In Deutschland seien 83.000 Menschen mit HIV infiziert, so Maas. 13.000 davon wüssten aber nichts von ihrer HIV-Infektion. Das sei gefährlich, weil das Virus dann nicht behandelt würde. Die Zahlen beruhten auf Schätzungen des Robert-Koch-Instituts.
Pro Jahr gebe es rund 3.000 Neuinfektionen. Wichtig seien aber die Neudiagnosen, so Maas, denn nur wenn die Krankheit erkannt werde, könnten die Menschen behandelt und das Virus eingeschränkt werden. "Ich wünschte mir, wir hätten 13.000 Neudiagnosen, damit alle therapiert werden."
Keine Prävention in Gefängnissen
Immer noch gehören laut Maas schwule Männer zu den Risikogruppen - denn in der Gruppe sei die Krankheit weit verbreitet. Bei der Risikogruppe der Drogen konsumierenden Menschen habe man in den letzten 30 Jahren große Erfolge verbuchen können, da Zugang zu Präventionsmaterial wie etwa sauberen Spritzen geschaffen wurde. Maas kritisierte, dass Menschen in Haft der Zugang zu Präventionsmaßnahmen verwehrt wird. Da Drogenkonsum in Gefängnissen offiziell nicht vorkommen darf, wird auch kein Präventionsmaterial angeboten. "Das verstößt gegen die Menschenrechte," sagte Maas. "Wir strafen ja nicht mit dem Entzug der Gesundheit, sondern mit dem der Freiheit."
Medizinisch "gut in den Griff zu kriegen"
Er betonte den Stellenwert der Prävention. Kondome seien immer noch die beste und einfachste Möglichkeit zur Vermeidung einer Infektion. "Zum One-Night-Stand gibt es nichts Besseres." In einer Partnerschaft gebe es andere Strategien: Wenn beispielsweise die Werte des infizierten Partners unter der Nachweisgrenze liegen, ist er nicht mehr infektiös. Dann könne auf Verhütung verzichtet werden.
Medizinisch sei die Krankheit mittlerweile gut in den Griff zu kriegen, so Maas. Die Medikamente seien sehr wirksam. Aber: "Das Problem sind die Reaktionen aus der Gesellschaft". Erkrankte würden immer noch diskriminiert und stigmatisiert. Viele Menschen würden sich aus Angst vor negativen Reaktionen nicht testen lassen.
Das Interview in voller Länge:
Doris Simon: 6,3 Millionen Südafrikaner leben mit HIV. Beinahe jeder fünfte Südafrikaner trägt das Virus in sich, aus dem Aids werden kann. Nur in den Nachbarstaaten, in Botswana, in Swasiland und in Lesotho, ist die Erkrankungsquote noch höher. Es ist also überhaupt kein Zufall, dass die Internationale Aids-Konferenz heute in Durban in Südafrika beginnt. Wir haben darüber früher in dieser Sendung berichtet. Wir nehmen das internationale Treffen zum Anlass, um auf die Situation in Deutschland zu schauen. Deshalb ist Patrik Maas in unser Studio gekommen, der Geschäftsführer der Aidshilfe NRW. Guten Morgen.
Patrik Maas: Einen schönen guten Morgen.
Simon: Herr Maas, wie sieht denn 2016, 35 Jahre nachdem man das Aids-Virus nicht als solches erkannt hat, aber das Vorkommen einfach bemerkt hat, wie sieht die Situation in Deutschland aus?
Maas: Heute ist es wichtiger denn je, vielleicht um kurz zu korrigieren, dass wir HIV und Aids unterscheiden. Ein Aids-Virus gibt es nicht; es gibt das HI-Virus. Aids ist ja die Krankheit, die dann ausbricht. Wir sind dabei, es zu schaffen, dass wir Aids beenden können, dass die Krankheit nicht mehr ausbrechen muss, dass man bei der Infektion bleibt. Wir haben in Deutschland 83.000 Menschen, die mit HIV leben. Das wächst langsam an, weil die Menschen leben können. Man stirbt nicht mehr, deswegen wird es langsam mehr. Das steigert die Herausforderungen, die wir haben, mit den Menschen mit HIV in dieser Gesellschaft auch vernünftig umzugehen. Das Interessante bei diesen 83.000 Menschen ist, dass 13.000 Menschen davon noch nichts von ihrer HIV-Infektion wissen, und das kann gesundheitsgefährdend sein. Da kann Aids ausbrechen, weil der Virus im Körper nicht mit wirksamen Therapien bekämpft werden kann, im Körper weiterlebt und zu Aids führen kann.
Simon: Das heißt, Sie schätzen diese Zahl 83.000?
Maas: Wir schätzen Sie nicht. Das Robert-Koch-Institut macht seit Jahren da sehr qualifizierte Schätzungen und tatsächlich ist diese Zahl aufgrund der Erfahrungen der letzten Jahre, denke ich, sehr realistisch. Natürlich: Man kann es nicht wissen, weil die Leute wissen es selber nicht, aber man kann es anhand des Infektionszeitpunktes feststellen, wenn Leute sich testen lassen.
"Neuinfektionen sind absolut stabil in Deutschland"
Simon: Wie sieht denn die Entwicklung aus in Deutschland bei den Neuinfektionen? Viele von diesen geschätzten und wahrhaftigen vielleicht auch 83.000 HIV-Infizierten haben sich ja vor langer Zeit infiziert.
Maas: Richtig. Wir haben derzeit ziemlich stabil seit vielen Jahren um die 3.000, Ende 2014 waren es 3.200 Neuinfektionen in Deutschland.
Simon: Pro Jahr?
Maas: Pro Jahr, genau. Die Zahl bleibt sehr stabil. Da muss man auch ganz klar sagen: Diese Zahl ist stabil. Manchmal geht in den Medien umher, die Zahl würde wieder ansteigen. Da werden zwei Dinge verwechselt, die Neuinfektionen und die Neudiagnosen. Neudiagnosen heißt dort, wo das HI-Virus aufgedeckt wird. Das waren 3700 zum selben Stand. Ich würde mir persönlich wünschen, dass wir im nächsten Jahr 13.000 Neudiagnosen hätten, damit alle Menschen, die das HI-Virus in sich tragen, auch was dagegen tun können und entsprechende Therapien annehmen können. Deswegen sind Neudiagnosen für mich sehr wertvoll, aber die Neuinfektionen sind absolut stabil in Deutschland. Da kann man sagen, da wirkt die Prävention, die in Deutschland passiert. Im internationalen Vergleich ist das einer der besten Plätze, den wir da haben.
Simon: Wenn wir trotzdem noch mal auf die Neuinfektionen schauen. Reden wir immer noch von denselben Gefährdeten, also von Homosexuellen, von Drogenabhängigen, von Prostituierten als besonders Gefährdete?
Maas: Sie nennen drei Gruppen an der Stelle. Man muss die unterscheiden. Ja, schwule Männer sind nach wie vor mit die Hauptgefährdeten. Das hat natürlich damit zu tun, dass dieser Virus in dieser Gruppe besonders verbreitet ist. Deswegen ist das Risiko höher. Das heißt, wir müssen an der Stelle arbeiten, wir müssen dort Arbeit machen. Ja, das stimmt, es ist immer noch so. Bei Drogen gebrauchenden Menschen waren wir in den letzten 30 Jahren sehr, sehr erfolgreich, was die Prävention angeht. Man kriegt fast in jeder Aidshilfe mittlerweile sterile Einmalspritzen. Es gibt Spritzenautomaten, ein Projekt, das die Aidshilfe NRW auch hier betreibt, über 100 Stück in NRW. Man hat Zugang zu Präventionsmaterialien und dadurch ist die Zahl der Neuinfektionen innerhalb der Gruppe Drogen gebrauchender Menschen deutlich zurückgegangen. Das zeigt auch wieder: Dort wo wir Präventionsmaterialien anbieten, da gelingt es. Dort wo wir es nicht können, wie zum Beispiel bei Menschen in Haft, weil sich Politik dagegen sperrt, dass wenn schon Drogen im Knast sind,…
Simon: Die eigentlich nicht da sein dürften!
Maas: …, die nicht da sein dürften, aber das ist einfach eine Realität, dann muss es da auch Spritzen geben. Da ist natürlich plötzlich das HIV- und auch das Hepatitis-Infektionsrisiko riesengroß, weil dann natürlich viele Spritzen wieder geteilt werden. Das verstößt meiner Meinung nach gegen Menschenrechte, weil ein Mensch in Haft dieselben Rechte wie außerhalb von Haft. Wir bestrafen ja nicht mit dem Entzug der Gesundheit, sondern mit dem Entzug der Freiheit. Da muss was passieren, da muss auch Realismus in die Politik.
Simon: Über die letzten drei Jahrzehnte wurde ja in Deutschland eine Menge Energie, viel Geld in Aufklärung, in Vorbeugung gesteckt. Wir haben ja auch diesen alten Clip gehört aus 1989, Tina und die Kondome. Wirkt das noch, oder ist die Gewöhnung einfach, dass es diese Krankheit gibt, dieses Virus gibt, stärker?
Maas: Es gibt ja oft so Worte, die sagen ein bisschen, die Angst hat nachgelassen, wir müssen die Angst wieder erhöhen, damit die Leute sich mehr schützen. Und ich sage oder wir sagen auch, Angst ist der schlechteste Ratgeber, wenn es um Prävention und Gesundheitsschutz geht. Die Menschen müssen für sich überzeugt sein, gesund leben zu wollen. Sie müssen in einem Moment auch Kondome zum Beispiel anwenden, wo der Moment ja in der Regel gar nichts mit Angst zu tun hat, wo lustvolles Leben dabei ist, und in diese Momente müssen wir rein. Menschen müssen sich vorher Gedanken über ihre Präventionsstrategie machen. Das heißt, wir müssen mit Menschen über ihre persönlichen Präventionsstrategien reden. Da sind Kondome ein ganz wichtiger Schritt. Ich sage mal, zum One-Night-Stand gibt es nichts Besseres als ein Kondom. Das kann ich selber überziehen, das ist wunderbar. Es gibt andere Settings, in Partnerschaften und so weiter, wo ich mit meinem Partner reden kann. Ich kann mal zum Test gehen und ich kann selbst, wenn mein Partner HIV positiv ist, auf die Präventionswirkung der Therapien vertrauen. Das heißt, Menschen, die unter Nachweisgrenzen sind, wo man das Virus nicht mal nachweisen kann, obwohl es noch da ist, sind nicht mehr infektiös. Das heißt, man braucht im Prinzip für die HIV-Prävention dann kein Kondom mehr. Das ist allerdings eine sehr kommunikative Präventionsstrategie. Ich muss mit meinem Partner reden und in einen Austausch kommen. Und es gibt natürlich Settings, wo die Lust da ist, wo es mal schnell gehen muss, und da sage ich immer, da gibt es nichts Besseres als das Kondom. Aber wir müssen Schutz durch Therapie auch vertreten, weil das ein wichtiges Konzept ist, weil Menschen auch unterschiedlich sind.
"Das Hauptproblem ist die Reaktion der Gesellschaft"
Simon: Sie sagen, die Angst ist kein guter Ratgeber. Aber früher, ganz am Anfang, war es ja wirklich so: Wer sich mit dem HIV-Virus infiziert, der hatte ziemlich große Chancen, daran zu sterben. Das fehlt heute. Aber leben mit Aids-Medikamenten ist auch nicht angenehm, oder?
Maas: Ja. Ich sage mal, man kann mittlerweile mit zwei Pillen am Tag eine wirksame Therapie begehen, in der man innerhalb von vier Wochen unter die Nachweisgrenze kommt. Die Medikamente, die wir haben, die Therapien sind sehr wirksam. Das ist nicht schön, das würde ich nicht empfehlen, das ist auch ein Leben, was schwierig ist. Medizinisch gesehen ist HIV vollkommen einfach mittlerweile in den Griff zu kriegen, gar kein Problem. Das Hauptproblem ist die Reaktion der Gesellschaft auf Menschen mit HIV. Menschen mit HIV werden selbst im Gesundheitswesen, im Arbeitsleben, im gesellschaftlichen Leben diskriminiert und stigmatisiert. Und das ist das, was wir an der Stelle immer sagen: Mit HIV kann man heute gut leben. Aber mit der Diskriminierung, die damit zu tun hat, kann man nicht leben. Und auch die Fragen, wenn ich von meiner HIV-Infektion erfahre, wem sage ich es, wie sage ich das, vermeide ich, dass es der Arbeitgeber weiß. Mal ein ganz simpler Fall: Ein Kindergärtner, der eine HIV-Infektion hat, hat immer die Angst, die Eltern könnten davon erfahren, obwohl es in seinem Arbeitsumfeld null Risiko gibt, dass irgendeine Übertragung stattfindet. Trotzdem sind dann diese unbewussten Ängste da, und an diesen Ängsten müssen wir arbeiten, weil das ist auch ein ganz großes Hindernis für die Menschen, die noch nicht von ihrer Infektion wissen. Viele scheuen den HIV-Test, weil sie Angst vor dieser Diskriminierung haben. Die müssen wir abbauen. Deswegen sage ich, wir müssen Ängste abbauen. Ängste sind ein ganz schlechter Ratgeber. Und wir müssen eigentlich hin zu einer diskriminierungsarmen Welt, was auch schwule Männer zum Beispiel betrifft. Schwule Männer werden in ihrem Umfeld viel diskriminiert.
Simon: Heute beginnt in Durban (Südafrika) die Internationale Aids-Konferenz. Aus diesem Anlass ist heute Morgen Patrik Maas zu uns ins Studio gekommen, der Geschäftsführer der Aidshilfe NRW. Herr Maas, vielen Dank für das Gespräch.
Maas: Ja, ich bedanke mich auch.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.