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Welche Perspektiven ergeben sich für Estland mit dem EU-Beitritt?

Engels: Es ist das nördlichste Land der drei baltischen Staaten und Estland ist eines der kleinsten Länder, die im kommenden Frühjahr der Europäischen Union beitreten wollen. Die 1,4 Millionen Esten haben in den dreizehn Jahren ihrer Unabhängigkeit durch radikale marktwirtschaftliche Reformen rasante wirtschaftliche Fortschritte erzielt. Doch die sozialen Spannungen und Probleme nahmen in dieser Zeit ebenfalls zu und trotz der wirtschaftlichen Fortschritte sind längst nicht alle Esten begeistert von dem anstehenden EU Beitritt 2004. Europaskepsis ist weit verbreitet. Lennart Meri, bekannter estnischer Publizist und von 1992 bis 2001 Staatspräsident seines Landes, war immer ein großer Befürworter des EU-Beitrittes. Mit ihm habe ich vor der Sendung gesprochen. Und die erste Frage: Warum sind die Esten trotz Wirtschaftsaufschwung so zögernd gegenüber der Europäischen Union?

    Meri: Wir haben so einen Slogan, wie man es so schön auf Deutsch sagt. Dem gemäß wir aus der einen Sowjetunion nicht darum ausgetreten sind, um in eine andere Union hineinzutreten. Das ist etwas, was ein Este sehr gut begreifen kann, wenn er nicht politisch denkt. Denn wir waren ja einer Besatzung unterlegen und das freie Europa muss auch in Estland immer noch entdeckt werden, wie übrigens auch in Deutschland.

    Engels: Laut einer jüngsten Umfrage der EU-Kommission sind es bis jetzt nur 31 Prozent der Esten die den EU-Beitritt befürworten. Denken Sie denn es werden mehr?

    Meri: Da muss ich gleich eingreifen, die Zeitungen haben eine ganz positive Zahl von 62 Prozent veröffentlicht.

    Engels: Das heißt die Esten können sich auch durchaus mit den wirtschaftlichen Vorteilen, aber auch damit anfreunden, dass sie ihre frische Souveränität abgeben müssen.

    Meri: Das ist ja das Schöne an der EU. Auch Deutschland hat gewissermaßen seine Souveränität Europa opfern müssen. Das beste Beispiel ist vielleicht die deutsch- französische Zusammenarbeit, Freundschaft, eine Kooperation, die man sich eigentlich nicht vorstellen konnte vor dem Zweiten Weltkrieg, vor dem Ersten Weltkrieg und so weiter. Die Tatsache, dass die EU einen Teil ihrer Souveränität auch so einem kleinen Lande, wie Estland opfert, das ist ja eigentlich mathematisch selbstverständlich, aber das können die Landsleute von mir, die 50 Jahre unter einer sowjetischen Diktatur gelebt haben, sich eigentlich nicht ganz realistisch vorstellen.

    Engels: Ab dem kommenden Oktober beginnen ja die Verhandlungen in einer Regierungskonferenz über die EU-Verfassung. Auch Estland hat da noch Nachbesserungswünsche, welche sind das?

    Meri: Ich glaube im Großen und Ganzen sind die Resultate, die wir unter Giscard d'Estaings Leitung erworben haben, auch für Estland ganz gut. Wir möchten natürlich, dass auch die kleinen Staaten mitreden können und nicht formell, sondern auch in den Problemen, die die EU im weitesten Sinne angehen. Und ich glaube, dass das Dokument von Brüssel mehr oder weniger schon fertig ist. Die kleinen Staaten haben ja viel dazu beigetragen und für mich sind eigentlich die kleinen Staaten, na sagen wir, so ein Zement, ein Mörtel zwischen den großen Steinen, die vielleicht in Problemen, wo es keine Einigkeit gibt, mit ihrer bescheidenen Stimme doch dazu beitragen können, dass Europa als ein Ganzes denken und handeln wird.

    Engels: Nun ist ja geplant in der neuen Verfassung, in dem Entwurf, wie er vorliegt, dass beispielsweise die EU-Kommission verkleinert wird. Das hieße, dass auch Estland zeitweise keine Stimme in der EU-Kommission, die abstimmungsberechtigt ist, hätte. Kann Estland das ertragen?

    Meri: Wir möchten natürlich überall mitreden und ,was für Estland vielleicht typischer ist, mitsingen. Wir können es ertragen, wenn es auf einer rechtlichen Basis geschieht.

    Engels: Also, an Estland wird der Abschluss dieser Regierungskonferenz nicht scheitern?

    Meri: Nein.

    Engels: Man braucht ja, um Interessen in einem Europa der 25 durchzusetzen, Verbündete. Welches sind Länder, wo Sie denken, das werden die Länder sein, mit denen Estland gemeinsame Positionen besonders stark findet innerhalb der EU.

    Meri: Das sind ja immer sehr konkrete Fragen. Wenn wir es nur emotionell betrachten, dann muss ich Ihnen gestehen, wir haben sehr viel Gemeinsames mit Finnland. Die geopolitische Position Estlands ist ja sehr nahe der finnischen. Es gibt noch eine ganze Reihe anderer Gründe: Die Finnen fühlen sich hier in Estland zu Hause, auch wegen der Sprache und wegen der gemeinschaftlichen Kultur und so weiter. Aber dasselbe gilt auch für Deutschland. Es gab ja eine geraume Zeit, wo das Deutschtum hier in Estland das Staatswesen Estlands verkörperte. Als Estland und Lettland und sagen wir auch Kurland zu den so genannten Ostseeprovinzen des russischen Kaiserreiches gehörte, das heißt mit einer großen Autonomie und mit einer sehr regen Verbundenheit zu Deutschland. Das hat man in Deutschland vergessen und dazu haben die 50 Jahre der sowjetischen Besatzung viel beigetragen. Aber, wir fühlen uns in Deutschland sehr zu Hause. Die Deutschen, die ja auch Estnisch sprechen und stellen Sie sich vor, als ich zum ersten Mal das Bundespräsidialamt besuchte, wurde ich auf der Treppe auf Estnisch angesprochen. Das hat eine große Bedeutung, eben für sehr kleine Staaten.

    Engels: Soweit Lennart Meri, ehemaliger estnischer Staatspräsident. Wir haben das Gespräch vor der Sendung aufgezeichnet.

    Link: Interview als RealAudio