"Vor 70 Jahren hat ein armes und zerstörtes Deutschland Millionen Flüchtlinge zu integrieren vermocht", sagte Gauck bei einer Gedenkstunde im Deutschen Historischen Museum laut vorab verbreitetem Redetext. "Warum sollte ein wirtschaftlich erfolgreiches und politisch stabiles Deutschland nicht fähig sein, in gegenwärtigen Herausforderungen die Chancen von morgen zu erkennen?" Er erinnerte an das Leid Millionen deutscher Kriegsflüchtlinge aus Ostpreußen, Pommern, Böhmen, Schlesien und Mähren. Dies sei lange zu wenig beachtet und weitgehend als vermeintlich zwangsläufige Strafe für deutsche Verbrechen akzeptiert worden. Gleichzeitig dankte Gauck den Nachbarstaaten für souveräne Gesten und Vertrauen in Deutschland nach dem Krieg.
Vor etwa einem Jahr hatte die Bundesregierung den 20. Juni zum nationalen Gedenktag für Vertriebene gemacht und diesen an den Weltflüchtlingstag der Vereinten Nationen gekoppelt. Dies hatte der Bund der Vertriebenen jahrelang gefordert. Gauck erinnerte nun, die Flüchtlinge und Vertriebenen hätten nach dem Zweiten Weltkrieg einen großen Anteil am Wiederaufbau gehabt. "Ich wünschte, die Erinnerung an die geflüchteten und vertriebenen Menschen von damals könnte unser Verständnis für geflüchtete und vertriebene Menschen von heute vertiefen", so der Bundespräsident. Er nannte es eine moralische Pflicht, Flüchtlinge vor dem Tod im Mittelmeer zu retten und ihnen eine sichere Zuflucht zu gewähren. Das sei nicht verhandelbar.
Entwicklungsminister Müller kritisiert EU-Flüchtlingspolitik
Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) sagte, der Gedenktag sei Ausdruck der Verbundenheit mit den deutschen Heimatvertriebenen. Er erinnere zudem an die rund 60 Millionen Menschen, die weltweit auf der Flucht seien. Einfache Lösungen werde es in dieser Frage nicht geben. Es verbiete sich absolut, das Schicksal der Vertriebenen und der Flüchtlinge politisch zu instrumentalisieren.
Bundesentwicklungsminister Gerd Müller (CSU) übte derweil deutliche Kritik an der Flüchtlingspolitik der EU: "Die jetzige Situation ist beschämend", sagte er der "Neuen Osnabrücker Zeitung". Die EU lege zwar ein 315-Milliarden-Programm für die Wirtschaft auf, schaffe es aber nicht, zehn Milliarden für die Flüchtlingshilfe bereitzustellen - das sei nicht nachvollziehbar. Pläne für Asyl-Aufnahmezentren nach europäischen Standards in Nordafrika lehnte Müller ab. "Wer sollte dies tun? Wo und wie?", zitiert ihn die Zeitung. Wichtiger sei es, in Bildung und Infrastruktur in den Herkunftsländern zu investieren - denn die Menschen blieben nur in ihrer Heimat, wenn sie dort Lebensperspektiven hätten.
Scharfe Kritik durch EU-Kommissionspräsident Juncker
EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker kritisierte seinerseits die EU-Staats- und Regierungschefs scharf. "Es reicht nicht, abends vor den Fernsehschirmen zu weinen, wenn Menschen im Mittelmeer ertrinken, und am nächsten Morgen im Rat eine Gedenkminute abzuhalten", sagte Juncker dem "Spiegel". Er werde trotz vieler Widerstände der Mitgliedsstaaten an den Plänen für verpflichtende Quoten zur Verteilung von Flüchtlingen festhalten, kündigte Juncker an. "Auch wenn uns der nächste Europäische Rat in die Schranken weist, werden wir das Feld nicht räumen."
Bundessozialministerin Andrea Nahles und Außenminister Frank-Walter Steinmeier riefen zu einem stärkeren Einsatz Deutschlands für Flüchtlinge auf. In der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" (Samstagsausgabe) forderten sie, jungen Flüchtlingen in Ausbildung ein über die Ausbildungszeit hinausreichendes Bleiberecht zu gewähren. "Wir müssen die Fähigkeiten dieser Menschen nutzbar machen - für ihre, aber auch für unsere Zukunft", erklärten sie. Die Deutschen sollten "in den Flüchtlingen auch die Fachkräfte sehen, die wir immer dringender brauchen".
(wes)