Die Zahl der Hungernden in der Welt hat trotz internationaler Bemühungen zugenommen. Die Welthungerhilfe geht davon aus, dass sich die Situation angesichts der sich überlappenden globalen Krisen noch weiter verschlechtern wird. Dabei gibt es genug Nahrung für alle. Die Vereinten Nationen hatten mit ihrem Programm "Zero Hunger" das Ziel ausgegeben, den Hunger weltweit bis 2030 zu beenden. Doch in dieser Hinsicht gibt es kaum noch Fortschritte, heißt es im Welthunger-Index 2022. Blieben grundlegende Veränderungen aus, werde das Ziel nicht erreicht. Prognosen zufolge werden dann noch immer 46 Länder nicht einmal ein niedriges Hungerniveau gemäß dem WHI erreichen.
Wie ist die aktuelle Situation laut Welthunger-Index 2022?
Der Welthunger-Index misst den Ernährungszustand der Bevölkerung und kann daher ein genaues Bild der weltweiten Ernährungssituation zeichnen. Nach Angaben der Welthungerhilfe erhöhte sich 2021 im Vergleich zum Vorjahr die Zahl der unterernährten Menschen - ein Indikator für chronischen Hunger - weltweit von 811 auf 828 Millionen. 193 Millionen litten akut an Hunger. Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine ist in der Statistik noch gar nicht berücksichtigt. Seine Auswirkungen auf die weltweite Versorgung mit Nahrungs- und Düngemitteln hätten das Potenzial, aus einer Krise eine Katastrophe werden zu lassen, sagte die Präsidentin der Welthungerhilfe, Marlehn Thieme, bei der Vorstellung des Welthunger-Index' am 13. Oktober. Der Direktor des Welternährungsprogramms der Vereinten Nationen hatte kurz zuvor gesagt, derzeit gebe es weltweit 345 Millionen akut Hungernde.
Für den Welthunger-Index erstellte die Welthungerhilfe eine Rangliste von 121 Ländern, basierend auf den Indikatoren Unterernährung, Kindersterblichkeit sowie Auszehrung und Wachstumsverzögerung bei Kindern. Schlusslicht ist das Bürgerkriegsland Jemen. Dort sind über 41 Prozent der Bevölkerung unterernährt.
Seit 2000 ist der Hunger weltweit zwar zurückgegangen, doch diese früheren Fortschritte in der Hungerbekämpfung wurden verlangsamt oder sogar umgekehrt. Die Ernährungssicherheit wird in vielerlei Hinsicht bedroht, in einigen Regionen bleibt der Hunger besorgniserregend hoch. Afrika südlich der Sahara und Südasien sind die Regionen der Welt, in denen das Ausmaß des Hungers am größten ist.
Welche Gründe gibt es für die weltweite Ernährungskrise?
Laut der Welthungerhilfe sind das aktuell vor allem Kriege, die Klimakrise und die Corona-Pandemie.
Kriege und Konflikte als Ursache für Hunger
Die Zahl von Kriegen und gewaltsamen Konflikten nimmt zu. Sie sind ein Haupttreiber für Hunger, weil sie zum Beispiel negative Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion (Ernte, Felder) sowie den Vertrieb und die Wirtschaft haben oder zu Flucht und Vertreibung führen. Infrastruktur wird zerstört, Nahrungsmittel werden teurer. Nun bedroht zudem der Angriffskrieg auf die Ukraine Afrikas Ernährungssicherheit. Das Land ist der viertgrößte Getreideexporteur weltweit. Russland blockierte über Monate ukrainische Häfen und verhinderte die Ausfuhr von Getreide. Seit Anfang August gilt ein Getreideabkommen zwischen den Vereinten Nationen, Russland, der Türkei und der Ukraine.
Klimakrise als Ursache für Hunger
Wetterextreme wie Stürme, Sturmfluten, Starkregen oder Dürre und Trockenheit führen zu schlechteren Ernten oder gar zu Ernteausfällen. Weil Naturkatastrophen mit dem Klimawandel zunehmen, wächst zudem die Sorge, dass der Vorrat nicht ausreichen könnte. Der größte Weizenanbauer der Welt, China, lagert inzwischen sein Getreide und kauft es am Weltmarkt auf, weil es 2021 so viel geregnet hat, dass die Aussaat mehrfach verschoben werden musste. Der zweitgrößte Getreideproduzent weltweit, Indien, will keinen Weizen mehr exportieren, weil er wegen einer Hitzewelle Ernteausfälle befürchtet.
Wenn die Wasserquellen wegen der anhaltenden Dürre versiegen, verdorren auch die Weideflächen. Die Folge: In der Viehhaltung verenden die Tiere oder sind stark geschwächt. Für die abgemagerten Tiere fallen die Verkaufspreise, während man gleichzeitig immer mehr für Nahrungsmittel ausgeben muss.
Corona als Ursache für Hunger
Die Coronakrise wirkte wie ein Brandbeschleuniger auf den Hunger in der Welt. Sie hat sowohl zur Fehlernährung als auch zu Beeinträchtigungen der Gesundheitsversorgung geführt. So wurden nicht nur wichtige medizinische Behandlungen verschoben, sondern auch Leistungen zur Behandlung von Fehlernährung partiell oder umfassend unterbrochen. Die Corona-Pandemie hat Millionen Menschen in akuten Hunger getrieben.
Verzerrter Welthandel als Ursache für Hunger
Handelsabkommen und Subventionen werden von den reichen Staaten bestimmt, sie schaffen Marktzugänge und Preisvorteile - vor allem für die Unternehmen aus den Industrienationen. Kleinbauern gehen bei der internationalen Politik leer aus. So kommt es auch zu fatalen Abhängigkeiten: Die Ukraine, nach Russland und den USA einer der größten Weizenexporteure der Welt, versorgte bisher 400 Millionen Menschen mit Getreide. Länder wie der Kongo und Ägypten beziehen fast ihren gesamten Bedarf aus Russland. Getreide wird damit ein Spekulationsobjekt.
Welche Maßnahmen könnten helfen, die Situation zu verbessern?
Laut Welthungerhilfe gibt es kein Erkenntnisproblem über den Kampf gegen den Hunger in der Welt. Lösungsansätze und der Umfang erforderlicher Investitionen seien bekannt und beziffert - allein es fehle der politische Wille. Die Welthungerhilfe appelliert an die Weltgemeinschaft, mehr Geld zur Bekämpfung des Hungers bereitzustellen. Die von den G7-Staaten zugesagten 4,5 Milliarden Dollar zur Ernährungssicherheit genügten nicht, vielmehr seien weitere 14 Milliarden Dollar notwendig. Politik müsse konsequent das Menschenrecht auf Nahrung in den Mittelpunkt stellen, sagte Bettina Iseli von der Welthungerhilfe im Dlf. Die Planungen für den Bundeshaushalt allerdings sähen hier Mittelkürzungen im Budget des Auswärtigen Amts und des Ministeriums für Entwicklungszusammenarbeit vor.
Zudem müsse es gelingen, den Export von Nahrungsmitteln zu erleichtern. Die Verknappung treibe die Preise nach oben, das sei für die ärmsten Menschen auf dieser Welt eine Katastrophe. Schon 2021 seien die Preise für Lebensmittel weltweit teils um 28 Prozent gestiegen. Der Krieg in der Ukraine habe die Situation weiter zugespitzt.
Mehr regional produzieren statt importieren
Langfristig sollten importabhängige Länder nach Möglichkeit mehr regional und selbst produzieren und ihre Bezugsquellen diversifizieren, dann wären sie nicht mehr so abhängig von einzelnen Großimporteuren, sagte der Politologe Lukas Fesenfeld im Dlf.
Rafael Schneider von der Welthungerhilfe wies im Dlf darauf hin, dass es vor allem in Afrika, im globalen Süden, 50 Prozent Nachernteverluste gebe, "weil Straßenbau vernachlässigt wurde, weil es keine Lagerkapazitäten gibt, weil es keine Weiterverarbeitungsmöglichkeiten gibt. Das wurde alles verhindert, weil billige, subventionierte Agrargüter aus der Ukraine aus Europa in diese Länder gekommen sind. Jetzt wäre der Augenblick, dieses System umzustellen und in die ländlichen Räume zu investieren, um diese horrenden Nachernteverluste zu verhindern. Dann hätten wir schon 50 Prozent mehr Nahrungsmittelverfügbarkeit in diesen Ländern."
Kleinbauern stärken
In vielen Entwicklungsländer lebt ein Großteil der Bevölkerung - bis zu 70 Prozent - in landwirtschaftlichen Regionen und ist in der Landwirtschaft beschäftigt, es gibt keine großen Agrarkonzerne. Laut Zahlen der Landwirtschaftsorganisation FAO aus dem Jahr 2017 erzeugen viele Millionen Kleinbauern etwa zwei Drittel der menschlichen Nahrung. Dafür steht ihnen aber weit weniger als die Hälfte der weltweit landwirtschaftlich genutzten Fläche zur Verfügung.
Der bisherige Entwicklungspolitiker und aktuelle Vizepräsident der UN-Sonderorganisation International Fund for Agriculture Development (IFAD), Dominik Ziller, will daher vor allem die Kleinbauern stärken. Sie sollen von staatlicher Seite besseren Zugang zu Investitionskapital bekommen, wenn sie expandieren und neue Agrarflächen in die Bewirtschaftung nehmen. "In etlichen Ländern gibt es auch keine Kataster, keine Grundbücher. Das heißt, sie können auch ihr Land nicht als Sicherheit nutzen." Auch längere Wertschöpfungsketten müssten aufgebaut werden, damit mehr Arbeitsplätze entstehen.
Joachim von Braun von der Welthungerhilfe pflichtet dem bei und fordert für die Bauern Zugang zu Dünger, Saatgut, Bewässerung sowie landwirtschaftliche Beratung und ein Vorantreiben der Agrarforschung. "Dazu gehört auch, dass Mädchen in die Schule gehen, die Überwindung des Analphabetentums unter Frauen. Dazu gehören effiziente soziale Sicherungsmaßnahmen. Eine marktorientierte, auf sicheren Zugang zu Inputs ausgerichtete Kleinbauern-Landwirtschaft kann den Entwicklungsländern enorm helfen.“
Marita Wiggerthale, Agrarexpertin von der Hilfsorganisation Oxfam, ist da anderer Meinung: „Fakt ist, dass Millionen Kleinbauern und Landarbeiter ausgebeutet werden und trotz harter Arbeit keine existenzsichernden Einkommen erzielen." Daher brauche es ein generelles Verbot von Dumping-Preisen und unlauteren Handelspraktiken in der Lebensmittelversorgungskette. Wenn Kleinbauern mit Dünger, Pestiziden und vor allem zugekauftem Saatgut, das sie nicht nachzüchten dürfen, wirtschafteten, gerieten sie leicht in eine Verschuldungsspirale.
Weltmarkt zugänglicher machen
Ungerechte Handelsabkommen und subventionierte Agrarprodukte aus den EU und USA führen dazu, dass teilweise die Preise für lokale Erzeugnisse unterboten werden können und so lokale Akteure vom Markt verdrängt werden. IFAD-Vizepräsident Ziller zielt daher auf eine Lösung, "die es auf der einen Seite weiterhin den Entwicklungsländern ermöglicht, in die Europäische Union und nach Nordamerika zu exportieren und auf der anderen Seite nicht zu stark unter Druck zu geraten durch Billigimporte."
Der Export auf den europäischen Markt scheitere oft daran, dass Produkte nicht die Zertifikate hätten, die sie bräuchten. "In Europa sind für verschiedene Nahrungsmittel ganz detaillierte Vorschriften erlassen worden, welche Rahmenbedingungen erfüllt werden müssen, damit sie Marktzugang haben. Und in den Entwicklungsländern haben sie häufig gar nicht die Labors, die das zertifizieren können. Da müssen wir auch stärker ansetzen, sodass der Export erleichtert wird."
Oxfam-Expertin Wiggerthale kritisiert außerdem die sich widersprechende Haltung der Geberländer: Einerseits finanzierten sie Nahrungsmittelhilfe gegen den Hunger, gleichzeitig unterminierten sie mit ungerechten Handelsabkommen, dass eine stabile lokale Versorgung in den ärmeren Ländern überhaupt entstehen kann. „Handelsabkommen sind dann nicht fair, wenn sie die Länder des Südens dazu zwingen, ihre Märkte zu öffnen, ihre Zölle zu senken. Die exportorientierte Agrarpolitik der EU und der USA geht Hand in Hand mit einer Strategie der Marktöffnung für die einheimischen Agrarlebensmittelkonzerne. Es werden strukturell Überschüsse produziert in der EU im Bereich Fleisch und Milch, und diese müssen dann über den Weltmarkt beseitigt werden.“
Nachhaltiger Konsum und Umgang mit Lebensmittel-Ressourcen
Auch der Verbrauch wichtiger Lebensmittel-Ressourcen für die Energiegewinnung und Tierzucht steht in der Kritik. Die europäischen Länder, insbesondere Deutschland, verwenden Getreide für Biokraftstoff oder Biodiesel: Zehn Prozent des Getreides gehen in den Tank. Zum Zweiten verfüttern die Europäer sehr viel Getreide an Tiere. In Deutschland etwa landen laut Bundeslandwirtschaftsministerium 58 Prozent des verfügbaren Getreides in Futtertrögen und zwei Drittel der deutschen Rapsernte werden zu Biosprit verarbeitet.
Christoph Hoffmann (FDP), stellvertretender Vorsitzender des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit, warnt im Dlf jedoch davor, die eine Krise gegen die andere auszuspielen: "Alles, was wir aus dem Biotreibstoff oder aus Biogas rausnehmen, ersetzen wir dann böserweise durch Erdgas oder Erdöl auf der anderen Seite. Das heißt, wir feuern die Klimakrise wieder an."
Ein Lösungsansatz wäre es, die Ernährungsgewohnheiten zu ändern, sagt Sarah Wiener, Mitglied des europäischen Parlaments: "Weniger Fleisch, nachhaltiges Fleisch, bodengebundene Tierhaltung. Das ist der allererste Ansatz."
Düngersituation am Markt verändern
Russland, Ukraine und Belarus sind die größten Düngemittel-Produzenten und -Exporteure. Durch den Angriffkrieg in der Ukraine könnten Ernteerträge reduziert werden, weil weniger Dünger zur Verfügung steht. Dieses geschlossene System mit wenigen Dünger-Anbietern am Markt hat gravierende Auswirkungen auf Preisgestaltung und Verfügbarkeit.
IFAD-Vizepräsident Ziller gibt zu bedenken, dass der Dünger aktuell schneller teuer wird als die damit hergestellten Lebensmittel. Damit rechnet sich für die Kleinbauern der Düngereinsatz nicht mehr, "weil das Mehr an Produktion weniger Ertrag bringt als der Dünger, den sie dafür einsetzen. Damit gehen insgesamt die Ernten noch mal weiter zurück und die Lebensmittelknappheit nimmt nochmal weiter zu. Das ist natürlich eine desaströse Situation." Deswegen sei es wichtig, nicht nur mehr Anbaufläche in Entwicklungsländern zu erschließen, sondern auch eine lokale Düngerproduktion aufzubauen und den Markt stärker zu diversifizieren, sodass beim Ausfall einzelner Anbieter nicht gleich die große Katastrophe drohe.
Innovationen in der Landwirtschaft
Im Bereich der digitalen Technologie und der Züchtungstechnologien gibt es ebenfalls Felder, die ausgebaut werden können. Die Gentechnik, die in Europa nicht zum Einsatz kommt, ist dabei umstritten. Befürworter wie Agrarwissenschaftler Matin Qaim vom Zentrum für Entwicklungsforschung sehen darin ein "riesiges Potenzial, die Landwirtschaft, produktiver, resilienter und umweltfreundlicher zu machen."
Kritiker wie Sarah Wiener, Mitglied des europäischen Parlaments, weisen darauf hin, dass sich Versprechungen der Gentechnik bisher nicht erfüllt hätten. "Wir haben Probleme mit noch mehr Pestizideinsatz. Wir haben Super-Unkräuter, der Ertrag ist nicht gewachsen. Die Hochleistungspflanzen sinken. Wir haben Umweltgifte, wir haben erodierte Böden, wir haben Böden, die unfruchtbar werden."
Rafael Schneider von der Welthungerhilfe plädiert dafür, mehr Pflanzenarten für die Ernährung in Betracht zu ziehen. "Im Augenblick ernähren wir die Welt mit etwa fünf Pflanzenarten. Das ist viel zu wenig. Wir müssen auch da ein bisschen breiter aufbauen."
Quellen: Sandra Pfister, Jantje Hannover, Bettina Rühl, Welthungerhilfe, Unicef, FAO, og, nin