Christiane Florin: "Wer soll eigentlich noch freiwillig in eine Christmette gehen, wenn er am Ende der Predigt denkt, er hat einen Abend bei den Jusos beziehungsweise bei der Grünen Jugend verbracht?"
Das twitterte "Welt"-Chefredakteur Ulf Poschardt in den ersten Stunden des Weihnachtstages. Und für debattierfreudige Menschen war damit das Fest gerettet. Denn digital wie analog wurde darüber gestritten, wie grün, wie rot, wie politisch, wie metaphysisch Predigten sein sollten. Und nebenbei entstand eine Version des Evangeliums, die auch Porsche-Fans problemlos durchs Nadelöhr fahren lässt. Ulf Poschardt ist nun in Berlin am Telefon. Guten Morgen, Herr Poschardt.
Ulf Poschardt: Guten Morgen.
Florin: Diesen Tweet werden Sie nicht mehr los, drei Wochen danach. Predigt Ihr Pfarrer jetzt anders oder haben Sie die Kirche gewechselt?
Poschardt: Weder noch. Ich glaube, das war nur eine kleine Bemerkung, die ich mir einfach nicht verkneifen wollte, weil ich so glücklich war in der Kirche und es so schade fand, dass nach Mitternacht, nach all den Weihnachtsliedern und nach der tollen Exegese der Weihnachtsgeschichte, die Pastor Reiche vorgenommen hat – das war wirklich großartig –, auf einmal im letzten Drittel so eine Art politischer Rundumschlag losging. Das hat mich irgendwie bedrückt - und ich habe gedacht, für die paar Follower, denen es vielleicht in der Christmette nachts ähnlich gegangen ist, einen augenzwinkernden Gruß ohne jede Aggression - einfach eher so ein heiterer kleiner Tweet – rausgelassen. Als ich am Morgen aufwachte und sah, was der angerichtet hat, da habe ich mich schon etwas gewundert.
Florin: Und wenn die Predigt Sie nicht an die Jusos erinnert hätte, sondern an die Julis, an die Julis, die Jungen Liberalen, wäre es dann besser gewesen?
Poschardt: Nein. Ich glaube, das ist so eines der vielen Missverständnisse, die dann auch gleich in unglaublich interessante Unterstellungen gemündet sind. Es geht hier nicht darum, irgendeine politische Ausrichtung anzukreiden, sondern eher darum, dass die Sprache die Sprache eines Parteitags ist und weniger das, was die Sprache – wie ich finde – einer Predigt sein soll. Aber das ist mein Empfinden. Es gibt ja auch Theologen, die sich gemeldet haben, die gesagt haben: "Wir bestehen darauf, dass die Schnittmengen zwischen einer Parteitagsrede und einer Predigt größer sein müssen, als Sie sich das wünschen." Und das hat mit der politischen Ausrichtung nichts zu tun. Also, wenn ein Pastor mir sagt, "Steuern runter macht Deutschland munter", würde mich das ähnlich nerven, wie eben etwas menschenverachtende Sprüche über Donald Trump.
"Er sagt kommunismuskritische Sachen, die ausgeblendet werden"
Florin: Wir haben es gerade in dem Beitrag gehört – Papst Franziskus ist unterwegs in Chile und Peru. Und gerade die Armen und an den Rand Gedrängten erwarten von ihm eine politische und eine kapitalismuskritische Botschaft. Zurecht?
Poschardt: Ja, natürlich. Ich glaube, was in dieser ganzen Diskussion so ein bisschen hinten angestellt wird, dass auch da natürlich der soziale Kontext zu beachten ist. In einem sehr bürgerlichen Viertel, wo promovierte Villenbesitzer abends in der Predigt sitzen, denen sozusagen eine moralische Distinktion zu verschaffen an Heiligabend ist etwas anderes, als wenn ein jesuitischer Papst, der selber Berührungspunkte zur Befreiungstheologie hat, zu Indigenen in Peru spricht oder in den Armenvierteln von Chile. Ich finde, da muss man einfach sagen: Man kann ja nicht alles über einen theologischen oder religionspolitischen Kamm scheren, sondern natürlich kann man, aufgrund der Geschichte der Christen und auch der katholischen Kirche in Südamerika und Lateinamerika, einen sehr politischen Papst dort erwarten. Das Tolle an den Jesuiten ist ja, dass sie seit ihrer Gründung immer einen realpolitischen Flügel hatten und auch eine Intellektualität, die sie vor politischen Herausforderungen nie gescheut haben. Und gleichzeitig aber eine unbestechliche Spiritualität. Und ich habe das Gefühl, dass dieser Papst von vielen Medien gewissermaßen zu einem Robert Habeck des Vatikans umgedeutet wird - und das ist er nicht. Und er sagt ja auch kommunismuskritische Sachen, er sagt ja auch Sachen über die Ehe für alle, die vielen Leuten, die ihm jetzt so zujubeln nicht passen würden. Auch zur Abtreibung sagt er Dinge, die ein bisschen ausgeblendet werden. Natürlich kann und soll ein Papst politisch sein, natürlich ein jesuitischer Papst allemal – und ganz besonders jemand wie er, dessen Familiengeschichte ja auch die Narben des 20. Jahrhunderts miterlebt hat.
"Dieses System tötet - eine sehr drastische Formulierung"
Florin: Manche sagen ja auch, dieser Papst ist zwar ein guter Pastor und er kommt auch bei uns, bei den Medien, gut an, aber er ist kein scharfsinniger Theologe. Wenn ich Sie gerade richtig verstanden habe, dann finden Sie sehr wohl, dass er Ihrem Ideal des jesuitischen Scharfsinns gerecht wird?
Poschardt: Na ja, also ich bin jetzt nicht der profundeste Kenner seines theologischen Werks. Ich kann nur sagen, dass ich verfolge, wie er wahrgenommen wird – und vor allem, wie selektiv er wahrgenommen wird. Was seine theologischen Leistungen betrifft, das müssen andere beurteilen. Ich habe bei meinem Studium bei den Jesuiten gelernt, dass sie es eben geschafft haben, Theologie und Philosophie strikt zu trennen. Und es gab sozusagen ein, zwei Brücken von der Philosophie in die Theologie. Aber wenn man sich dann entscheidet, das Nachdenken über die letzten Dinge mit theologischen Antworten zu sehen, dann wechselt man im Studiengang praktisch in eine andere Drehzahl. Und diese Trennung habe ich bei den Jesuiten in jeder Vorlesung, in jedem Seminar. Die haben nie dieses Sprachspiel verwechselt und ich bin mir sicher: Auch dieser Papst, der ja auch in St. Georgen in Frankfurt, bei den deutschen Jesuiten studiert hat und seine Promotion angefangen hat, hat diese Art von Klarheit über unterschiedliche Sprachspiele verstanden.
Florin: "Dieses System tötet", hat Franziskus 2013 geschrieben. Und zwar nicht irgendwo in einer Nebenbemerkung, sondern in seinem ersten großen Schreiben. Was hat er gemeint mit diesem System?
Poschardt: Das müssen Sie ihn fragen. In jedem System, das mit Macht zu tun hat und möglicherweise mit kapitalistischen Ordnungen, gibt es logischerweise Opfer. Das ist eine sehr drastische Formulierung, aber die genaue Ausdeutung würde ich dem Papst überlassen.
Florin: Ist das für Sie nicht in der Nähe der "Sozialreligion", die Sie gelegentlich kritisieren, diese Form der Kapitalismuskritik?
Poschardt: Nein! Zu glauben, nur weil man eine soziale Marktwirtschaft für das pragmatisch beste System hält, die Augen zu verschließen vor den Schattenseiten eines globalisierten Kapitalismus, das ist ja albern. Natürlich tötet die kapitalistische Weltordnung, gibt es Opfer, gibt es Dinge, die unschön sind. Ich glaube, dass wir mit unserem sozialen marktwirtschaftlichen Angang an die Dinge immer die Menschenrechte und so weiter im Blick haben, aber wir sehen Teile der Welt, wo es eben nicht so ist. Und wenn der Papst in Südamerika ist oder wenn er in Afrika ist oder wenn er in Ländern ist, in denen das kapitalistische Wirtschaften auch auf Kosten von den Ärmsten der Armen geht, wo Kinder, Achtjährige, furchtbare Arbeit leisten müssen, die hoch gesundheitsschädlich ist – das nicht anzuprangern, wäre ja absurd! Dass Sie mich das fragen insinuiert ja nur, weil ich mich verwahrt habe, in einem bürgerlichen Viertel von Berlin keine Parteitagsrede eines SPD-Pastors zu hören, heißt das ja nicht, dass ich der Kirche dieses Recht, sich auch in die weltlichen Dinge, auch mit dem hohen sozialen Engagement, das sowohl Protestanten als auch Katholiken haben, einzumischen. Natürlich ist das gut und richtig.
"Jesuiten sind nie naiv"
Florin: Es ist also keine Frage des "ob", also ob die Kirche politisch oder kapitalismuskritisch sein soll, sondern des Wie? Also, es muss irgendeine andere Begründung haben als die, die auch die Jusos oder die Linken heranziehen?
Poschardt: Absolut! Ich glaube, dass gewissermaßen die Transzendenz dieser Überlegungen sozialpolitischer Natur, das kann nicht nur weltlich sein. Und es muss dann einen anderen Sound haben. Und es muss auch eine andere geistige Durchdringung haben. Aber natürlich kann das sein. Ich würde nur ungern beide Prinzipien miteinander vermischt sehen. Und das wollte ich eigentlich sagen. Und insofern freue ich mich auf das, was der Papst heute in Peru sagen wird. Und ich bin mir sicher, die Wahrnehmung – und ich werde mir das genau angucken – wird selektiv, wie auch in Ihrem Bericht, auf all diese naheliegenden politischen Themen gerichtet sein. Aber es sagt ja immer auch viel mehr als das. Das fällt dann oft genug hinten runter, weil man ihn auch ein bisschen umdeutet – und, wie ich finde, auch ein bisschen missbraucht zum Stichwortgeber für eine gewisse politische Agenda. Und das ist so ein bisschen das Fatale an diesem Papst, der ja, wie Sie ihn auch zitieren, solche Angriffspunkte natürlich bietet. Auf der anderen Seite habe ich die Jesuiten immer als einen Orden erlebt, der sich durchaus bewusst ist, dass Dinge, die man zu den weltlichen Sachen sagt, natürlich auch in der Form instrumentalisiert werden können. Die sind nicht naiv. Jesuiten sind nie naiv.
Florin: Na ja, eine Enzyklika, die sich dem Umweltschutz verschrieben hat und auch zugleich eine Sozialenzyklika ist, ist natürlich nicht einfach nur so dahingesagt. Also, das scheint ihm ja schon ein Anliegen zu sein, was da in diesem Beitrag zur Sprache kam. Ich danke, Ulf Poschardt, ich danke Ihnen dafür, dass Sie trotz Ihres vollen Terminkalenders sich die Zeit genommen haben.
Poschardt: Sehr, sehr gerne. Vielen Dank und einen schönen Tag.