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Weltkunst und Kunstwelten

In einer Sondersendung berichtet Kultur heute von der documenta 13, die vom 9. Juni bis zum 16. Juni in Kassel stattfindet. Über die Geschichte der documenta, Leiterin Carolyn Christov-Bakargiev und viele weitere Themen spricht Karin Fischer mit Stefan Koldehoff, Christiane Vielhaber und Hanno Rautenberg.

Moderation: Karin Fischer |
    Karin Fischer: Sie hören uns heute mit einer Sondersendung live von der
    documenta 13 in Kassel, und unser Standort ist quasi Teil dieser großen Weltkunstschau, die in diesem Jahr ja noch extremer in und durch die Stadt mäandert als sonst. Wir stehen nämlich auf dem stillgelegten Gleis eins des Kulturbahnhofs in Kassel, neben einem Gebäude also, in dem die documenta auch spielt, und neben ein paar Sträuchern, die keinesfalls Unkraut darstellen, sondern wichtige Hinterlassenschaften einer früheren Kunstschau sind.

    Herzlich willkommen also zur Sendung. Ich begrüße als Gäste mit mir am Stehtisch die Kunstkritiker Hanno Rauterberg, Christiane Vielhaber und meinen Kollegen Stefan Koldehoff, und zusammen stellen und beantworten wir hoffentlich ein paar wichtige Fragen. "Geschichte, Feminismus, Krieg – Welches sind die maßgeblichen Themen der documenta? – "Besichtigung der Kunstgeschichte, oder Kunst-Avantgarde – Wie sieht die Hauptausstellung im Kasseler Fridericianum aus?" – "Weltkunst oder Kunstwelten – Wozu brauchen wir heute eigentlich eine documenta? – Und (das war eine der spannenderen Fragen im Vorfeld) "Lockiges Feuerwerk oder verlockende Kunstsirene – Was geht eigentlich im Kopf von documenta-Leiterin Carolyn Christov-Bakargiev vor. Ihre Ziele hat sie heute auf der Pressekonferenz in einem Vortrag vorgestellt - auch das ein Hinweis darauf, dass, obwohl es kein Konzept geben soll, der theoretische Bezugsrahmen dieser documenta wieder ein sehr anspruchsvoller ist. Hören Sie einen ganz kurzen Ausschnitt:

    Christov-Bakargiev: "”Die documenta 13 beschäftigt sich nicht mit dem Versuch, historische Verhältnisse durch Kunst zu interpretieren, wie ich allen Journalisten immer sagte, ich habe kein Konzept. Vielmehr betrachtet sie traumatische Momente, Wendepunkte, Unfälle, Katastrophen und Krisen - Ereignisse, die jene Momente prägen, an denen sich die Welt verändert. Es handelt sich um Momente, in denen Materie Bedeutung erlangt. Daher kommen die Teilnehmer der documenta zwar überwiegend aus der Kunst, aber auch aus der Wissenschaft, Physik und Biologie, ökologischer Architektur, aus Philosophie, Wirtschafts- oder politischer Theorie oder Literaturwissenschaft. Die documenta wird von einer ganzheitlichen und nicht logozentrischen Vision angetrieben, die die Formen und Praktiken des Wissens aller belebten und unbelebten Produzenten der Welt teilt und respektiert. Wir versuchen, das menschliche Denken nicht über die Fähigkeiten anderer Spezies und Dinge zu stellen. Es macht uns demütiger und ermutigt uns, einen weniger anthropozentrischen Standpunkt einzunehmen.""

    Fischer: So weit Carolyn Christov-Bakargiev heute auf der documenta-Pressekonferenz. – Vielleicht stellen wir die Diskussion über diese theoretischen Annahmen, die ja durchaus diskussionswürdig sind, ein bisschen zurück und fragen zuerst mal: Wie sieht das denn in Natura aus? Was davon haben Sie alle gesehen? – Christiane Vielhaber, im Fridericianum soll ja auch eine Art Laborsituation zu sehen sein, aber vor allem sozusagen das Brain dieser Ausstellung zu finden sein.

    Christiane Vielhaber: Ja, und das hat sehr viel mit Geschichte zu tun, Frau Fischer. Das fing schon damit an, als man sich als Journalist einloggen konnte in die Presseabteilung, und man machte das unter "bode55". Arnold Bode war der Gründer der documenta, 1955 fand die erste statt. Das heißt also, die weiteren dieser documenta haben sich sehr wohl mit der Geschichte auseinandergesetzt. Und wenn Sie zunächst reinkommen, haben Sie links einen leeren Raum, und da pfeift die Geschichte. Da ist nämlich nichts drin, sondern es zieht wie Hechtsuppe – nicht ganz so wie hier auf dem Bahnhof. Sie hat das alles frei gelassen. Dann gibt es aber einen Raum, da finden Sie zum Beispiel kleine Skulpturen, Masken von Julio González, die er _59 auf der zweiten documenta gezeigt hat. Und wenn Sie weiter durch das Haus gehen, dann finden Sie Masken von jungen Künstlern heute, Sie finden Masken, die etwas mit Kolonialkunst zu tun haben, mit Deformation, also das alles auch. Sie finden dann komischerweise auch Werke von Dalí und Dalí würde man eigentlich jetzt gar nicht auf der jetzigen documenta erwarten, aber Dalí bezieht sich auf den spanischen Bürgerkrieg. Sie finden dann Wandteppiche von einer Kollegin von Dalí, die damals Picassos Guernica auf der Weltausstellung in Paris gesehen hat und sich darauf bezieht, also auch auf diesen spanischen Bürgerkrieg, was man jetzt so auch nicht erwarten könnte. Also sie greift zurück und nimmt dann wirklich klassische Kunst, sie nimmt dann aber auch Morandi, um zu zeigen, dass man einfach mit Flaschen oder mit Schalen irgendwie eine Aussage über die Zeit machen kann, und das fand ich sehr überraschend, das hatte ich nicht erwartet. Und wenn Sie jetzt sagen, feministisch, zum Beispiel diese Wandteppiche von der Frau, oder diese Masken von der jungen deutschen Künstlerin, ich denke, das hat nichts mit Feminismus zu tun, sondern das hat etwas auch damit zu tun, dass sie doch irgendwo so rote Fäden setzt.

    Fischer: Da war jetzt schon ganz, ganz viel drin. Ich habe vergessen, für unsere Hörerinnen und Hörer zu erwähnen, dass dieser Kulturbahnhof auch früher mal der Hauptbahnhof war, jetzt immer noch der Regionalbahnhof und von daher immer mal eine S-Bahn hier vorbeischwebt. Frage an Hanno Rauterberg: Wenn wir jetzt hören, dass alles durchdrungen ist von Geschichte, wie ist das mit der Durchdringung der Kunst und der Materie? Was haben Sie gefunden?

    Hanno Rauterberg: Ja das ist schon ein Leitmotiv dieser documenta, dass sie sich mit Material beschäftigt. Bei der letzten documenta ging es sehr viel um Formen und wie Formen sich gegenseitig beeinflussen, in der Kunst und auch im wahren Leben, und hier geht es immer wieder um die Substanz und in unterschiedlichsten Ausprägungen gibt es auch sehr viel Natur, also eigentlich das, was man nicht unbedingt unter Kunst fassen würde: eben Pflanzen in allen Spielformen, Mangold zum Beispiel, Apfelbäume, die von einem Künstler gepflanzt worden sind, die irgendwann mal Äpfel geben sollen, wo man ernten können soll, und dann wird das zu Apfelsaft für die documenta verarbeitet. Es gibt unterschiedlichste Projekte mit Bienen und Hunden und allem möglichen.

    Fischer: Wir kommen da noch drauf!

    Rauterberg: Ja, und dahinter steht natürlich so diese Vorstellung, dass Natur und Kultur nicht trennscharf zu definieren sind, sondern allein der Begriff der Natur ja schon ein menschlicher ist und der Mensch sich sozusagen immer versucht, bestimmte Konstrukte zurecht zu legen, wie er die Welt ordnet. Und wenn es eines gibt, was diese documenta versucht – und ich finde, es gelingt ihr auch in Teilen -, ist es, unsere Vorstellung von dem, wie wir die Welt sehen, wie wir sie erfassen, wie wir sie einsortieren, wie wir sie kategorisieren, aufzulösen oder zumindest ein bisschen zu verrücken, ein bisschen zu erweitern.

    Fischer: Haben Sie, Stefan Koldehoff, diese Art von Standpunktwechsel auch erkunden können?

    Stefan Koldehoff: Na ja, um einen Wechsel vorzunehmen, muss man sich ja mal erst klar werden über den Status quo, wie ist die Welt heute, wie sehen wir die Welt heute. Und wenn man die documenta im weitest möglichen Sinne vielleicht alle fünf Jahre als das begreift, oder als den Versuch begreift, zu schauen, was im Moment in den Ateliers der Welt die Künstler umtreibt, dann manifestiert sich hier auf dem Gelände dieses Bahnhofs, wir sind eigentlich so ein bisschen wie die Geschichte der alten Weltanschauung, der Versuch, die Welt mit technischen Mitteln in den Griff zu bekommen, das Scheitern, vielleicht auch ein bisschen, Bahnhof ist natürlich in der Geschichte auch immer konnotiert als der Ort der Deportation, konkret an diesem Ort auch der Ort, an dem Rüstungstransporte stattgefunden haben. Und da gibt es einige sehr schöne ortsbezogene Arbeiten, beispielsweise die Arbeit des Griechen Panayotu, der Strommasten aus Limassol auf Zypern hier hergebracht hat, die, als Zypern noch britische Kolonie war, dort für Elektrifizierung sorgen sollten. Das Ganze hat aber innerhalb kürzester Zeit schon nicht mehr geklappt und ist gescheitert, weil große Stürme und Wellen einfach diese Masten umgeweht haben.

    Rauterberg: Aber was ich interessant finde ist, dass solche Krisenerfahrungen, die ja immer wieder in verschiedenen Kunstwerken auftauchen, nicht so plakativ dokumentarisch vorgetragen werden, nicht anklagend vorgetragen werden, wie das beispielsweise vor zehn Jahren auf der documenta war, ...

    Vielhaber: Auch nicht pädagogisch!

    Rauterberg: ... , auch nicht pädagogisch, sondern es hat eher was Poetisches, beziehungsweise man merkt, die Kunst hat noch ihr Eigenrecht, sie wird nicht instrumentalisiert.

    Koldehoff: Es kommt vor allen Dingen auch die Materialität wieder zum tragen, die Sie gerade angesprochen haben. Wenn Sie in diesen relativ kleinen Raum gehen, in dem diese fünf nach Harz und Teer und nach Geschichte riechenden Masten liegen, dann sind das zunächst mal einfach nur diese Holzmasten, und erst wenn Sie dann die Wandtafel lesen und die Geschichte dahinter begreifen, dann bekommt das nicht eine Botschaft, aber doch einen Inhalt, und das ist angenehm, dass da kein erhobener Zeigefinger im Spiel ist.

    Fischer: Christiane Vielhaber.

    Vielhaber: Aber wenn Sie sagen, Teer und so was, so richtig sinnlich ist es nun auch nicht.

    Koldehoff: Ach ich finde schon, dass es das an einigen Stellen ist, gerade hier oben auf dem Bahnhofsgelände. Lara Favaretto hat eine gigantische Landschaft aus alten Schwermetall-Teilen nicht zusammengeschüttet, sondern regelrecht inszeniert und komponiert, also eigentlich die Ruinen, die Relikte der Industriegesellschaft. Das ist schon sehr materiell.

    Fischer: Also wir fassen zusammen: Es hat viel damit zu tun, dass hier die Relikte, die Hinterlassenschaften der Zivilisation sozusagen aufgebahrt werden, unser Verhältnis des Umgangs mit der Natur wird thematisiert ...

    Rauterberg: Und den Dingen.

    Fischer: ... und den Dingen. Das könnte einer der roten Fäden sein. Hanno Rauterberg, über Bienenstöcke und deren hoch organisierte Verständigungsrituale wurde im Vorfeld schon viel philosophiert. Sie haben die Karlsaue erwähnt, wo es die Hunde, die Kunststücke für die Schmetterlinge, an denen sich auch nur die Schmetterlinge erfreuen sollen, geben soll. Machen Sie uns klar, was wir davon haben, was die Schmetterlinge davon haben und wie das unseren Blick auf die Kunst und vielleicht auch auf die Dinge verändert.

    Rauterberg: Das muss man mal abwarten, ob das funktioniert. Aber ich finde, die Grundstimmung dieser documenta ist sehr kontemplativ. Sie lädt dazu ein, sich den Dingen ein wenig hinzugeben, und ich glaube, das ist ein Aspekt, der der documenta-Leiterin wichtig ist, so was wie Einfühlung zu üben. Ob man das wirklich kann, ob man sich in einen Stein hineinversetzen kann, in einen Schmetterling hineinversetzen kann? Mir fällt das ein bisschen schwer, offen gesagt, aber es ist sozusagen auch noch diese meditative Komponente dabei. Gleichzeitig – und das ist ganz wichtig – gibt es einen hoch wissenschaftlichen Aspekt in dieser Ausstellung. Kassel war ja immer – und da kommt auch das Geschichtliche mit hinein – ein Stützpunkt der Aufklärung. Hier gab es das erste Museum auf dem Kontinent, es gab ausgeprägte Forschungslabore, astrologische Abteilungen und so weiter und so fort, und die werden jetzt auch wieder mit hineingenommen in diese documenta. Das Ottoneum ist ein Standort, wo es eine wunderbare Sammlung von Büchern gibt, die aus Holz gemacht worden sind, die den Baumbestand in Hessen damals erfassen sollte, und das Interessante ist, dass es eben keine Bücher sind, sondern die sind aus den Hölzern, um die es dort geht. Man macht so kleine Schächtelchen auf, man sieht die Rinde, man sieht die Früchte, man sieht bestimmte Nadeln und so weiter und so fort, also ein wunderbares Moment der alten Aufklärung, die jetzt remobilisiert wird, wieder in die heutige Welt übersetzt wird, dadurch, dass diese jetzt viel schöner arrangiert sind und weitere Bücher hinzugekommen sind durch einen Künstler, der das gemacht hat.

    Vielhaber: Wir reden jetzt von Material. Ich finde auch, dass diese Ausstellung einen Mut hat zu Bildern und zu Bildern, die eigentlich politisch sind. Ich nenne mal ein Beispiel: Es sind Bilder eines Vietnamesen, der in Phnom Penh unter Pol Pot im Gefängnis saß, und man hat ihn nicht zu Tode gefoltert, weil er in der Lage war, von Pol Pot ein Porträt nach dem anderen zu malen. Er hat das Ganze überlebt und hat jetzt nachträglich eigentlich seine Zeit in dieser Folterkammer, in diesem Gefängnis künstlerisch umgesetzt. Und was sehen wir? Wir sehen hinreißend minimalistische Rasterbilder. Im Grunde genommen sind das nur Gefängnisgitter. Und davon sind vier oder fünf da, die einfach so schön sind. Wenn man den Hintergrund nicht weiß, den politischen, kann man die einfach nur schön finden. Sie haben auch mit Material zu tun, sie haben auch mit Geschichte zu tun und auch mit Politik. Zum Beispiel auch die Bilder der beiden Aborigines, also der australischen Eingeborenen, das sind hinreißende abstrakte Bilder. Was sie für die bedeuten oder was sie verloren haben in ihrem Land, das sehen wir nicht, aber es sind einfach tolle künstlerische Bilder.

    Fischer: Das wurde ja auch angekündigt, Christiane Vielhaber, und da sind wir bei dem, was Sie vorher gesagt haben, Einloggen mit "bode55", der Rückgriff auf die Geschichte, aber auf eine Geschichte, die in Deutschland ganz konkret mit Zerstörung und Wiederaufbau zu tun hat, und Zerstörung und Wiederaufbau scheint sozusagen mit auch das heimliche Motto dieser documenta zu sein – mit dem Hitler in der Badewanne ...

    Rauterberg: Ja, und zwar nicht nur in Kassel, also in Kassel ganz stark – Kassel war ja vor dem Krieg eine wunderbare Stadt und ist durch den Krieg ganz schwer zerstört worden, unter anderem auch deshalb, weil es hier Rüstungsindustrie gab und deswegen das Bombenziel attraktiv erschien. Die 50er-Jahre waren auch sehr schön, das übersieht man leicht, und es gibt den Versuch, bestimmte 50er-Jahre-Ecken auch wieder zu mobilisieren, also nicht in den Museen zu bleiben, sondern auch in bestimmte Ballsäle hineinzugehen, in kleine Ladengeschäfte hineinzugehen, also die Leute auch zu ermutigen, die Stadt selber wieder zu entdecken, und das ist auch ein Aspekt, der ganz wichtig ist, die Kunst jetzt, heute, hier zu erleben und nicht als etwas Abstraktes, was überall stattfinden könnte.

    Vielhaber: Aber glauben Sie nicht, dass das auch ein bisschen an Kassel liegt? Können Sie sich erinnern an die documenta-Arbeiten von Kawamata, der in der Stadt selbst, in Kassel, die kaputten Grundstücke ja belegt hat mit seinen Bretterverschlägen? Und in der Karlsaue jetzt haben wir da lauter Büdchen stehen, er hat damals ja so Bretterdörfer gemacht, also so wirklich Slums oder so. ... , dass das etwas ist, was vielleicht viele Künstler, die sich für Plätze interessieren, für Architekturen interessieren, für Aufbau interessieren, dass Kassel so was hat?

    Rauterberg: Aber ist das besonders bei dieser Ausstellung ausgeprägt, dass nicht die Kunst eingeladen wurde, sondern die Künstler und sehr, sehr viele, die Großzahl der Arbeiten tatsächlich hier produziert worden sind, auch im Zusammenhang produziert worden sind?

    Fischer: Aber sagen Sie doch bitte, aus was diese Büdchen bestehen, weil die sind wichtig in der Karlsaue.

    Rauterberg: Sie meinen mit den Büdchen die Pavillons?

    Fischer: Ja. Aus Köln kommend sagen wir Büdchen, aber es sind natürlich architektonische wichtige Gebilde.

    Rauterberg: Es gibt fast 30 Pavillons, die auch unterschiedliche Formen haben, unterschiedliche Maße haben und in denen auch sehr unterschiedliche Dinge passieren. Es gibt zum Beispiel einen, "Time Bank" heißt das, wo man quasi nicht sein Geld einzahlt, sondern seine Zeit einzahlt und sagt, ich kann zwei Stunden lang Rasen mähen und dafür möchte ich beispielsweise zwei Stunden lang vorgelesen bekommen von jemand anderem, oder eben auch klassische Kunstkonstellationen.

    Vielhaber: Ganz hinreißend hinten das Sanatorium, so geschrieben, so ein Schriftzug wie in den 50er-Jahren, und dann sieht das aus wie so Badeanstalten in den 50er-Jahren. Und dann das Witzige: Wenn Sie reinkommen, vorne ist eine Bratwurstbude. Die sieht im Grunde genommen aus wie diese Büdchen, und ganz hinten ist wirklich eine Laubenpieper-Kolonie, also ganz ehrlich so wie das ist.

    Rauterberg: Das hat also was Amüsantes auch.

    Fischer: Stefan Koldehoff.

    Koldehoff: Mich würde interessieren, Herr Rauterberg, Frau Vielhaber, ob Sie auch den Eindruck haben, dass das eine documenta ist, die ein bisschen zurück zu den unmittelbaren Kulturtechniken, weg von den mittelbaren führt – relativ wenig Video, relativ wenig Fotografie, dafür viel Malerei, Plastik, auch Bildhauerei. Das hat mich eigentlich fast ein bisschen beglückt.

    Rauterberg: Und auch Kunstwerke, die immateriell sind. Beispielsweise kommt man ja in das Fridericianum hinein und hat da diesen Wind, der einem entgegenschlägt. Der Raum ist nicht leer, obwohl er leer scheint, sondern er ist mit einem Kunstwerk gefüllt, das nicht zu greifen ist, und ich glaube, da haben wir dann doch wieder dieses, was im Vorfeld immer leicht als Esoterisch bezeichnet wurde, dass es Kunst ist, die nicht sofort einleuchtet, die einem nicht sofort in den Kopf schießt, sondern die erst mal empfunden werden will. Und da sind wir wieder auch bei dem, worum es geht, zu sagen, wie können wir eigentlich uns aus der Krisenerfahrung befreien, die wir heute haben und die auch in der Vergangenheit präsent war, wie kommen wir eigentlich da heraus.

    Fischer: Es geht um eine andere Wahrnehmung.

    Rauterberg: Es gibt nicht die großen Utopien, es geht um andere Wahrnehmungen, und letztlich geht es darum, wie können wir eigentlich anders denken. Und das ist der Punkt: Es ist nicht eine kognitive Form des anderen Denkens, sondern die Frage, wie können wir uns die Welt anders vorstellen und mit der Vorstellungskraft dann auch vielleicht in ein anderes Denken hineingelangen. Ob das so gelingt, müssen wir mal sehen.

    Fischer: Ich möchte in dem Zusammenhang noch gerne die Geschichte des Meteoriten erzählen, weil die, glaube ich, wirklich für die Entstehung dieser documenta wichtig ist. Ein Meteorit, der nicht nach Kassel eingeschifft werden durfte, ...

    Rauterberg: El Chaco!

    Fischer: El Chaco - das haben die Mocovi-Indianer verhindert, denen er nämlich gehört, mit ganz guten Gründen -, ein Felsbrocken von 37 Tonnen, der vor 4000 Jahren auf der Erde einschlug, und der ist eigentlich ein ganz gutes Symbol für dieses, vielleicht von uns zu übende neue Verhältnis zur Natur, nämlich für die Anwesenheit des Universums auf der Erde, wie Frau Bakargiev das nennt, für die Verbindung mit allem, von allem, mit allem durch Bewegung, und das würde bedeuten, Kunst ist Veränderung, allein schon durch die bloße Anwesenheit so eines im Grunde ja vernichtenden, jetzt aber kunstvollen Monuments, nur dass er abwesend ist, der Meteorit.

    Koldehoff: Dieser andere Blick auf die Welt hat aber doch eigentlich immer schon die gute Kunst von der weniger guten Kunst unterschieden. Wir finden ja den "Röhrenden Hirsch" oder die "Mühle am rauschenden Bach" deswegen nicht bedeutend, weil sie eben keine neue Sicht auf die Welt eröffnet, das tun andere Künstler mit ihrem eigenen Blick, und vielleicht wird das hier zum ersten Mal tatsächlich konsequent global versucht.

    Rauterberg: Der große Unterschied ist für mich, wenn ich das noch kurz anmerken darf, dass nicht so dieser wahnsinnig kritische Impuls da ist. Es geht nicht darum, die Krisenherde auszusparen, aber diese dezidierte übermäßige, auch letztlich aus so einer moralischen Überlegenheit heraus vorgetragene Kritik, die findet man hier eher selten, dafür gibt es dann doch eher so eine gewisse Bescheidenheit. Manche Sachen sind auch ein bisschen karg und vielleicht auch ein bisschen dürftig. Es gibt so eine Entdeckung: Konrad Zuse, der Erfinder des Computers beispielsweise, wird hier auch als Maler vorgeführt mit bestimmten Pastellbildern, die er gemalt hat, wo man dann denkt, ja gut, ist eine tolle Entdeckung, aber man versteht dann auch, warum er nicht Maler geblieben ist, sondern sich dann doch zum Ingenieur entwickelt hat. Also viele Sachen fand ich dann doch in der Ankündigung vielleicht interessant, reizvoll und ein bisschen schwächer doch in dem, was man dann tatsächlich sieht.

    Fischer: Ich möchte am Schluss – wir haben noch zweieinhalb Minuten – doch noch gerne die Frage stellen, wozu man heute diese documenta braucht, worin sie sich unterscheidet von einer Messe und ob dieser andere Gedanke, den Frau Christov-Bakargiev uns hier nennt, ob der trägt, ob der interessant ist, ob sie damit die Künstler oder unser Verständnis von Kunst neu bewertet.

    Koldehoff: Ich würde sagen, das Schöne, was möglich ist hier in Kassel, ist das wieder Einlassen auf die Kunst, und mit wieder Einlassen meine ich das, was Herr Rauterberg gerade sagte, nicht direkt verstehen wollen, sondern mal erst wirken lassen und gucken, ob es trägt oder ob es nicht trägt. Dafür allerdings – Frau Fischer, Sie haben es gesagt: es ist eine allein räumlich riesengroße documenta – braucht man Zeit. Wir konnten sicherlich vieles nur anreißen.

    Rauterberg: Empfohlen werden, glaube ich, drei Tage mindestens.

    Vielhaber: Und was ich ganz gut finde ist: von Markt spüren Sie nichts. Wenn Sie von Messe reden – ich habe nicht das Gefühl, dass hier Abend irgendwelche Sachen verschachert werden, verkauft werden. Hier wird nicht auf den Markt geblickt, hier wird auch nicht unbedingt auf Galerien geblickt, und da, finde ich, unterscheidet sich die documenta von den vielen Biennalen und Manifesten in dieser Welt. Also sie ist doch noch was, obwohl sie Multikulti ist, was sie jetzt schon alles seit Jahren ist, aber sie hat doch noch so was eigenes.

    Rauterberg: Man merkt, dass sie vier Jahre lang vorbereitet worden ist, also mit immer vielen Dingen angereichert worden ist, unter anderem eben auch andere Standorte noch erschlossen hat. Darüber haben wir nicht gesprochen bisher, aber vielleicht lohnt sich die Erwähnung zum Schluss, dass eine Dependance von Kassel in Kabul liegt und dort auch eine Ausstellung zu sehen sein wird.

    Vielhaber: ... , obwohl man jetzt nicht unbedingt schnell dort hinkommt.

    Rauterberg: Da kommt man nicht hin, aber das Krisenthema ist sozusagen dann nicht mehr abstrakt, sondern ganz real und körperlich spürbar.

    Fischer: Es gibt viele Tiere auf dieser documenta, wir haben sie auch nicht alle erwähnt. Ich würde nicht sagen, die documenta ist auf den Hund gekommen. Das wäre, glaube ich, nach Ihrem positiven Resümee jetzt zu viel gesagt – nur ein Kalauer. Diese documenta fordert ein neues Verhältnis zu den Dingen ein, manche sagen dazu, auch im Hinblick auf die Bewahrung der Schöpfung. Das wäre dann der Dreh zu dem kleinen Streit mit den Kirchen, den die documenta-Leiterin hatte, den wir jetzt auch nicht streifen konnten. Ich danke Ihnen ganz herzlich, Christiane Vielhaber, Hanno Rauterberg und Stefan Koldehoff, dass Sie uns diesen ersten Überblick über die documenta gegeben haben. Wir werden in "Kultur heute" natürlich in loser Folge weiter über einzelne Aspekte dieser Weltkunstschau berichten.
    Live von der documenta berichteten Karin Fischer (Mitte), Christiane Vielhaber (li.), Hanno Rautenberg (re.) und Stefan Koldehoff (nicht im Bild)
    Live von der documenta berichteten Karin Fischer (Mitte), Christiane Vielhaber (li.), Hanno Rautenberg (re.) und Stefan Koldehoff (nicht im Bild) (Deutschlandradio - Stefan Koldehoff)