Am Ende des 19. Jahrhunderts gilt Indien als "Kronjuwel des britischen Imperiums". Als Quelle für Rohstoffe und Absatzmarkt für englische Billigprodukte. Königin Victoria, auch Kaiserin von Indien, lässt Finanzen, Bildung und Infrastruktur auf dem Subkontinent streng kontrollieren. Zu einem Symbol ihrer Überlegenheit entwickelt sich der britische Sportimport Kricket, erzählt der indische Sozialwissenschaftler Balbir Singh Aulakh.
"Der Grund und Boden, die Herkunft der eigenen Vorfahren, ist in Indien von großer Bedeutung – auch im Sport. Hindus, Muslime und Parsen gründeten in ihren Heimatregionen Kricketteams. Wenn sie bei Turnieren aufeinandertrafen, blieb es meist friedlich. Doch bald wuchs der Nationalismus, die Unabhängigkeitsbewegungen wurden größer. Es kam zu religiösen Spannungen, auch beim Sport. Der Freiheitskämpfer Mahatma Gandhi war gegen Kricket als Nationalsport. Er wollte nicht, dass man eine britische Kultur blind kopiert."
Die Familie des Kapitäns muss unter Polizeischutz
1947 dann die Unabhängigkeit und Teilung des Subkontinents in zwei Staaten: Im Osten entsteht Indien, mehrheitlich geprägt von Hindus, im Westen das muslimische Pakistan. Vertreibung, Flucht und Verfolgung kosten bis zu eine Million Menschen das Leben. Zwischen Indien und Pakistan entsteht ein Konflikt mit globalen Folgen: mit Kriegen, Terror und Propaganda. Aber auch mit regelmäßiger Annäherung.
Als ein Mittel der Diplomatie erweist sich Kricket, der wichtigste Sport in beiden Ländern. 1952 spielt die pakistanische Auswahl erstmals in Indien. Zwei Jahre später ist das indische Team in Pakistan zu Gast. Die Spiele werden von politischen Spitzentreffen begleitet. Tausende Zuschauer erhalten ein Visum für das Land, aus dem sie einst vertrieben wurden. Kricket etabliert sich als Säule der Unterhaltungsindustrie: in Filmen, Liedern und Werbung, berichtet der indische Historiker Kausik Bandyopadhyay.
"Sport war immer politisch. In den ersten Jahren liefen für Pakistan einige Spieler auf, die vor der Unabhängigkeit für Britisch-Indien aktiv waren. Allen Spielern war bewusst: eine Niederlage gegen den Rivalen konnte heftige Reaktionen auslösen. Zum Beispiel die Weltmeisterschaft 1996: Pakistan verlor gegen Indien. Das Haus der pakistanischen Kapitäns Wasim Akram wurde mit Steinen beworfen, seine Familie kam unter Polizeischutz."
Spielverbote in Kriegszeiten
Immer wieder spiegeln sich politische Eskalationen im Kricket. 1991, vor einer Partie zwischen Indien und Pakistan, graben indische Nationalisten das Spielfeld in Mumbai um, die Serie wird abgesagt. Häufig finden Spiele auf neutralem Boden statt, in Städten mit vielen indischen und pakistanischen Einwanderern wie Toronto oder Dubai. Mitunter werden Testspiele von den Regierungen Jahre lang untersagt, zum Beispiel während der drei indisch-pakistanischen Kriege 1965, 1971 und 1999.
Der Forscher Kausik Bandyopadhyay sagt: "Im neuen Jahrhundert gingen beide Regierungen aufeinander zu. Nach der negativen Propaganda sollten durch Kricket positive Begegnungen entstehen. 2004, erstmals nach 15 Jahren, reiste das indische Team wieder nach Pakistan. Für politische Kampagnen wurde Kricket immer wichtiger. Nach Siegen gegen Pakistan wandten sich indische Minister öffentlich an ihre Spieler, bei anderen Gegnern gab es das nicht."
Einige Muslime in Indien unterstützen das pakistanische Team
Anfang des Jahrtausends werden die Visa-Bedingungen zwischen beiden Ländern erleichtert. Indische und pakistanische Kricketspieler bestreiten eine Kampagne gegen Kinderlähmung. 2004 sammeln sie gemeinsam Spenden für Tsunami-Opfer in Sri Lanka.
Doch die Stimmung schlägt um. 2008 gibt es eine Anschlagsserie pakistanischer Islamisten in Mumbai mit mehr als 160 Toten. 2009 folgt ein Angriff auf das Kricketteam von Sri Lanka im pakistanischen Lahore. Zudem schwelt seit Jahrzehnten der Konflikt um Kaschmir. Beide Länder erheben Ansprüche auf das nördliche Territorium. Beim Kricket schwenken pakistanische Fans mitunter die Flagge von Kaschmir, doch die meisten Spieler meiden das Thema, sagt Imran Asghar, ein Londoner mit Wurzeln in Kaschmir und Anhänger des pakistanischen Teams:
"Einer der wichtigsten Spieler Pakistans ist der frühere Kapitän Shahid Afridi. Mit seiner Stiftung setzt er sich für Gesundheit und Bildung ein. Dabei hat er auch mit indischen Spielern zusammengearbeitet. Doch dann äußerte sich Shahid Afridi deutlich zu Kaschmir. Und die indischen Spieler zogen ihre Unterstützung zurück. Wenn es um Kricket geht, achten alle auf ihre Worte. Das gilt auch für Muslime in Indien: Ich kenne einige, die das pakistanische Team unterstützen. Aber nicht offen, aus Angst vor Gewalt."
Spieler mit militärischen Mützen
Von den 1,3 Milliarden Indern gehören 14 Prozent dem Islam an. Unter dem aktuellen Premierminister Narendra Modi und seiner nationalistischen Hindu-Partei BJP nehmen Anfeindungen gegen Muslime zu, auch im Umfeld indischer Ligaspiele. 2019 treten indische Spieler gegen Australien mit militaristisch anmutenden Mützen auf, als Reaktion auf einen Anschlag pakistanischer Terroristen. Solche Symbole haben langfristige Folgen, erzählt die indische Sportjournalistin Sharda Ugra.
"Auch der Druck auf die Spieler in Pakistan ist enorm. Das politische Klima verlangt von ihnen nicht nur sportlichen Erfolg, sondern auch sichtbare Religiosität. Einige Spieler zeigen sich öffentlich beim Beten, andere nehmen an der Eröffnung von Moscheen teil. Einer der wenigen christlichen Nationalspieler Pakistans konvertierte zum Islam, aus Yousuf Youhana wurde Mohammad Yousuf. Und Parteien nutzen Spieler als Posterboys."
Feindseligkeiten in der einstigen Kolonialmacht
Die Spannungen reichen über den Subkontinent hinaus. 1999 stehen sich in Kaschmir abermals indische und pakistanische Truppen gegenüber, der so genannte Kargil-Krieg. Gleichzeitig treffen beide Länder bei der Kricket-WM in England aufeinander. Vor dem Stadion in Manchester kommt es zu Schlägereien zwischen Fans. In der einstigen Kolonialmacht Großbritannien leben rund 1,5 Millionen Menschen mit indischen und 1,2 Millionen Menschen mit pakistanischen Wurzeln. Meist bleibt es friedlich, doch manchmal geraten sie in den vielen Amateurligen aneinander. Der englische Journalist Oliver Brett schildert eine neokoloniale Perspektive, die durchaus verbreitet ist.
"Es gab einen kontroversen Zeitungsartikel von Norman Tebbit, einem Minister aus der Regierung von Margaret Thatcher in den Achtziger Jahren. Er regte sich über Kinder von Einwanderern auf, die in England aufgewachsen sind, aber die Teams von Indien oder Pakistan unterstützen. Er fand das moralisch falsch."
2019 findet die WM abermals in England statt, mehr als 500 Millionen Fernsehzuschauer verfolgen Indien gegen Pakistan. Inzwischen ein seltenes Spiel. Seit mehr als zehn Jahren untersagt die indische Regierung ihrem Kricketteam Testspiele gegen Pakistan. Für die Indische Profiliga erhalten pakistanische Spieler keine Genehmigung. Einige ihrer Funktionäre fordern den Ausschluss Pakistans von großen Turnieren. 1987 trugen beide Länder die WM noch gemeinsam aus. Aktuell: undenkbar.