Mit Sport möchte Lydia Hatzenberg in Namibia das Selbstvertrauen junger Frauen stärken. Über das Training hinaus lenkt die Mitarbeiterin des Fußballverbandes den Blick auf gesellschaftliche Themen. So besucht sie mit ihren Spielerinnen auch die namibische Hafenstadt Lüderitz, einen der ersten deutschen Siedlungsorte Ende des 19. Jahrhunderts.
"Der Tourguide zeigte uns eine Fleischerei und eine Bibliothek, er führte uns zu Häusern, Straßen und Denkmälern – alle mit deutschen Namen. Wir wollten aber wissen, wo afrikanische Arbeiter gelebt haben. Wir wollten den Ort sehen, wo Zacharias Lewala 1908 den ersten Diamanten fand – und damit für die Deutschen einen Boom auslöste. Aber davon erfuhren wir nichts. Es ging nicht wirklich um die Geschichte Namibias."
Die soziale Hierarchie wirkt über Jahrzehnte nach
1884 bezeichnet das Deutsche Kaiserreich seine erste Kolonie als "Schutzgebiet Deutsch-Südwestafrika". Dieser Gewaltherrschaft fallen bis zu 100.000 Menschen zum Opfer, die meisten sind Herero. Die Deutschen enteignen viele Überlebende und zwingen sie zur Arbeit. So entsteht eine soziale Hierarchie, die bis heute nachwirkt, erzählt Lydia Hatzenberg. Ihre Großmutter hat deutsche Wurzeln, ihr Großvater stammt aus Südafrika.
"Ich habe einen deutsch klingenden Namen. Daher sind Leute manchmal überrascht, dass ich schwarz bin. Ich darf heute Schulen oder Restaurants betreten, die meine Großeltern wegen ihrer Hautfarbe nicht betreten durften. Die Gesellschaft ist durchlässiger geworden, aber in einigen Köpfen lebt Rassismus fort. Neulich im Einkaufszentrum habe ich aus Versehen eine ältere weiße Frau berührt. Das mochte sie ganz und gar nicht."
Lebendige Fußballszene in den Townships
Nach dem Ersten Weltkrieg übernimmt Südafrika die Macht beim nördlichen Nachbarn Namibia. Die größten Ländereien bleiben im Besitz der weißen, oft deutschstämmigen Elite. Jahrzehnte lang prägt die Apartheid Medizin, Bildung und Sport. So tragen Weiße, Schwarze und so genannte "Farbige" im Fußball eigene Meisterschaften aus, erzählt der namibische Historiker Dag Henrichsen aus dem Zentrum für Afrikastudien der Universität Basel.
"Die Menschen in den Townships wurden vom Regime als Unterschicht betrachtet. Die weißen Kontrolleure erlaubten dort Fußball auf sehr einfachen Plätzen. Doch es entwickelte sich eine lebendige Szene mit vielen Klubs. Turniere wurden nach afrikanischen Anführern benannt – ein Ausdruck von wachsender Selbstbestimmung. Ab den 1950er Jahren kamen politische und antikoloniale Aktivsten sich auch beim Fußball näher. Der heutige Präsident Namibias, Hage Geingob, war ebenfalls als Spieler aktiv. Politische Rekrutierung musste jedoch im Geheimen stattfinden. Die Fußballplätze wurden von der südafrikanischen Regierung streng überwacht. Das Regime unterwanderte einige Klubs sogar mit Spionen."
"Sie waren mit einem Schwarzen unter der Dusche?"
Ab Mitte der 1970er Jahre wächst der Widerstand gegen das Apartheids-Regime. Zu jener Zeit übernimmt der deutsche Lehrer Dieter Widmann einen Job in Windhoek. Gegen Einwände der Behörden besucht er den Stadtteil Katutura, wo ausschließlich Schwarze leben. Widmann organisiert 1977 ein Fußballspiel zwischen einer weißen Schulmannschaft und einer Auswahl von Herero. Dieses "gemischtrassige" Treffen verstößt gegen das Gesetz. Dieter Widmann wird zum Sportminister zitiert.
"Ich habe gesagt: ,Ich habe in der Uni-Auswahl mit einem Schwarzen zusammen gespielt. Und die Antwort: ,Ja, wie, der war schwarz? In Ihrer Mannschaft?‘ Da habe ich gesagt: ,Ja, und wir haben geduscht zusammen. Ich habe dem meine Seife gegeben, und der hat sich damit abgewaschen und hat mir dann die Seife wiedergegeben.‘ Und der Minister: ,Wie, dann haben Sie die Seife wieder genommen von dem Schwarzen?‘ Da habe ich gesagt: ‚Ja‘. Also wir haben richtig aneinander vorbeigeredet."
Mit Unterstützung der deutschen Botschaft entgeht Dieter Widmann der Ausweisung. Er beteiligt sich am Aufbau einer so genannten "bunten" Liga. Doch einigen Fußballern geht dieser Wandel nicht weit genug. Auf einer "Rebellentour" 1978 bestreiten sie Spiele in Südafrika und Rhodesien, dem heutigen Simbabwe. Ihr Motto: "Kein normaler Sport in einer abnormalen Gesellschaft."
Wachsende afrikanische Mittelschicht als Verbrauchergruppe attraktiv
Als letzter Staat Afrikas erlangt Namibia 1990 die Unabhängigkeit. Politische Institutionen wandeln sich grundsätzlich. Doch noch heute sind wohl siebzig Prozent der kommerziellen Landwirtschaft im Besitz der Weißen, die nur fünf Prozent der Bevölkerung ausmachen. Der Historiker Dag Henrichsen:
"Einige Unternehmen haben mit der Zeit die wachsende afrikanische Mittelschicht als Verbrauchergruppe für sich entdeckt. Das war etwas neues, denn in den Jahrzehnten zuvor sollte Werbung meist einen europäischen Geschmack treffen. Afrikaner mit geringem Verdienst waren für die Firmen von geringem Interesse. Aber inzwischen ist Sport ein wichtiger Markt, um zum Beispiel Bier zu verkaufen."
Die Hälfte Bevölkerung lebt unterhalb der Armutsgrenze
Namibia ist ein dünn besiedelter Staat mit 2,3 Millionen Einwohnern. Es gibt Gemeinschaften mit deutschen, südafrikanischen oder angolanischen Wurzeln. Auch ethnische Gruppen wie die Owambo, Herero oder Nama. Laut dem so genannten Gini-Index sind Einkommen und Wohlstand in Namibia besonders ungleich verteilt. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung lebt unterhalb der Armutsgrenze.
Der Sport verdeutliche diese Kluft, sagt Freya Gruenhagen, Büroleiterin der Friedrich-Ebert-Stiftung in Windhoek. Und sie nennt das international bekannte Straßenradrennen "Desert Dash".
"Man findet dort wenige Menschen mit schwarzer Hautfarbe. Es gibt sie, ja, aber dieses Radrennen erfordert so viel Ausrüstung und Vorbereitung, das kann sich einfach nicht jeder leisten. Die Menschen haben über Monate trainiert. Und Trainieren heißt in Windhoek ganz wesentlich, nicht nur ein tolles Rad zu haben, sondern auch ein Auto, das dieses Rad erstmal irgendwo hin transportiert, wo ich trainieren kann. Ob ich Erfolg im Leben haben werde, hängt ganz wesentlich davon ab, wo und wie ich geboren werde."
Weiße gehen kaum noch ins Stadion
Wenige Länder erhalten aus Deutschland pro Kopf so viele Hilfsgelder wie Namibia. Der DOSB und der DFB entsenden Trainer und technische Assistenten. Die Bundesregierung betont, ihrer historischen Verantwortung gerecht zu werden. Doch erst seit 2015 spricht sie überhaupt von einem Völkermord an den Herero. Und Reparationszahlungen in großem Umfang lehnt sie weiterhin ab. Die namibische Trainerin Lydia Hatzenberg.
"Es gab viele Menschen, die ihre Liebsten auf schreckliche Weise verloren haben. Doch das ist lange, lange her. Ich möchte mich nicht von Rachegedanken und Verbitterung lenken lassen. Und selbst wenn Deutschland große Summen zahlen würde, wer in unserer Gesellschaft würde davon profitieren? Ich bin schon so lange im Fußball aktiv. Die Deutsch-Namibier gehen fast nie ins Stadion. Die wenigen Weißen, die ich dort sehe, sind Helfer oder Austauschstudenten aus Europa. Aber wir sollten nicht nebeneinander leben, sondern gemeinsam für ein besseres Namibia arbeiten."
Nicht alle denken wie sie. 2018 wird die 14-jährige Spielerin Liya Herunga ohne Erklärung aus dem Jugendnationalteam im Hockey ausgeschlossen. Herunga war die einzige schwarze Spielerin gewesen. Die verantwortliche Trainerin wird nach einer offiziellen Untersuchung vom Vorwurf des Rassismus: freigesprochen.