In Werner Höfers sonntäglicher Fernsehrunde "Der internationale Frühschoppen" saß in den 1970er-Jahren öfters ein schmächtig wirkender Mann, der als "Jean Améry, Publizist mit Wohnsitz Brüssel" vorgestellt wurde. In der Sendung vom 17. November 1974 ging es um den Hungerstreik der in Stammheim inhaftierten RAF-Mitglieder. Zum Schluss fragte der Gastgeber die Runde, ob die Terroristen ihren Hungerstreik aufgeben sollten. Ja, lautete die überwältigende Meinung. Dann wandte sich Höfer an Jean Améry:
"Sie sind nicht ohne Sympathie für diese Menschen, die jetzt vielleicht sich zu Tode hungern. Was ist ihr Wort an sie, aber es darf nur eines sein."
Langes Schweigen.
"Das ist eine sehr schwierige Frage, die sie mir stellen."
"Aufgeben, zur Besinnung kommen?"
"Nicht aufgeben."
Ein Sturm der Entrüstung ging durchs Land, die Sympathiebekundung sei ein Aufruf zur Fortsetzung der Gewalt. Warum er sich nicht von Jean Améry distanziert habe, wurde Werner Höfer nach der Sendung gefragt. Weil Amérys Antwort die Kompetenz und Würde subjektiver und moralischer Autorität ausgedrückt habe. Jean Améry:
"Er gehört einer miserablen, einer verlorenen Generation an. Bei Ausbruch des Nazismus noch viel zu jung, als dass er auch nur zu bescheidenem Ansehen hätte gelangt sein können, war er, als der Albtraum sich verzog, schon nicht mehr im Alter eines Debüttanten."
Améry sprach über sich in der dritten Person, als er – am 31. Oktober 1912 in Wien unter dem bürgerlichen Namen Hans Chaim Mayer als Sohn eines jüdischen Vaters und einer katholischen Mutter geboren – 1968 rückblickend seine Flucht vor den Nationalsozialisten durch Europa beschrieb: Richtung Brüssel, wo er sich zunächst frei bewegen konnte, bis er 1940 in das Lager Gurs in den französischen Pyrenäen eingeliefert wurde. Ihm gelang nach einem guten Jahr zwar die Flucht zurück nach Belgien, wo er sich einer kommunistischen Widerstandsgruppe anschloss, aber 1943 wurde er von der Gestapo erneut verhaftet und erlitt die Tortur der Konzentrationslager unter anderem in Auschwitz, Buchenwald und Bergen-Belsen.
Die Welt nach 1945 aus der Perspektive des Opfers zu beschreiben und als Lebensmaxime ein trotziges "Nicht aufgeben" zu formulieren und an den Prinzipien der klassischen Aufklärung festzuhalten – darin bestand Jean Amérys Arbeit in dem als Schreib- und Wohnort beibehaltenen Brüssel:
"Zusammen mit der Skepsis ist der menschenfreundliche Optimismus der Aufklärung mit den statischen Werten von Freiheit, Vernunft, Gerechtigkeit, Wahrheit unsere einzige Chance, Geschichte zu machen und mit ihr das eigentlich humane Geschäft, die Sinngebung des Sinnlosen, zu betreiben."
Alle Bücher Amérys – von "Schuld und Sühne" über die "Unmeisterlichen Wanderjahre" bis zu seiner Studie "Über das Altern" oder den Romanessay "Lefeu oder Der Abbruch" – sind zu lesen als Bruchstücke seiner Autobiografie. Dabei hat er nicht nur in die Abgründe der Geschichte geschaut, er konnte manchmal seinen Aufenthalt in der Welt auch genießen. Da brauchte er nur die Musik Chopins zu hören. Oder er freute sich – als einer, der durch die Denkschule Jean Paul Sartres gegangen und von dessen rebellischen, humanen und moralisch unbeugsamen Protest durchdrungen war – beim Autofahren über die als existentialistisch empfundene Freiheit, sich in die eine oder in die andere Richtung fortbewegen zu können. Aber seiner Lebensgeschichte konnte er nicht entrinnen. Als im Deutschen Bundestag die Verjährung von nationalsozialistischen Verbrechen diskutiert wurde, meldete er sich sofort zu Wort:
"Im Grunde bitte ich die Deutschen nur um etwas Geduld. Sie sollen warten und ihre euphorische Vergebensfreudigkeit zügeln, bis der letzte von uns Betroffenen verschwunden ist. Mensch und Gegenmensch ruhen dann in der Grabesstille des Abgelegten. Aber noch nicht. Noch hat das pure Zeitigen der Zeit sein Werk nicht vollbracht, es gibt Überlebende, die aufschreien, aufschluchzen."
Zur Buchmesse 1978 erreichte eine sichtlich erschütterte literarische Öffentlichkeit die Nachricht, dass Jean Améry sich am 17. Oktober in einem Salzburger Hotel durch eine Überdosis Schlaftabletten das Leben genommen hatte.
"Sie sind nicht ohne Sympathie für diese Menschen, die jetzt vielleicht sich zu Tode hungern. Was ist ihr Wort an sie, aber es darf nur eines sein."
Langes Schweigen.
"Das ist eine sehr schwierige Frage, die sie mir stellen."
"Aufgeben, zur Besinnung kommen?"
"Nicht aufgeben."
Ein Sturm der Entrüstung ging durchs Land, die Sympathiebekundung sei ein Aufruf zur Fortsetzung der Gewalt. Warum er sich nicht von Jean Améry distanziert habe, wurde Werner Höfer nach der Sendung gefragt. Weil Amérys Antwort die Kompetenz und Würde subjektiver und moralischer Autorität ausgedrückt habe. Jean Améry:
"Er gehört einer miserablen, einer verlorenen Generation an. Bei Ausbruch des Nazismus noch viel zu jung, als dass er auch nur zu bescheidenem Ansehen hätte gelangt sein können, war er, als der Albtraum sich verzog, schon nicht mehr im Alter eines Debüttanten."
Améry sprach über sich in der dritten Person, als er – am 31. Oktober 1912 in Wien unter dem bürgerlichen Namen Hans Chaim Mayer als Sohn eines jüdischen Vaters und einer katholischen Mutter geboren – 1968 rückblickend seine Flucht vor den Nationalsozialisten durch Europa beschrieb: Richtung Brüssel, wo er sich zunächst frei bewegen konnte, bis er 1940 in das Lager Gurs in den französischen Pyrenäen eingeliefert wurde. Ihm gelang nach einem guten Jahr zwar die Flucht zurück nach Belgien, wo er sich einer kommunistischen Widerstandsgruppe anschloss, aber 1943 wurde er von der Gestapo erneut verhaftet und erlitt die Tortur der Konzentrationslager unter anderem in Auschwitz, Buchenwald und Bergen-Belsen.
Die Welt nach 1945 aus der Perspektive des Opfers zu beschreiben und als Lebensmaxime ein trotziges "Nicht aufgeben" zu formulieren und an den Prinzipien der klassischen Aufklärung festzuhalten – darin bestand Jean Amérys Arbeit in dem als Schreib- und Wohnort beibehaltenen Brüssel:
"Zusammen mit der Skepsis ist der menschenfreundliche Optimismus der Aufklärung mit den statischen Werten von Freiheit, Vernunft, Gerechtigkeit, Wahrheit unsere einzige Chance, Geschichte zu machen und mit ihr das eigentlich humane Geschäft, die Sinngebung des Sinnlosen, zu betreiben."
Alle Bücher Amérys – von "Schuld und Sühne" über die "Unmeisterlichen Wanderjahre" bis zu seiner Studie "Über das Altern" oder den Romanessay "Lefeu oder Der Abbruch" – sind zu lesen als Bruchstücke seiner Autobiografie. Dabei hat er nicht nur in die Abgründe der Geschichte geschaut, er konnte manchmal seinen Aufenthalt in der Welt auch genießen. Da brauchte er nur die Musik Chopins zu hören. Oder er freute sich – als einer, der durch die Denkschule Jean Paul Sartres gegangen und von dessen rebellischen, humanen und moralisch unbeugsamen Protest durchdrungen war – beim Autofahren über die als existentialistisch empfundene Freiheit, sich in die eine oder in die andere Richtung fortbewegen zu können. Aber seiner Lebensgeschichte konnte er nicht entrinnen. Als im Deutschen Bundestag die Verjährung von nationalsozialistischen Verbrechen diskutiert wurde, meldete er sich sofort zu Wort:
"Im Grunde bitte ich die Deutschen nur um etwas Geduld. Sie sollen warten und ihre euphorische Vergebensfreudigkeit zügeln, bis der letzte von uns Betroffenen verschwunden ist. Mensch und Gegenmensch ruhen dann in der Grabesstille des Abgelegten. Aber noch nicht. Noch hat das pure Zeitigen der Zeit sein Werk nicht vollbracht, es gibt Überlebende, die aufschreien, aufschluchzen."
Zur Buchmesse 1978 erreichte eine sichtlich erschütterte literarische Öffentlichkeit die Nachricht, dass Jean Améry sich am 17. Oktober in einem Salzburger Hotel durch eine Überdosis Schlaftabletten das Leben genommen hatte.