Steckt der Kern der Erkenntnis im kleinsten Einzelteil oder eher im großen Ganzen? Die Wahrheit liegt wie so oft in der Mitte: Das Einzelne versteht man erst, wenn man es im Kontext des Ganzen sieht. Und das Ganze wiederrum basiert auf der Kombination des Einzelnen. Die "deep history" etwa, in der US-amerikanische Historiker die Weltgeschichte vom Urknall bis zur Gegenwart aus der Weltall-Perspektive betrachten, birgt ebenso wenig Erkenntnisgewinn wie die massenhafte Sammlung von einzelnen Daten und Vorgängen. Der Historiker Marian Füssel plädiert für die sinnvolle Verknüpfung repräsentativer Einzelfälle, um sich dem großen Ganzen anzunähern.
"Big Data, die großen Daten, sind natürlich erstmal ein Versprechen oder eine Verheißung. Wenn man die hat und wenn man die pflegt, wenn man die beherrschen kann, dann eröffnet sich eine neue Perspektive auf das Ganze. Mikrohistoriker sind da eher skeptisch. Nicht nur wegen der Bewältigbarkeit, sondern auch wegen der Frage, wie kann man so etwa eigentlich erzählen, als eine Geschichte über diese endlosen Datenmengen? Und da kommen wir schon an die konkreten Probleme, denen sich jeder, der Geschichtsbücher schreiben will, stellen muss. Wie schaffe ich es eigentlich, eine nachvollziehbare, mitunter sogar spannende Geschichte zu erzählen. Eine Datenbank ist noch keine Geschichte."
Mit dem Hamburger die Kapitalismusgeschichte erzählen
In seinem Vortrag über "Die Ganzheit der Geschichte und die Vielheit der Geschichten" legte Marian Füssel dar, wie man ausgehend vom Verzehr eines Hamburgers einer Fastfood-Kette die Geschichte des globalen Kapitalismus erzählen kann. Damit formulierte Füssel zugleich den Tenor der Tagung: Das Ganze ist ein Konstrukt, das erst durch eine Erzählung geschaffen wird, die die Einzelteile verbindet. Gerade in modernen Gesellschaften lauert dabei die Gefahr, dass das Gefühl für das gemeinsame Ganze verloren geht. Sind Literatur und Kunst die letzten Orte, an denen noch vom Ganzen erzählt wird? Der Bielefelder Literaturwissenschaftler Carlos Spoerhase hat daran Zweifel:
"Ich fürchte, dass es heute tatsächlich niemanden mehr gibt, und niemand mehr wirklich beanspruchen kann, die Totalität der Gesellschaft als solche erfassen und in einer Form einfangen zu können. Das mag einige Literaten antreiben vielleicht, gerade auch in der Romanproduktion, aber faktisch möglich ist es nicht mehr."
Je mehr Masse und Daten, um so mehr Welthaltigkeit
Der Anspruch einer umfassenden Darstellung der Wirklichkeit kehrt derweil in anderer Form zurück auf die literarische Bühne. Davon ist die Siegener Kulturwissenschaftlerin Andrea Polaschegg überzeugt. Durch mehrbändige Romankonvolute wie etwa von Karl Ove Knausgård oder Elena Ferrante werde die Illusion von Vollständigkeit geschaffen. Allein der Umfang eines Buches, sein Gewicht in der Hand, würde heute zunehmend als Zeichen seiner "Gewichtigkeit" gedeutet, so Polaschegg.
"Ein Moment - und ich halte das nicht für banal - ist der Wunsch danach, Qualität zu objektivieren und das heißt, sie zählbar zu machen. Diese Tendenz haben wir überall in der Gesellschaft. Ob man es misst, oder zählt, oder wiegt, das spielt keine Rolle. Man hat am Ende eine Zahl, und die objektiviert das Gewicht der Werke. Das ist monströs, aber in seiner Monstrosität vielleicht sehr bezeichnend für die gegenwärtige Zeit - und das gilt übrigens für die Kunst und die Wissenschaft gleichermaßen."
Je mehr Masse und Daten, um so mehr Welthaltigkeit, so könnte eine gängige Formel des Ganzen heute lauten. Dass das ein gefährlicher Trugschluss ist, wurde von den Geisteswissenschaftlern leider nur am Rande thematisiert. Auch hätte man gerne mehr gehört zur Konjunktur des Ganzen in der Vorstellung von Volk und Nation oder bei globalen Herausforderungen wie Klima, Migration oder Armutsschere. Erst bei diesen konkreten Fragen, die ja längst auch in der Literatur verhandelt werden, wird die gefährliche Ambivalenz vom Ganzen zwischen Einheit und Abgrenzung greifbar.