Laut einer Studie von UNICEF sterben jeden Monat mehr als 10.000 Kinder - vor allem in Regionen, in denen Lebensmittel ohnehin knapp sind. Durch die Schließung von Märkten könnten viele Menschen Obst und Gemüse aus dem Eigenanbau nicht mehr verkaufen. In Ländern, in denen bereits vor Beginn der Pandemie 70 bis 80 Prozent des Haushaltseinkommens für Nahrungsmittel ausgegeben wurden, führe der massive Preisanstieg von Nahrungsmitteln sowie fehlende Einnahmen unweigerlich zu mehr Hunger.
Viele Regierungen in den betroffenen Ländern seien nicht tatenlos gewesen, unterstrich Mogge. Auch die deutsche Politik habe mit ihrem Corona-Sofortprogramm schnell reagiert und konkrete Hilfe geleistet. Jetzt gelte es, diese unbürokratisch weiter auf den Weg zu bringen.
Von dem Ziel, bis 2030 den Hunger komplett besiegt zu haben, sei man weiter entfernt als noch vor fünf Jahren. Seit dieser Zeit stiege der Anteil der Hungernden weltweit wieder an. Ausgelöst durch Auswirkungen des Klimawandels, Wirtschaftsverfall und schwelende Konflikte verschlechtere sich die wirtschaftliche Situation vieler Menschen.
Die Corona-Krise wird bei uns oft mit dem Blick aufs eigene Land gesehen, vielleicht noch auf die Länder, die uns umgeben oder in die man reisen will, und schon da sind die Probleme, die die Pandemie mit sich bringt, groß. Wenn man aber in andere Regionen der Welt blickt, geht es wegen der Ausbreitung von COVID-19 oft ums nackte Überleben, und zwar nicht nur deshalb, weil das Corona-Virus tödlich sein kann, sondern weil es den Tod über Umwege mit sich bringt, zum Beispiel wegen Hunger.
Experten von UNICEF, dem Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen, schätzen in einer Studie, dass durch die Corona-Krise jeden Monat mehr als 10.000 Kinder an Hunger sterben. Betroffen sind vor allem Regionen sein, in denen Nahrungsmittel ohnehin knapp sind.
Mathias Mogge, Generalsekretär der Welthungerhilfe, über Auswirkungen der Pandemie.
Christiane Kaess: Sind diese Schätzungen der Vereinten Nationen für Sie plausibel?
Mogge: Es sind ja erst mal Schätzungen. Es sind Hochrechnungen, aber die sind durchaus plausibel. Da müssen wir wirklich mit dem Schlimmsten rechnen. Es gibt ja schon seit einigen Jahren den Trend einer Zunahme von hungernden Menschen auf der Welt. Alleine von 2018 auf 2019 sind zehn Millionen Menschen dazugekommen. Und durch die Pandemie müssen wir einfach davon ausgehen, dass sich diese Situation noch mal verschärft.
Kaess: Was waren die Ursachen davor?
Mogge: Die Ursachen sind vor allen Dingen die Auswirkungen des Klimawandels, die vielen Dürren, die wir überall auf der Welt sehen, aber auch Überschwemmungen, Stürme, die dazukommen. Es gibt viele Konflikte gerade in Afrika, muss man einfach feststellen, worunter die Menschen massiv leiden. Und es gibt in einigen Ländern massive Wirtschaftskrisen. Wenn Sie sich anschauen: Im südlichen Afrika, in Simbabwe alleine gibt es einen totalen Verfall der Wirtschaft, und dieses COVID, diese COVID-Pandemie hat sich einfach noch mal draufgesetzt und hat viele dieser Situationen noch mal verschärft.
Seit fünf Jahren wieder mehr hungernde Menschen
Kaess: Für diejenigen, die die Zahlen der Hungernden auf der Welt nicht kennen und nicht so parat haben, ist das jetzt ein deutlicher Anstieg?
Mogge: Das ist ein deutlicher Anstieg. Die Vereinten Nationen ganz allgemein, die gehen davon aus, dass es im Moment 690 Millionen hungernde Menschen auf der Welt gibt. Das ist wie gesagt ein Anstieg von zehn Millionen. Diesen Trend des Anstiegs gibt es ungefähr seit fünf Jahren. Vorher war es so, dass sich die Zahl der Hungernden eher nach unten bewegt hat. Das wurde besser. Seit fünf Jahren hat sich dieser Trend umgekehrt. Es werden wieder mehr. Schätzungen gehen davon aus, dass ungefähr zwischen 80 und 130 Millionen Menschen durch Covid noch mal mehr in den Hunger getrieben werden. Das ist natürlich ein wirklich katastrophaler Trend, den es dringend umzukehren gilt.
Kaess: Es gibt ja die Ziele der Vereinten Nationen und auch von Hilfsorganisationen wie der Welthungerhilfe, den Hunger in der Welt zu reduzieren beziehungsweise ganz los zu werden. Muss man eindeutig sagen, diese Ziele sind gefährdet?
Mogge: Ja, die sind absolut gefährdet. Das Ziel ist eigentlich, dass wir bis 2030 den Hunger komplett bekämpft haben, dass niemand mehr Hunger leiden muss, aber davon sind wir noch ein ganzes Stück entfernt. Deswegen sagen wir noch mal mit Nachdruck, es muss unbedingt investiert werden in Landwirtschaft, in funktionierende Ernährungssysteme, in Gesundheit aber auch. Das ist teilweise ein bisschen vernachlässigt worden in den letzten Jahren und das muss jetzt verstärkt werden. Das sagen nicht nur wir, sondern das sagen natürlich auch die Vereinten Nationen. Es gibt da Möglichkeiten und ich will auch nicht sagen, dass die Regierungen in den betroffenen Ländern da untätig gewesen sind in den letzten Jahren. Jetzt auch in der COVID-Krise kann man durchaus sagen, dass viele Regierungen auch gut reagiert haben. Aber die Situation ist wirklich jetzt schlimm und verstärkt einfach jetzt noch mal durch Covid.
Preisanstieg und schwelende Konflikte
Kaess: Lassen Sie uns über diese potenziellen Möglichkeiten vielleicht etwas genauer gleich noch sprechen. Aber erst noch mal zu den Ursachen. Es erschließt sich wahrscheinlich nicht jedem, warum eine Pandemie zu mehr Hunger führt. Wie ist der Zusammenhang zu erklären?
Mogge: Ich kann mal ein Beispiel geben aus Madagaskar. Im südlichen Madagaskar hat es im letzten Jahr so gut wie gar nicht geregnet, eine totale Dürre, die Menschen haben nichts geerntet. Nach der Ernte kommt in der Regel eine Phase, wo die Menschen anfangen, Obst und Gemüse anzubauen, was sie verkaufen auf den Märkten, auch teilweise bis zur Hauptstadt Antanarivo. Dadurch, dass die Märkte geschlossen sind, keine Transporte möglich sind, das heißt es ist nicht möglich, das Obst und Gemüse, was sie anbauen, zu verkaufen, sind die Preise total verfallen. Das führt zu Hunger, so muss man sich das vorstellen. Das führt zu Hunger, weil die Menschen kein Geld in der Tasche haben. Sie haben nichts geerntet, sie können dafür nichts kaufen, sie sind abhängig von sozialen Sicherungssystemen, Hilfsorganisationen, Nachbarn, Verwandten, die noch irgendwo ein bisschen Geld haben, um irgendwas zu kaufen. So entsteht das und das erleben wir in vielen, vielen Ländern häufig. Auch die massiven Konflikte in Mali zum Beispiel. In Mali sind die Preise für Nahrungsmittel noch einigermaßen stabil, aber da, wo große Unsicherheit ist, da sind die Preise durch die Decke gegangen und da sind Preissteigerungen von 30, 40, 50 Prozent. Wenn man sich überlegt, dass viele Haushalte 70, 80 Prozent ihres Einkommens für Nahrungsmittel ausgeben, dann kann man sich vorstellen, was so eine Preissteigerung dann ausmacht.
"Virus beginnt sich in Afrika stärker auszubreiten"
Kaess: Welche Regionen sind jetzt besonders hart betroffen von dieser Potenzierung durch das Corona-Virus?
Mogge: Es ist schon die Region im südlichen Afrika, südlich der Sahara, und in Südasien. Indien ist schon auch massiv betroffen, aber auch viele Länder in Afrika. Und wir sehen ja auch, dass sich das Virus in Afrika jetzt stärker beginnt auszubreiten. Wir hatten ja eher geringere Zahlen dort beobachtet, aber das nimmt jetzt massiv zu.
Kaess: Die Vereinten Nationen stellen in ihrer Studie die Kinder in den Fokus. Warum sind die vor allem betroffen?
Mogge: Weil das in der Regel die schwächsten Teile der Familie sind. Die können sich natürlich nicht irgendwo hinbewegen wie die Männer zum Beispiel sehr häufig, die dann versuchen, noch irgendwo anders einen Job zu finden und irgendwie Geld zu verdienen, sondern die sind in der Regel wirklich dann in der Familie und sind darauf angewiesen, dass irgendwas Vernünftiges auf den Tisch kommt. Wenn das aber nicht passiert, dann leben sie von dem, was ein bisschen übrig bleibt, und das ist dann teilweise sehr, sehr wenig bis leider am Ende gar nichts.
Welthungerhilfe unterstützt lokale Regierungen
Kaess: Was bedeutet das jetzt für Projekte der Welthungerhilfe? Was können Sie tun?
Mogge: Wir haben wirklich sehr, sehr früh komplett umgeplant und haben fast alle unsere 450 Projekte, die wir in 36 Ländern durchführen, umgestellt und haben gesagt, wir müssen sofort anfangen, in sauberes Trinkwasser stärker zu investieren, Aufklärung zu betreiben, aber auch ganz konkret Nahrungsmittel zu verteilen, zu schauen, dass wir denjenigen, die wirklich sehr, sehr vulnerabel sind, am meisten helfen. Wir haben Bargeld-Überweisungen organisiert. Wir haben aber auch ganz einfach, muss man sagen, lokalen Regierungen, lokalen Administrationen dabei geholfen, sie unterstützt, diese Hilfe zu leisten, diese Hilfe zu organisieren.
Kaess: Haben Sie Forderungen in diesem Rahmen an die deutsche Politik oder an die europäische Politik?
Mogge: Ja. Die deutsche Politik hat schnell reagiert und hat ein Corona-Soforthilfeprogramm auf den Weg gebracht. Wir stellen aber fest, dass das doch relativ schleppend erst in Gang kommt, und es dauert einfach sehr, sehr lange, bis ganz konkret Hilfe geleistet wird. Deswegen unsere Forderung, dass das jetzt wirklich schnell auf den Weg gebracht wird, auch unbürokratisch auf den Weg gebracht wird, so dass wir wirklich sinnvoll schnell auch wirklich helfen können.
"Deutschland hat beherzt reagiert"
Kaess: Aber die Mittel an sich würden reichen?
Mogge: Na ja, das ist immer relativ. Die Mittel reichen nie. Aber da kann ich wirklich sagen, dass Deutschland durchaus beherzt auch reagiert hat und hat aus dem Nachtragshaushalt von Olaf Scholz doch erhebliche Geldmittel, 1,5 Milliarden Euro erst mal mobilisiert. Wichtig ist, dass das kein Strohfeuer ist, sondern dass wir auch im nächsten Jahr mehr Mittel zur Verfügung haben, weil die Pandemie wird sich hinziehen. Das ist nicht etwas, was man jetzt schnell hier so erledigt hat, sondern das wird sich hinziehen. Eine wichtige Forderung ist auch, dass wir die Mittelbereitstellung gerade für die Hungerbekämpfung auch wirklich in den nächsten Jahren weiter ausbauen.
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