir eine deutliche Abnahme."
Zu einer Zeit, als die Weltbevölkerung die erste Milliarde überschritt und in Europa die industrielle Revolution lief - aber noch vor den modernen Fangtechnologien. Holm:
"Es hat uns wirklich sehr überrascht, dass die vorindustrielle Fischerei einen so deutlichen Einfluss auf die Ökosysteme hatte. Das gilt nicht nur für Nord- und Ostsee, sondern es ist ein globales Phänomen, das wir überall sehen. Wir haben den Einfluss der frühen Fischerei vollkommen unterschätzt."
In Südostasien war das nicht anders als in Neuseeland oder an der Ostküste Nordamerikas. Die Veränderungen sind so groß, dass wir uns noch nicht einmal mehr vorstellen können, wie die Meere einmal von Leben gewimmelt haben müssen. Anne Marboe von der Roskilde Universität:
"Die gute alte Zeit ist nicht 10, 20, 30, 40 oder 50 Jahre her, sondern 100, 200 oder 300 Jahre. Und selbst damals waren die Meere nicht ursprünglich. Das gibt uns eine Vorstellung davon, was wir wirklich verloren haben. Diese Informationen sind sehr wertvoll, wenn man Pläne für eine nachhaltige Nutzung entwickeln möchte, denn dazu muss man den Ausgangspunkt kennen."
Die Bestimmung der Stunde Null ist wissenschaftlich interessant und wichtig für künftige neue Nutzungskonzepte. Schließlich funktioniert der schönste Rettungsplan nur mit dem richtigen Fundament. Beispiel: das Wattenmeer der Nordsee. Derzeit dient das Jahr 1850 als Maßstab für ein "natürliches" Wattenmeer. Daran richten sich das Monitoringprogramm und die Managementplanungen aus. Aber 1850 ist das falsche Referenzjahr: Das Wattenmeer wird schon seit mindestens 500 Jahren übernutzt. Diese Übernutzung hatte schon lange zuvor Folgen. Boris Worm:
"Die Artenvielfalt, die Fischerei, die Produktivität der Fischerei nahm stark ab. Die Verfügbarkeit an Lebensräumen für den Aufwuchs von Jungfischen nahm stark ab und vielleicht der wichtigste Punkt war, dass die Kapazität des Ökosystems, die Wasserqualität hochzuhalten, verringert wurde."
Früher reinigten reiche Muschel- und Austernbestände das Wasser. Heute ist von ihnen so gut wie nichts mehr übrig - und so ist es vorbei mit der Selbstreinigungskraft. Dazu kommt die Überdüngung, die der Nordsee seit 100 Jahren zu schaffen macht. Deshalb ist das Wasser viel trüber als einst, toxische Algenblüten sind häufiger und fremde Arten haben ein leichtes Spiel in das kränkelnde Ökosystem Wattenmeer einzuwandern. Es geht bergab.
Erhaben und abweisend thront das Solowezki-Kloster auf einer Insel im Weißen Meer. Seit mehr als 500 Jahren schon. Einst war es die "Bastion Gottes im Norden Russlands". Aber die Oktoberrevolution fegte die Mönche davon. Aus dem Kloster wurde ein Arbeitslager, dann eine Schule für Marine-Kadetten. Heute ist es ein Museum, und 1990 kehrten einige Mönche zurück: ein schwacher Widerschein einstiger Größe. Als dem Solowezki-Kloster noch weite Ländereien und die Flüsse gehörten, war es für seine Lachse berühmt. Seit dem 16. Jahrhundert ließen die Mönche die Fische auf dem Weg zu den Laichgründen abfischen: Quer über den Fluss rammten die Bauern Stäbe in den Boden, flochten Zweige ein: Darin verfingen sich viele der wandernden Lache, aber es entkamen auch viele. Trotzdem brachten die Fänge dem Kloster Wohlstand.
Fluss: Divna, Jahr: 1615, gefangene Lachse: 898, Kilogramm: 2440, Durchschnittsgewicht: 2,7 Kilogramm.
Sorgfältig wurden die Fänge über die Jahrhunderte hinweg dokumentiert - denn der Zar forderte seinen Zehnten.
Für das Meereszensus-Projekt H-Map machten sich russische Historiker daran, die vielen handschriftlichen Dokumente auszuwerten. Es war eine langwierige, minutiöse Arbeit: Erst wenn sie wussten, wann ein Dokument geschrieben worden war und welche Privilegien das Kloster damals genoss, ließen sich die Informationen richtig interpretieren. Standen die Zahlen fest, übernahmen Biologen wie Dimitry Lajus vom Projekt Weißes Meer und Barentssee die Arbeit mit der Statistik:
"Wir haben im Lauf der Jahrhunderte genaue Unterlagen für ein- und dasselbe Gebiet bekommen, wo mit ein- und derselben Methode Lachse gefangen wurden. Aber die Fänge unterscheiden sich, wobei offensichtlich der einzige Faktor, der sich änderte, die Größe der Lachspopulation war."
Zwischen dem 16. und dem frühen 20. Jahrhundert hingen gute oder schlechte Lachsjahre davon ab, wie warm oder kalt das Klima war. Um das zu erkennen, hatten die Biologen die Fangzahlen des Klosters mit Klimadaten wie grönländischen Eisbohrkernen verglichen. Der enge Bezug zum Klima verschwand, als das Zwangslager errichtet wurde und die Häftlinge die Wälder abholzten, als Brücken gebaut und das Wasser verschmutzt wurde: Die Zahl der Lachse sank nur noch. So vergleichsweise einfach zu durchschauen sind die Zusammenhänge allerdings nicht immer. Beispiel: Ostsee. Brian MacKenzie:
"Vor allem während der vergangenen 100 Jahre hat der Mensch die Ostsee stark beeinflusst. Trotzdem hat es in den frühen 1980er Jahren in der Ostsee acht- bis zehnmal mehr Kabeljau gegeben als heute - und das, obwohl das Wasser damals sehr viel belasteter war, vor allem mit Giften wie PCB, Dioxinen oder Zinkverbindungen. Obwohl die Umweltverschmutzung inzwischen geringer geworden ist, haben wir kaum noch Kabeljau. Allerdings ist heute das Wasser durch den Klimawandel wärmer als in den vergangenen 120 Jahren"
Untersuchungen zeigen, dass dem Kabeljau die etwas höheren Temperaturen wohl nicht viel ausmachen. Und so war für den Meeresbiologen Brian MacKenzie die Kabeljauschwemme der 1980er Jahre ein Rätsel, dessen Lösung in den Daten der Vergangenheit lag:
"Wenn wir uns die vergangenen 100 Jahre anschauen, sehen wir große Veränderungen im Ökosystem Ostsee. Beispielsweise durch die Überdüngung aus Abwässern und Landwirtschaft. Wir nutzen sie im Grunde genommen als Kläranlage und haben aus der nährstoffarmen Ostsee eine nährstoffreiche gemacht. Je mehr Dünger im Wasser ist, um so besser wachsen die Algen. Das System wird produktiver, und es werden mehr Fische satt. Aber es gibt einen Haken: Sterben die Algen ab, sinken sie zu Boden und verbrauchen für die Zersetzung den Sauerstoff im Wasser."
Sauerstoffarme Zonen entstehen, und gegen die hilft nur Durchlüften - sprich: Der Wind muss frisches, sauerstoff- und salzreiches Wasser aus der Nordsee herüber treiben und die Wasserqualität verbessern. Früher passierte das alle zwei, drei Jahre. Aber inzwischen kommt der frische Salzwasserpuls seltener. Weil gleichzeitig Regen und Flüsse Süßwasser heranschaffen, verwandelt sich die Ostsee in eine Art Torte: Eine dicke Lage aus leichtem, salzarmem Wasser schwimmt obenauf und schneidet die tieferen, salzigeren und sauerstoffarmen Schichten von der Luft ab. Der Kabeljau-Nachwuchs schlüpft jedoch dort, wo der Salzgehalt stimmt - und genau in der Zone fehlt der Sauerstoff. MacKenzie:
"Das heißt, der Fortpflanzungserfolg des Kabeljaus sank. Gleichzeitig wurde er seit den 1980er Jahren intensiver befischt. Die Folge: Die Bestände schwanden. Daran konnte selbst ein Zufluss von frischem Nordseewasser im Jahr 1993 nichts ändern - jedenfalls nicht dauerhaft - , ebensowenig der von 2003. Es ging bergab, weil es einfach zu selten frisches Wasser gab. Erst seit die Fischerei auf den Kabeljau stark eingeschränkt worden ist, steigen die Bestandszahlen wieder."
Um das Problem zu lösen - sprich: den Sauerstoffmangel in den tieferen Wasserschichten der Ostsee zu lindern -, müsste die Überdüngung massiv eingedämmt werden. Aber dann wachsen die Algen schlechter, und es gibt für alle weniger zu fressen. Sinkt dann nicht auch der Fischbestand? MacKenzie:
"Anscheinend war die Biomasse im späten 15. und im 16. Jahrhundert ähnlich hoch wie während der frühen 1980er Jahre. Das belegen die Fangzahlen, die gut waren, obwohl die Fischer der Renaissance mit sehr viel primitiveren Methoden arbeiteten als die Fischer heute und es damals sehr viel mehr Robben gab. Falls wir aus der Ostsee wieder ein nährstoffarmes Meer machen und die Fischerei nachhaltig betreiben, müssten wir sogar mehr Kabeljau in der Ostsee haben als jetzt."
Falls der Wind immer wieder frisches Wasser aus der Nordsee bringt - und der Klimawandel nicht so stark ausfällt, dass das Futter für die Jungfische knapp wird. Denn die kleinen Garnelen, von denen sich der kleine Kabeljau ernährt, vertragen höhere Temperaturen kaum.
Vor mehr 300 Jahren muss die Karibik ein Naturwunder gewesen sein. Herden von Suppenschildkröten knabberten Seegraswiesen ab, während sich an den Riffen Schwärme von Karettschildkröten über die Schwämme hermachten. Wie auf einer Almwiese ließ auch in der Karibik der Hunger der großen Fresser den Lebensraum bunt und vielfältig werden. So war es bis ins 17. Jahrhundert. Von da an belegen die Bücher britischer Kaufleute, dass sie Jahr für Jahr Millionen von Meeresschildkröten exportierten - wegen des Fleisches und des enorm profitablen Schildpatts, das für sündhaft teure Dekorationsgegenstände in Mode war. Der Raubbau vernichtete dieses Wunder. Auch wenn Hobbytaucher von der Karibik schwärmen: Riffe und Seegraswiesen sind nur noch ein Schatten ihrer selbst. Poul Holm:
"Das Herausnehmen der Schildkröten löste im Ökosystem eine Kaskade aus. Die artenreichen Seegraswiesen beispielsweise verwandelten sich in Wüsten, in denen nur noch eine Seegrasart wuchert und Seegurken den Ton angeben. Solche Kaskadeneffekte haben wir in vielen Ökosystemen beobachtet - und das ist wohl die wichtigste Botschaft, die wir aus der Geschichte mitnehmen können."
Die Lehre der Vergangenheit: Wann immer im Meer ein Nahrungsnetz seiner prominentesten Mitglieder beraubt wird, schlagen die Veränderungen bis zur Basis durch - und meist erhalten dann Lebewesen eine Chance, mit denen der Mensch nicht viel anfangen kann. Es liegt also in seinem Interesse, dass die Spitze nicht verschwindet. Holm:
"Vor 50 Jahren erschien ein sehr einflussreiches Buch, das erklärte, dass die Menschheit sich im 21. Jahrhundert den Ozeanen zuwenden und sie als unerschöpflichen Proteinquellen ausschöpfen werde. Heute wissen wir leider, dass die Meere nur eine sehr begrenzte Kapazität haben, uns zu versorgen."
Allein in den vergangenen 20 Jahren hat die Menschheit 90 Millionen Tonnen Fisch und Meeresfrüchte herausgeholt. Trotz der Computer an Bord, der Hightech-Sonare, der intelligenten Fischnetze - die Fänge werden nicht größer. Wie beim Öl könnte auch beim Fisch das Maximum überschritten sein. Die Meere geben einfach nicht mehr her. Holm:
"Die Meere geben einfach nicht mehr her."
Den zweiten Teil Momentaufnahmen des Jetzt hören Sie am Ostersonntag, 16:30 Uhr,
den dritten Teil Zukunftsmodell Meer am Ostermontag, 16:30 Uhr.
Die See wimmelt von Fischen, die wir nicht nur mit Netzen herausholen können, sondern auch mit Körben, die wir zusammen mit einem Stein hinablassen, so dass sie ins Wasser sinken.
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1497 - fünf Jahre, nachdem Christoph Kolumbus die Karibischen Inseln entdeckt hatte -, berichtete Botschafter Raimondi de Soncino dem Herzog von Mailand Außergewöhnliches über die Entdeckungsfahrt des Genuesers Giovanni Caboto nach Neufundland. Die Nachricht von den reichen Fischgründen verbreitete sich schnell, und schon bald brachen Fischer aus ganz Europa dorthin auf, um den Alten Kontinent mit Stockfisch zu versorgen... Die Fischgründe entlang der nordamerikanischen Atlantikküste schienen ein Schlaraffenland zu sein: Als 1602 der Engländer Bartholomew Gosmold an einer Stelle landete, die heute Cape Cod heißt - Kabeljaukap -, fühlte er sich durch den Kabeljau "belästigt", wie er schrieb:
Sie stehen so dicht nebeneinander, dass es fast unmöglich ist, mit einem Beiboot an Land zu rudern.
Die Fischerei wurde ein wichtiger Wirtschaftsfaktor für die amerikanischen Kolonien - und sie blieb es, als aus Kolonien längst selbständige Staaten geworden waren, bis ins späte 20. Jahrhundert. Am 2. Juli 1992 schloss das Fischerei-Unternehmen "Canadian Grand Banks Northern Cod Fishery" seine Tore - nach einem halben Jahrtausend des Firmenbestehens: In Neufundland und Labrador war der Kabeljaubestand zusammengebrochen. Ebenso weiter südlich vor der Küste von Maine. Der Grund: die Industrialisierung der Fischerei nach dem Zweiten Weltkrieg. Das Fabrikschiff "Fairtry" hat 1951 den Anfang gemacht, und seitdem durchkämmen immer größere und vor allem immer besser ausgestattete Supertrawler die Meere. Sie schleppen beispielsweise anderthalb Kilometer lange Netze durchs Meer, deren hochhaushohen Öffnungen nichts entkommt. Leistungsstarke Winden holen die bis zu 1200 Tonnen schwere Beute an Bord.
Trawl für Trawl verschwindet der Reichtum des Meeres in den Bäuchen der Schiffe - ausgenommen, zerlegt und eingefroren. Bis so gut wie nichts mehr übrig ist. Von Fischen "belästigt" wird sich heute niemand mehr fühlen: Was im Jahr 2005 in einem 700 Kilometer langen Küstenabschnitt vor Ostkanada an erwachsenem Kabeljau zu finden gewesen wäre, hätte gerade einmal 16 kleine Segelschiffe aus dem amerikanischen Bürgerkrieg gefüllt.
Was wissen wir über den Reichtum der Meere und die Vielfalt des Lebens in den Ozeanen? Um dieser Frage nachzugehen, war 1997 eine kleine Gruppe von Wissenschaftlern an der Scripps Institution of Oceanography im kalifornischen La Jolla zusammengekommen. Ihr Fazit: Ende des 20. Jahrhunderts ist das Unwissen über die Meere so groß wie die Ozeane selbst. Aber die Gruppe wollten das ändern: So wurde dieses Treffen die Geburtsstunde des von der Alfred-P.-Sloan-Foundation unterstützten Meereszensus, der Volkszählung mariner Lebewesen, an der rund 2000 Forscher teilnehmen sollten:
"Als der Zensus vor zehn Jahren begann, glaubten wir, dass die Meere für die Menschheit so etwas wie die letzte Grenze sind. Die Menschen waren schon überall, selbst auf dem Mond, aber es gibt auf der Erde noch so viel, das wir nicht wissen, vielleicht nie wissen werden."
Die Dänin Anne Marboe von der Roskilde Universitet gehört zu den Koordinatoren von H-Map, einem der 17 Teilprojekte des Meereszensus. Es ist ein besonderes Projekt, bei dem es darum geht, ein Bild der Vergangenheit zu entwerfen: Wie die Meere waren, bevor der Mensch sie tiefgreifend zu verändern begann:
"We have taken out 90 percent of the top level of the food web. That‘s a worry in itself."
90 Prozent der Tiere an der Spitze des Nahrungsnetzes haben wir aus den Meeren geholt, erklärt Poul Holm, Umwelthistoriker vom Trinity College im irischen Dublin: Das an sich sei schon beunruhigend. Noch beunruhigender sei, dass der Einfluss des Menschen überall zu spüren wäre. Anne Marboe:
"I don't think you will see anywhere the idea of the pristine. Humans HAS had its impact everywhere in the oceans."
Noch nicht einmal mehr die Tiefsee ist unberührt: Umweltverschmutzung und Industriefischerei erreichen auch sie. Der Zustand der Meere heute hat nicht mehr viel mit dem vor 50 oder 100 und mehr Jahren zu tun, urteilt Brian MacKenzie von Danmarks Tekniske Universitet in Lyngby:
"Die Frage ist jedoch, warum sich die Meere heute von denen früher unterscheiden. Das ist nicht nur wissenschaftlich interessant, sondern die Antwort darauf ist auch wichtig für Politik und Gesellschaft. Manche Veränderungen können aufgrund von natürlichen Prozessen erfolgt sein, andere verursacht der Mensch, der die Meere als Nahrungsquelle nutzt, als Transportweg oder Müllkippe. Für welchen Teil der Veränderungen, die wir feststellen, ist der Mensch verantwortlich?"
Poul Holm:
"Um das herauszubekommen haben wir im Rahmen des Meereszensus‘ rund um den Globus 15 Projekte durchgeführt: Unsere Untersuchungen führen uns bis zu 2000 Jahre zurück."
Bis in die Römerzeit - denn schon die haben ihre Küstengewässer und Flussmündungen so stark verändert, dass der Eingriff des Menschen spürbar war. Vor 240 Jahren, als der der britische Entdecker Captain James Cook Australien erreichte und in die Botany Bay bei Sydney einlief, war das Meer voller Fische, denn die Aborigines interessierten sich kaum dafür.
Log-Buch von Captain James Cook, 6. Mai 1770:
Die große Menge an Stachelrochen, die wir hier finden, veranlasst mich dazu, diesem Platz den Namen "Stachelrochenhafen zu geben.
Auch als sich Sydney im 19. Jahrhundert zur Metropole entwickelte, hatte der Mensch wenig Einfluss auf den Reichtum der Bucht. Bis 1914. Damals beschloss die australische Regierung, mit einigen von Großbritannien gekauften Schiffen eine moderne Fischereiflotte aufzubauen. Die Fangflotte zog aus - und machte reiche Beute. Aber schon 13 Jahre später brachen die Bestände zusammen. Die Schiffe fuhren weiter hinaus, erschlossen neue Fischgründe. Auch dort verschwanden die wirtschaftlich interessantesten Arten schnell. Die Fischer suchten noch weiter draußen. Als 1970 Industrieschiffe eingeführt wurden, kam das Ende für die südostaustralische Hochseefischerei - nach nur 60 Jahren.
"Lange hatten wir das Gefühl, dass das Meer so groß ist und unser Einfluss relativ zum Meer so klein, dass es - wenn es Probleme gab - dass diese lokal sein werden, zum Beispiel wenn ein Tanker auf Grund läuft. Wir haben lange nicht geglaubt, dass es möglich ist, dass die Menschen das Meer als Gesamtsystem beeinflussen und verändern können."
Inzwischen belehrten die Forschungsergebnisse uns jedoch eines Bessern, erklärt Meeresbiologe Boris Worm von der Dalhousie University im kanadischen Halifax:
"Da hat sich gezeigt, dass verschiedene Einflüsse des Menschen wirklich globale Auswirkungen haben und das Meer als Gesamtsystem nicht nur verändern können, sondern stark verändert haben."
Überfischung, Klimawandel, Meeresversauerung, Überdüngung, Plastikmüll, Verschmutzung - die Liste der schädlichen Einflüsse ist lang. Der Mensch hat einiges angerichtet. Heute lässt sich der verlorene Reichtum der Meere noch nicht einmal mehr erahnen. Stephen Palumbi, Leiter der Hopkins Marine Station an der Stanford University in Monterey, Kalifornien:
"Stellen wir uns die Meere vor, wie sie waren, bevor wir die großen Fische und die Wale gejagt haben. Außer uns haben sie kaum natürliche Feinde, so dass es so viele von ihnen gab, wie die Ökosysteme hergaben. Wir können das mit den Bisonherden Nordamerika vergleichen: 60 Millionen Tiere zogen einmal über das Land, so viele, dass der Boden unter ihren Hufen bebte. So etwas gibt es heute nicht einmal mehr ansatzweise. Wir haben uns an eine durch den Menschen verarmte Welt gewöhnt, daran, nur wenige Tiere um uns herum zu sehen. Wir haben vergessen, wie unglaublich produktiv die Erde einmal gewesen ist."
Im Meer sind die Veränderungen nicht so offensichtlich. Es läuft alles im Verborgenen. Wann war dort der Sündenfall? Mitte des 20. Jahrhunderts mit der Industriefischerei? Anfang des 20. Jahrhunderts, als die Dampfmaschine den Fischern das Leben erleichterte? Im 19. Jahrhundert, als die Weltbevölkerung rasant zu wachsen begann? Noch früher? Überhaupt: Wie müsste der Maßstab aussehen, an dem der Zustand der Ozeane gemessen wird? Wann ließ sich der Zustand der Meere als "natürlich" bezeichnen? Mit dieser Frage beschäftigt sich Umwelthistoriker Poul Holm seit vielen Jahren:
"1999 hielt ich in Sankt Petersburg einen Vortrag darüber, wie die Menschheit vor Jahrhunderten ihr Protein aus dem Meer geholt hat. Draußen herrschten minus 20 Grad und alle mussten im Saal bleiben. Nach dem Vortrag erklärte mir ein Biologe, wie wertvoll diese historischen Informationen doch für die Biologie wären. Denn wir sind heute zutiefst darüber besorgt, ob wir bei unseren Konzepten, die Meere nachhaltig zu bewirtschaften, die richtigen Referenzen gewählt haben. Derzeit beziehen sich unsere Konzepte meist auf die Daten aus den vergangenen 20 oder vielleicht 30 Jahre."
Also auf Daten, die gerade einmal ein Forscherleben weit zurückreichen: ein sehr kurzer Zeitraum, wenn es um Ökosysteme geht. Und anscheinend ein zu kurzer, um das Jahr Null zu finden, das letzte Jahr, an dem die Ozeane unberührt erschienen.
Für die Rekonstruktion der Vergangenheit arbeiteten unterschiedliche Disziplinen zusammen. Archäologen durchstöberten die Überreste mittelalterlicher Küchenabfälle nach Informationen. Historiker, Soziologen und Biologen studierten 200.000 Speisekarten aus der Zeit seit 1856, um aus den Preisen und dem wechselnden Angebot von Fischen und Meeresfrüchten den Bestand abzuschätzen. Oder sie gingen in den Logbüchern von Walfängern auf die Jagd, in den Archiven von Universitäten, staatlichen Stellen oder Klöstern.
"Die Fischindustrie hat ihre Produktion im Jahre 1929 weiter steigern können…."
Die Geschichte der Meere spiegelt sich in Daten aus aller Herren Länder - deshalb waren oft Sprachkenntnisse wichtig: So studiert Margit Eero von Danmarks Tekniske Universitet für ihre Arbeit im Ostseeraum Unterlagen, die auf deutsch, russisch, dänisch und estnisch geschrieben sind.
Dank der Steuern erwiesen sich die Archive als wahre Fundgruben: Im 15. oder 16. Jahrhundert war Kabeljau im Baltikum so gut wie bares Geld, und man konnte die Herrschenden mit einer Wagenladung voll Ostseefisch zufrieden stellen. Kein Wunder, dass Steuereintreiber ganz genau wissen wollten, wer wann was wo gefangen hat.
"We come up with some amazing results."
Die Ergebnisse der Forschungen waren erstaunlich, urteilt Poul Holm. Etwa für die Nordsee und das Wattenmeer:
"Ganz offensichtlich wird die Nordsee schon seit mehreren Jahrhunderten stark befischt. Dort reichen die Ursprünge der kommerziellen Seefischerei 1000 Jahren weit zurück, in die Zeit, als die Normannen England eroberten. 1050 veränderten sich die Ernährungsgewohnheiten der Menschen: Während sie bis dahin eher Süßwasserfische aßen, finden die Archäologen plötzlich in den Küchenabfällen der Städte Schichten mit Seefischknochen: Hering und Kabeljau tauchen in großen Mengen auf."
Anscheinend reichten Flüsse und Seen nicht mehr aus, um die wachsende Bevölkerung satt zu bekommen - und die Fischer wagten sich mit ihren einfachen Schiffen erst einmal an die Meeresküste. Um 1250 muss es einen neuen Entwicklungssprung in der Fischerei gegeben haben: In den Küchenabfällen tauchen Fische wie Seelachs auf, die im tieferen Wasser leben:
"Die fängt man nicht mehr mit offenen Schiffen, sondern mit solchen, die ein Deck haben und sich für das Fischen in tieferen Gewässern der Nordsee eignen - und die Ökosysteme reagierten: Es hat uns wie ein Blitz getroffen, dass der Fischfang fast von Anfang an die Umwelt veränderte. Wir sehen das im archäologischen Kontext daran, dass die größten Kabeljaue schnell verschwinden und kleinere Exemplare gefangen werden."
Aber noch gingen die Bestände nicht deutlich zurück.
Eine Postkarte aus dem Jahr 1910. Ein weißbärtiger Fischer steht da, hält stolz die Bauchflosse eines Heilbutts in der Hand, der schwer an einem massiven Haken hängt.
123 Kilogramm Heilbutt, gefangen in Princetown, Massachusetts.
Schwer wie fünf Zementsäcke und doppelt so groß und so breit wie der Mann selbst. Ein anderes Bild zeigt einen Fischer aus Maine mit einem Kabeljau. Der Fisch reicht ihm bis zur Schulter, und obwohl die Fotografie schon lange verblichen ist, scheint das tischtennisballgroße Fischauge immer noch zu leuchten. Auf einer kolorierten Fotografie von 1920 scheinen ein Fischer im kalifornischen Santa Barbara zwischen hoch aufgeschütteten Bergen von Abalone-Schnecken zu verschwinden. Obwohl wir heute über solche Fänge staunen, sind es doch schon Bilder aus der Zeit des Niedergangs. Beispiel: Nord- und Ostsee. Ab wann sanken die Bestände durch Überfischung? Das verraten die Daten der niederländischen Heringsfischerei, die bis ins 15. Jahrhundert zurückreichen (PDF-Datei). Poul Holm:
"Das Heringsaufkommen sinkt um das Jahr 1800. Wir können das genau nachvollziehen, weil die Fänge für die Berechnung der Steuern extrem genau dokumentiert worden sind, und ab dann sehen wir eine deutliche Abnahme."
Zu einer Zeit, als die Weltbevölkerung die erste Milliarde überschritt und in Europa die industrielle Revolution lief - aber noch vor den modernen Fangtechnologien. Holm:
"Es hat uns wirklich sehr überrascht, dass die vorindustrielle Fischerei einen so deutlichen Einfluss auf die Ökosysteme hatte. Das gilt nicht nur für Nord- und Ostsee, sondern es ist ein globales Phänomen, das wir überall sehen. Wir haben den Einfluss der frühen Fischerei vollkommen unterschätzt."
In Südostasien war das nicht anders als in Neuseeland oder an der Ostküste Nordamerikas. Die Veränderungen sind so groß, dass wir uns noch nicht einmal mehr vorstellen können, wie die Meere einmal von Leben gewimmelt haben müssen. Anne Marboe von der Roskilde Universität:
"Die gute alte Zeit ist nicht 10, 20, 30, 40 oder 50 Jahre her, sondern 100, 200 oder 300 Jahre. Und selbst damals waren die Meere nicht ursprünglich. Das gibt uns eine Vorstellung davon, was wir wirklich verloren haben. Diese Informationen sind sehr wertvoll, wenn man Pläne für eine nachhaltige Nutzung entwickeln möchte, denn dazu muss man den Ausgangspunkt kennen."
Die Bestimmung der Stunde Null ist wissenschaftlich interessant und wichtig für künftige neue Nutzungskonzepte. Schließlich funktioniert der schönste Rettungsplan nur mit dem richtigen Fundament. Beispiel: das Wattenmeer der Nordsee. Derzeit dient das Jahr 1850 als Maßstab für ein "natürliches" Wattenmeer. Daran richten sich das Monitoringprogramm und die Managementplanungen aus. Aber 1850 ist das falsche Referenzjahr: Das Wattenmeer wird schon seit mindestens 500 Jahren übernutzt. Diese Übernutzung hatte schon lange zuvor Folgen. Boris Worm:
"Die Artenvielfalt, die Fischerei, die Produktivität der Fischerei nahm stark ab. Die Verfügbarkeit an Lebensräumen für den Aufwuchs von Jungfischen nahm stark ab und vielleicht der wichtigste Punkt war, dass die Kapazität des Ökosystems, die Wasserqualität hochzuhalten, verringert wurde."
Früher reinigten reiche Muschel- und Austernbestände das Wasser. Heute ist von ihnen so gut wie nichts mehr übrig - und so ist es vorbei mit der Selbstreinigungskraft. Dazu kommt die Überdüngung, die der Nordsee seit 100 Jahren zu schaffen macht. Deshalb ist das Wasser viel trüber als einst, toxische Algenblüten sind häufiger und fremde Arten haben ein leichtes Spiel in das kränkelnde Ökosystem Wattenmeer einzuwandern. Es geht bergab.
Erhaben und abweisend thront das Solowezki-Kloster auf einer Insel im Weißen Meer. Seit mehr als 500 Jahren schon. Einst war es die "Bastion Gottes im Norden Russlands". Aber die Oktoberrevolution fegte die Mönche davon. Aus dem Kloster wurde ein Arbeitslager, dann eine Schule für Marine-Kadetten. Heute ist es ein Museum, und 1990 kehrten einige Mönche zurück: ein schwacher Widerschein einstiger Größe. Als dem Solowezki-Kloster noch weite Ländereien und die Flüsse gehörten, war es für seine Lachse berühmt. Seit dem 16. Jahrhundert ließen die Mönche die Fische auf dem Weg zu den Laichgründen abfischen: Quer über den Fluss rammten die Bauern Stäbe in den Boden, flochten Zweige ein: Darin verfingen sich viele der wandernden Lache, aber es entkamen auch viele. Trotzdem brachten die Fänge dem Kloster Wohlstand.
Fluss: Divna, Jahr: 1615, gefangene Lachse: 898, Kilogramm: 2440, Durchschnittsgewicht: 2,7 Kilogramm.
Sorgfältig wurden die Fänge über die Jahrhunderte hinweg dokumentiert - denn der Zar forderte seinen Zehnten.
Für das Meereszensus-Projekt H-Map machten sich russische Historiker daran, die vielen handschriftlichen Dokumente auszuwerten. Es war eine langwierige, minutiöse Arbeit: Erst wenn sie wussten, wann ein Dokument geschrieben worden war und welche Privilegien das Kloster damals genoss, ließen sich die Informationen richtig interpretieren. Standen die Zahlen fest, übernahmen Biologen wie Dimitry Lajus vom Projekt Weißes Meer und Barentssee die Arbeit mit der Statistik:
"Wir haben im Lauf der Jahrhunderte genaue Unterlagen für ein- und dasselbe Gebiet bekommen, wo mit ein- und derselben Methode Lachse gefangen wurden. Aber die Fänge unterscheiden sich, wobei offensichtlich der einzige Faktor, der sich änderte, die Größe der Lachspopulation war."
Zwischen dem 16. und dem frühen 20. Jahrhundert hingen gute oder schlechte Lachsjahre davon ab, wie warm oder kalt das Klima war. Um das zu erkennen, hatten die Biologen die Fangzahlen des Klosters mit Klimadaten wie grönländischen Eisbohrkernen verglichen. Der enge Bezug zum Klima verschwand, als das Zwangslager errichtet wurde und die Häftlinge die Wälder abholzten, als Brücken gebaut und das Wasser verschmutzt wurde: Die Zahl der Lachse sank nur noch. So vergleichsweise einfach zu durchschauen sind die Zusammenhänge allerdings nicht immer. Beispiel: Ostsee. Brian MacKenzie:
"Vor allem während der vergangenen 100 Jahre hat der Mensch die Ostsee stark beeinflusst. Trotzdem hat es in den frühen 1980er Jahren in der Ostsee acht- bis zehnmal mehr Kabeljau gegeben als heute - und das, obwohl das Wasser damals sehr viel belasteter war, vor allem mit Giften wie PCB, Dioxinen oder Zinkverbindungen. Obwohl die Umweltverschmutzung inzwischen geringer geworden ist, haben wir kaum noch Kabeljau. Allerdings ist heute das Wasser durch den Klimawandel wärmer als in den vergangenen 120 Jahren"
Untersuchungen zeigen, dass dem Kabeljau die etwas höheren Temperaturen wohl nicht viel ausmachen. Und so war für den Meeresbiologen Brian MacKenzie die Kabeljauschwemme der 1980er Jahre ein Rätsel, dessen Lösung in den Daten der Vergangenheit lag:
"Wenn wir uns die vergangenen 100 Jahre anschauen, sehen wir große Veränderungen im Ökosystem Ostsee. Beispielsweise durch die Überdüngung aus Abwässern und Landwirtschaft. Wir nutzen sie im Grunde genommen als Kläranlage und haben aus der nährstoffarmen Ostsee eine nährstoffreiche gemacht. Je mehr Dünger im Wasser ist, um so besser wachsen die Algen. Das System wird produktiver, und es werden mehr Fische satt. Aber es gibt einen Haken: Sterben die Algen ab, sinken sie zu Boden und verbrauchen für die Zersetzung den Sauerstoff im Wasser."
Sauerstoffarme Zonen entstehen, und gegen die hilft nur Durchlüften - sprich: Der Wind muss frisches, sauerstoff- und salzreiches Wasser aus der Nordsee herüber treiben und die Wasserqualität verbessern. Früher passierte das alle zwei, drei Jahre. Aber inzwischen kommt der frische Salzwasserpuls seltener. Weil gleichzeitig Regen und Flüsse Süßwasser heranschaffen, verwandelt sich die Ostsee in eine Art Torte: Eine dicke Lage aus leichtem, salzarmem Wasser schwimmt obenauf und schneidet die tieferen, salzigeren und sauerstoffarmen Schichten von der Luft ab. Der Kabeljau-Nachwuchs schlüpft jedoch dort, wo der Salzgehalt stimmt - und genau in der Zone fehlt der Sauerstoff. MacKenzie:
"Das heißt, der Fortpflanzungserfolg des Kabeljaus sank. Gleichzeitig wurde er seit den 1980er Jahren intensiver befischt. Die Folge: Die Bestände schwanden. Daran konnte selbst ein Zufluss von frischem Nordseewasser im Jahr 1993 nichts ändern - jedenfalls nicht dauerhaft - , ebensowenig der von 2003. Es ging bergab, weil es einfach zu selten frisches Wasser gab. Erst seit die Fischerei auf den Kabeljau stark eingeschränkt worden ist, steigen die Bestandszahlen wieder."
Um das Problem zu lösen - sprich: den Sauerstoffmangel in den tieferen Wasserschichten der Ostsee zu lindern -, müsste die Überdüngung massiv eingedämmt werden. Aber dann wachsen die Algen schlechter, und es gibt für alle weniger zu fressen. Sinkt dann nicht auch der Fischbestand? MacKenzie:
"Anscheinend war die Biomasse im späten 15. und im 16. Jahrhundert ähnlich hoch wie während der frühen 1980er Jahre. Das belegen die Fangzahlen, die gut waren, obwohl die Fischer der Renaissance mit sehr viel primitiveren Methoden arbeiteten als die Fischer heute und es damals sehr viel mehr Robben gab. Falls wir aus der Ostsee wieder ein nährstoffarmes Meer machen und die Fischerei nachhaltig betreiben, müssten wir sogar mehr Kabeljau in der Ostsee haben als jetzt."
Falls der Wind immer wieder frisches Wasser aus der Nordsee bringt - und der Klimawandel nicht so stark ausfällt, dass das Futter für die Jungfische knapp wird. Denn die kleinen Garnelen, von denen sich der kleine Kabeljau ernährt, vertragen höhere Temperaturen kaum.
Vor mehr 300 Jahren muss die Karibik ein Naturwunder gewesen sein. Herden von Suppenschildkröten knabberten Seegraswiesen ab, während sich an den Riffen Schwärme von Karettschildkröten über die Schwämme hermachten. Wie auf einer Almwiese ließ auch in der Karibik der Hunger der großen Fresser den Lebensraum bunt und vielfältig werden. So war es bis ins 17. Jahrhundert. Von da an belegen die Bücher britischer Kaufleute, dass sie Jahr für Jahr Millionen von Meeresschildkröten exportierten - wegen des Fleisches und des enorm profitablen Schildpatts, das für sündhaft teure Dekorationsgegenstände in Mode war. Der Raubbau vernichtete dieses Wunder. Auch wenn Hobbytaucher von der Karibik schwärmen: Riffe und Seegraswiesen sind nur noch ein Schatten ihrer selbst. Poul Holm:
"Das Herausnehmen der Schildkröten löste im Ökosystem eine Kaskade aus. Die artenreichen Seegraswiesen beispielsweise verwandelten sich in Wüsten, in denen nur noch eine Seegrasart wuchert und Seegurken den Ton angeben. Solche Kaskadeneffekte haben wir in vielen Ökosystemen beobachtet - und das ist wohl die wichtigste Botschaft, die wir aus der Geschichte mitnehmen können."
Die Lehre der Vergangenheit: Wann immer im Meer ein Nahrungsnetz seiner prominentesten Mitglieder beraubt wird, schlagen die Veränderungen bis zur Basis durch - und meist erhalten dann Lebewesen eine Chance, mit denen der Mensch nicht viel anfangen kann. Es liegt also in seinem Interesse, dass die Spitze nicht verschwindet. Holm:
"Vor 50 Jahren erschien ein sehr einflussreiches Buch, das erklärte, dass die Menschheit sich im 21. Jahrhundert den Ozeanen zuwenden und sie als unerschöpflichen Proteinquellen ausschöpfen werde. Heute wissen wir leider, dass die Meere nur eine sehr begrenzte Kapazität haben, uns zu versorgen."
Allein in den vergangenen 20 Jahren hat die Menschheit 90 Millionen Tonnen Fisch und Meeresfrüchte herausgeholt. Trotz der Computer an Bord, der Hightech-Sonare, der intelligenten Fischnetze - die Fänge werden nicht größer. Wie beim Öl könnte auch beim Fisch das Maximum überschritten sein. Die Meere geben einfach nicht mehr her. Holm:
"Die Meere geben einfach nicht mehr her."
Den zweiten Teil Momentaufnahmen des Jetzt hören Sie am Ostersonntag, 16:30 Uhr,
den dritten Teil Zukunftsmodell Meer am Ostermontag, 16:30 Uhr.