Archiv

Weltflüchtlingstag
"Als sei der Pausenknopf im Leben gedrückt"

Mit 355.000 Menschen aus Somalia ist im kenianischen Ort Dadaab das größte Flüchtlingslager der Welt entstanden. "Vergessen wie in einer Ablage" fühlten sich die Bewohner, sagte UNHCR-Mitarbeiterin Silja Ostermann im Deutschlandfunk über das Leben vor Ort.

Silja Ostermann im Gespräch mit Peter Kapern |
    Die aus Somalia stammende 4-jährige Waise Fatima erreichte im August 2011 das Flüchtlingscamp Dadaab. Mehr als 350.000 Flüchtlinge leben hier.
    Die 4-jährige Waise Fatima im kenianischen Flüchtlingscamp Dadaab. (Boris Roessler/dpa)
    Im kenianischen Flüchtlingslager Dadaab wird der heutige Weltflüchtlingstag mit Feierlichkeiten begangen. Silja Ostermann schilderte die Feiern sowie Sport und Kulturangebote im Deutschlandfunk als gute Gelegenheit für die Vertriebenen, die Lage und den Krieg in ihrem Heimatland zu vergessen.
    Flüchtlinge in der dritten Generation
    "Viele Menschen kennen nur Dadaab", so Ostermann. Inzwischen gebe es bereits die dritte Generation von Flüchtlingen in dem 1991 gegründeten Lager. Die kenianische Bevölkerung leiste mit der Aufnahme so vieler Flüchtlinge Beispielhaftes. Über 23 Jahre lang Flüchtlinge in einer Zahl aufzunehmen, die die Einwohnerzahl des ursprünglichen Orts Dadaab bei Weitem übersteige, sei bewundernswert.

    Das Interview in voller Länge:
    Peter Kapern: Silja Ostermann hat mir gestern eine E-Mail mit einem Foto zugeschickt – auf diesem Foto sind weiße Zelte zu sehen, Hunderte und Aberhunderte weiße Zelte, aufgestellt auf rotbrauner Erde in einer ziemlich öden flachen Landschaft mit nur ein paar wenigen Sträuchern. Das Foto zeigt einen Teil eines Flüchtlingslagers in Kenia, genauer gesagt: einen Teil des Flüchtlingslagers Dadaab, des größten Flüchtlingslagers der Welt. Und dort arbeitet Silja Ostermann für die Weltflüchtlingsorganisation UNHCR, und jetzt ist sie bei uns am Telefon. Guten Morgen!
    Silja Ostermann: Guten Morgen, Herr Kapern!
    Kapern: Frau Ostermann, den heutigen Tag hat die UNO ja zum Weltflüchtlingstag ausgerufen. Was tut sich an diesem Tag in Dadaab, wo mehr als 355.000 Menschen Zuflucht gefunden haben?
    Ostermann: In Dadaab gibt es insgesamt fünf Flüchtlingslager, im größten davon leben 100.000 Menschen. In all diesen fünf Flüchtlingslagern werden heute Feierlichkeiten stattfinden, das wurde schon seit Wochen vorbereitet. Die Flüchtlinge haben sich in Gruppen zusammengetan und werden kulturelle Tänze vorführen, es gibt Fußballturniere und Vorführungen von Gedichten. Also, Sport und Kultur wird eine große Rolle spielen heute.
    Kapern: Das klingt, Frau Ostermann, ein wenig befremdlich! Die Ärmsten der Armen, die Flüchtlinge feiern ein Fest am Weltflüchtlingstag. Das müssen Sie uns erklären!
    Ostermann: Ich finde, dass der Tag heute eine gute Gelegenheit ist, um einmal das zu vergessen, wie die Bedingungen hier sind, um einmal zu vergessen, dass man in einem Haus aus einer Plastikplane lebt, dass man Lebensmittelrationen erhält und dass das eigene Land im Krieg ist. Trotzdem wollen die Leute hier ihre Kultur beibehalten und lieben Sport, deswegen ist der Tag heute eine gute Gelegenheit, um das alles einmal zu vergessen und zu feiern.
    Kapern: Das Flüchtlingslager Dadaab oder die Lager dort, die existieren seit 1991, seit 23 Jahren also. Gibt es Menschen, die dort seit Anfang, seit Gründung dieses Lagers leben müssen?
    Ostermann: Die gibt es in der Tat, wir haben sogar schon die dritte Generation von Flüchtlingen hier, die kamen hier zum ersten Mal 1991, die hatten Kinder und diese haben wiederum Kinder hier geboren. Das heißt, insgesamt sind hier schon 100.000 Babys geboren. Viele Menschen hier kennen auch nur Dadaab und waren nie in ihrem Heimatland.
    Kapern: Welche Lebenschancen haben die Kinder, die dort geboren werden? Sie sagen, 100.000 waren es schon in den letzten 23 Jahren. Wachsen diese Kinder eigentlich in dem Wissen auf, dass sie ihr Leben lang diese gigantische Zeltstadt nie verlassen können?
    Ostermann: Die meisten Flüchtlinge hier kommen aus Somalia, Dadaab ist auch an der Grenze zwischen Kenia und Somalia. Und die somalische Identität ist schon wichtig. Also, ich denke, dass die meisten Familien hier durchaus planen, zurück nach Somalia zu gehen, allerdings das nur, wenn dort friedliche Umstände herrschen, wenn es möglich ist, dort zu arbeiten und dass die Kinder zur Schule gehen können. Das sind die Bedingungen für die meisten Flüchtlinge, um zurückzukehren.
    Kapern: Die Chancen darauf stehen jedoch recht schlecht. Wie gehen die Menschen damit um?
    Ostermann: Was ich oft gehört habe in den Lagern, ist, dass sich die Menschen fühlen, als wären sie in der Ablage vergessen worden. Das wird oft benutzt, oder als hätte man den Pausenknopf in ihrem Leben gedrückt. Die Entfaltungsmöglichkeiten hier sind sehr gering, die Menschen können zwar kleine Läden haben und etwas arbeiten, aber sie können sich in Kenia nicht frei bewegen, meistens brauchen sie die Erlaubnis, um an andere Orte in Kenia zu reisen. Deswegen ist die Hoffnung auf Frieden in Somalia sehr groß, viele Menschen hoffen darauf, viele Menschen hoffen darauf, in Drittländer aufgenommen zu werden. Aber diese Möglichkeit wird nur sehr wenigen geboten. Und mehr als hoffen hilft dort leider nicht. So lange gehen die Kinder hier zur Schule. Es gibt Grundschule und weiterführende Schulen und zum Glück inzwischen auch eine Universität in der kleinen Stadt Dadaab, sodass auch das möglich ist für einen Teil der Flüchtlinge.
    Kapern: Sie sagten, Sie hören von den Flüchtlingen oft den Satz, sie fühlten sich vergessen, wie in einer Ablage. Vergessen von wem?
    Ostermann: Ja, vergessen von wem ... Vom Leben an sich, sie fühlen, dass das Leben an ihnen vorbeiginge, als wäre das nicht das richtige Leben, das sie führen.
    Kapern: Und das richtige Leben wäre das in ihrem Heimatland?
    Ostermann: In der Tat, oder ... Die meisten hoffen, in ihr Heimatland zurückzukehren oder in Kenia oder in andern Ländern andere Möglichkeiten zu finden. Aber die meisten von diesen 355.000 Menschen stecken fest hier im Sand von Dadaab.
    Kapern: Frau Ostermann, Sie haben das eben angedeutet: Dieses gigantische Flüchtlingslager, das eigentlich aus fünf Flüchtlingslagern besteht, hat seinen Namen von der kleinen kenianischen Stadt Dadaab, die von den Zeltstädten förmlich eingekreist ist, wenn ich das auf der Landkarte richtig gesehen habe. Wie gehen die Kenianer aus Dadaab eigentlich mit dieser schieren Überzahl der geflüchteten Nachbarn um?
    Ostermann: Die meisten Kenianer, die hier wohnen, sind auch von der somalischen Volksgruppe, also Kenianer somalischer Herkunft. Und ich würde sagen, das ist zweigeteilt. Der Einfluss auf die Umwelt, auf die Natur durch diese große Zahl von Flüchtlingen ist enorm, es ist sehr viel schwieriger für die Kenianer, die hier wohnen, Landwirtschaft zu betreiben. Auf der anderen Seite gibt es auch gewisse Vorteile durch die Lager, weil der Handel dadurch angetrieben wurde. Dadurch, dass auch die Hilfsorganisationen hier sind, dass Lebensmittel verteilt werden, gibt es sowohl Vor- als auch Nachteile für die Kenianer, die hier wohnen.
    Kapern: Sind die Menschen aus Dadaab, die Einwohner dieser Stadt beteiligt an den Feiern, die heute in dem Flüchtlingslager stattfinden?
    Ostermann: Das sind sie, und auch in der Kleinstadt Dadaab wird es heute gefeiert. Ich selbst werde nachher zu einem Fußballturnier gehen, das ist zwischen den Einwohnern Dadaabs und einem der Flüchtlingslager, das heißt Ifo. Und da ist das wichtigste Thema das friedliche Zusammenleben. Und deswegen wird es ein Freundschaftsspiel geben.
    Kapern: Frau Ostermann, wenn Sie so was sehen, dass dort die Einwohner der Stadt Dadaab gegen Menschen aus den Flüchtlingslagern Fußball spielen, und dann gleichzeitig aus Deutschland hören, dass sich an jedem Ort, an dem ein paar Dutzend Flüchtlinge untergebracht werden sollen, sofort Bürgerinitiativen entstehen, die den Bau von Flüchtlingsunterkünften verhindern wollen, was geht Ihnen dann durch den Kopf?
    Ostermann: Dass die Kenianer hier wohl ein gutes Beispiel sind. Kenia ist auch das Land, das am meisten Flüchtlinge in Afrika aufgenommen hat. Und Flüchtlinge über 23 Jahre aufzunehmen, die die Einwohnerzahl Dadaabs weit übersteigen, das ist schon ein bewundernswerter Schritt von der kenianischen Bevölkerung hier!
    Kapern: Wüssten Sie, wie man die deutsche Bevölkerung auch dazu bringen könnte, so wunderbar mit Flüchtlingen umzugehen?
    Ostermann: Indem man Flüchtlingen zuhört. Heute gibt es viele Beiträge zum Weltflüchtlingstag, aber ich denke, dass es gut ist, den Flüchtlingen ein Gesicht zu geben. Jedes Mal, wenn ich hier im Lager bin, bin ich hingerissen von der Menschlichkeit, von der Freude, die die Menschen ausstrahlen, obwohl sie unter solchen schlimmen Bedingungen leben. Ich denke, dass man, wenn man die Flüchtlinge kennenlernt, mit ihnen spricht, viel besser versteht, dass diese Leute auch eine Chance verdienen und dass sie verdienen, dass wir unter menschenwürdigen Umständen leben können.
    Kapern: Heute ist der Weltflüchtlingstag, das war ein Gespräch mit Silja Ostermann, die im weltgrößten Flüchtlingslager in der kenianischen Stadt Dadaab für den UNHCR arbeitet. Frau Ostermann, vielen Dank für das Gespräch, ich wünsche Ihnen einen guten Tag!
    Ostermann: Vielen Dank auch Ihnen!
    Kapern: Auf Wiederhören!
    Ostermann: Danke schön, tschüss!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.