Die vierjährige Nina fasst ihre Spielkameradin Sonja an den Händen, zieht sie sanft auf ein wackeliges Holzbrett. Die beiden Mädchen schwanken nach vorn, zur Seite, dann wieder zurück, bis Nina schließlich das Gleichgewicht verliert, hinfällt und Sonja mit sich reißt.
Nichts passiert, beide Mädchen stehen wieder auf, stellen sich gleich noch einmal auf das Brett. Alltag im Kindergarten Nestwärme. Hier spielt es keine Rolle, dass Nina HIV-positiv ist und Sonja nicht. Aus purer Not gründeten vor knapp 20 Jahren betroffene Eltern den Verein, erzählt Geschäftsführer Martin Quente.
"Es war mehr ein Selbsthilfeprojekt für betroffene Menschen, die keinen Kitaplatz gefunden haben aus den Vorbehalten, dies es seinerzeit noch gab. Wir sind immer wieder umgezogen und ja wir haben auch so ein bisschen Vertreibungserfahrung hinter uns."
Oft mit Vorurteilen und Anfeindungen konfrontiert
Anwohner sammelten Unterschriften gegen die Einrichtung. Sie wollten in der Nähe ihrer eigenen Kinder einfach keine Kinder haben, die das Aids-Virus in sich tragen, sagt Quente nüchtern. Mit Vorurteilen und Anfeindungen sei die Kita Nestwärme oft konfrontiert worden. Immerhin, seit 13 Jahren hat sie ihren festen Sitz nun in Kreuzberg. Ausgrenzung finde kaum noch statt, sagt Kita-Leiterin Antje Lindstedt. Viele Eltern meldeten heute ihre Kinder an, obwohl sie keinen HI-Virus in sich tragen.
"Damals angefangen haben wir mit ausschließlich HIV-positiven Familien, es war sozusagen Isolation. Und jetzt ist es eine Kita, genau wie es sein soll, mit Inklusion, alle Familien gehen gemeinsam in die Kita und sind offen miteinander. Also es ist unser Konzept ja auch zu sagen, jeder kann, aber muss sich nicht outen."
Darum verrät Antje Lindstedt auch nicht, wie viele von den insgesamt 62 Kindern mit dem HI-Virus infiziert sind. Sie unterliege einer Schweigepflicht, sagt sie. Dass jedes Kind seine eigene Zahnbürste habe, verstehe sich von selbst. Das gehöre zu den hygienischen Bedingungen in jeder Kita, sagt die Leiterin.
"Das Einzige, was uns vielleicht unterscheidet, ist dass wir einmal mehr ein Pflaster auf eine offene Wunde machen als vielleicht andere Kitas. Das ist einfach so eine kleine Erziehungsmaßnahme, auch so ein Stückweit den Eltern eine Sicherheit zu geben, eine offene Wunde wird abgedeckt."
Dabei liegt die Viruslast eines Kindes bei fast null, wenn es mit Medikamenten versorgt wird. Dass es somit nicht mehr ansteckend sei, wüssten leider die wenigsten, bedauert Antje Lindstedt.
"Das zweite ist, dass diese blutigen Sachen also bei beiden Kindern sein müssen. Diese beiden Kinder müssen bluten, mit einer bestimmten Menge, aufeinander zugehen, diese blutende Wunde noch aufeinander drücken und das sind alles Wahrscheinlichkeiten, die natürlicherweise gar nicht gegeben sind."
"Jede Generation muss wieder neue über die Krankheit aufgeklärt werden"
Die Berliner Aids-Hilfe hat ihren Sitz in Schöneberg. Bislang ist die Krankheit nicht heilbar. Aber aufgrund neuester medizinischer Forschung sei die Lebenserwartung von HIV-Infizierten genauso so groß wie die von Menschen ohne HIV, sagt Referent Jens Petersen. Er hat im Laufe seiner Arbeit für Aids-Hilfe gelernt, dass jede Generation wieder neu über die Krankheit aufgeklärt werden muss.
"So kriegen wir die alten stigmatisierenden Bilder weg, dass die neue Botschaft nämlich lautet, HIV-Positive, die antiretroviral behandelt werden, sind nicht ansteckend. Das heißt, diese ganzen irrationalen Ängste von früher sind heute völlig überholt und ein mangelndes Informationsdefizit hilft eben nicht, wenn man Diskriminierung und Stigmatisierung abbauen möchte."
Fast 3.200 Menschen haben sich nach Schätzungen des Robert-Koch-Instituts im vergangenen Jahr mit HIV angesteckt. Damit ist die Zahl der Neuinfektionen im Vergleich zu den Vorjahren konstant geblieben.
"Das Schlimme heutzutage ist nicht mehr die Infektion selber, sondern ist die Diskriminierung und Stigmatisierung, die stattfindet. HIV ist ein unheimlich angstbesetztes, irrationales Thema, Kinder sind ein sehr angstbesetztes Thema im Sinne von, dass man sich sorgt um sein Kind. Und diese Kombination ist halt besonders schwierig."
Fei Kaldrack, Frauenreferentin bei der Berliner Aids-Hilfe lobt das Konzept der Kita Nestwärme. Durch die jahrelange Aufklärungsarbeit sei es den Erziehern dort gelungen, eine Akzeptanz gegenüber diesen Kindern zu schaffen.
Zurück nach Kreuzberg, zur Kita Nestwärme. Zwölf Kinder sitzen an einem niedrigen, lang gestreckten Tisch. Darauf liegen Teller mit Obst. Sonja steckt Nina ein Stück Banane in den Mund. Eine junge Mutter, die ihren Namen nicht nennen will, beobachtet die beiden. Sie holt ihre Tochter heute etwas früher ab, weil sie gerade kränkelt. Sie habe nur Schnupfen, kein HIV, sagt sie und lächelt. Natürlich hätten sie und ihr Mann zuvor recherchiert, auf welchem Weg die Immunschwäche übertragen werden kann. Sie haben sich für die Kita entschieden, weil ihnen das integrative Konzept so gut gefällt.
"Alles andere hat da gar nicht eine so große Rolle gespielt. Ich hab' den Eindruck, dass die einfach gut damit umgehen. Ich bin einfach total glücklich, dass sie hier sein kann. Ich hab' da echt keine Sorge."