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Weltweite Flüchtlingshilfe
Nahost-Experte: Den Menschen Würde zurückgeben

Weltweit fehle es an Geld für humanitäre Hilfe, sagte Kilian Kleinschmidt, ehemaliger Leiter des Flüchtlingslagers Zaatari in Jordanien, im Deutschlandfunk. In dem vorderasiatischen Land dürften Flüchtlinge zudem nicht arbeiten. "Und wenn man nicht arbeiten darf und keine humanitäre Unterstützung bekommt, dann schickt man die Kinder zur Arbeit. Das ist illegal aber Realität."

Kilian Kleinschmidt im Gespräch mit Tobias Armbrüster |
    Syrische Kinder im Flüchtlingslager Zaatari in Jordanien.
    Syrische Kinder im Flüchtlingslager Zaatari in Jordanien. (picture alliance / Lehtikuva / Heikki Saukkomaa)
    Anfangs sei die Hilfe für eine bestimmte Krise meistens gut finanziert, sagte Kilian Kleinschmidt. Doch nach ein bis zwei Jahren werde dann das Geld weniger, so der ehemalige Krisenexperte des Flüchtlings-Hilfswerks der Vereinten Nationen.
    "Für dieses Jahr, für die Syrien-Krise wollten die humanitären Organisationen etwa 5,5 Milliarden Dollar. Und davon sind nur zwei zusammengekommen", erklärte Kleinschmidt und betonte: "Im Nahen Osten kostet es einen Dollar pro Tag, einen Menschen zu ernähren. Das sollte eigentlich machbar sein."
    Am meisten fehle den Menschen in vielen Flüchtlingslagern die Würde, sich um sich selbst kümmern zu können - das beinhalte auch das Arbeiten oder Studieren. Kleinschmidt: "Massenabfertigung ist nicht der Weg nach vorne. Wir müssen es so schnell wie möglich schaffen, Menschen aus Massenunterkünften herauszubekommen."

    Das Interview in voller Länge:
    Tobias Armbrüster: Immer wieder hören wir in diesen Tagen, dass die hohen Flüchtlingszahlen in Europa vor allem eine Ursache haben: die miserablen Lebensbedingungen der Flüchtlinge im Nahen Osten. Viele von ihnen leben in Lagern, viele auch privat in angemieteten Wohnungen.
    Zehntausende, wenn man in die Lager blickt, leben dort häufig zusammen auf engstem Raum, häufig in Zelten oder in Containern, ohne Arbeit, ohne eine echte Zukunft, angewiesen sind sie auf Versorgung durch Hilfsorganisationen oder die Vereinten Nationen. Und dann streichen die Regierungen in aller Welt ihre Unterstützung für diese Notversorgung auch noch zusammen.
    Wir können darüber jetzt reden mit einem Mann, der sich gut auskennt mit den Abläufen, die Flüchtlinge zu vergegenwärtigen haben, mit den Abläufen auch in Flüchtlingslagern. Am Telefon ist Kilian Kleinschmidt, der ehemalige Leiter des Flüchtlingslagers in Zaatari, in Jordanien, lange Jahre Krisenmanager beim UN-Flüchtlingshilfswerk, gerade hat er ein Buch über seine Arbeit geschrieben. Schönen guten Morgen, Herr Kleinschmidt!
    "Eine Krise ist am Anfang immer gut finanziert"
    Kilian Kleinschmidt: Guten Morgen!
    Armbrüster: Herr Kleinschmidt, was ist denn Ihr Eindruck, wenn wir mal an die Flüchtlingslager, wenn wir mal auf die blicken, haben die Regierungen diese Lager im Nahen Osten aus dem Blick verloren?
    Kleinschmidt: Ja, natürlich, sie haben das ja schon seit Langem gesagt, eine Krise ist am Anfang immer gut finanziert, man reagiert auf die ersten Bilder und dann schon nach einem Jahr, zwei Jahren gehen dann die Gelder langsam zurück, werden weniger, und es wird immer schwieriger dann auch vernünftige Konditionen in solchen Situationen zu schaffen, das gilt für die Lager und für die Menschen außerhalb der Lager.
    Armbrüster: Wie ist das dann? Heißt es dann auf einmal, ja, im letzten Jahr hattet ihr noch den Betrag x, aber die Regierung hat jetzt diesen Betrag einfach zusammengestrichen und deshalb bekommt ihr jetzt nur noch so und so viel Prozent weniger?
    Kleinschmidt: Nein, das ist ein bisschen anders. Das heißt, jedes Jahr wird der Bedarf für die Krisensituation errechnet, man versucht zu schätzen, was man braucht, und ein solcher Appell wird dann an die sogenannte internationale Gemeinschaft gerichtet. Jetzt für dieses Jahr, zum Beispiel, für die Syrienkrise wollten die humanitären Organisationen etwa 5,5 Milliarden Dollar – und davon sind aber nur 2-Komma-Irgendwas zusammengekommen und das heißt, es fehlt an allen Ecken.
    "Weltweit fehlt es an Geld für humanitäre Hilfe"
    Armbrüster: Was könnten denn passieren oder was sollte passieren, damit das wieder anders wird? Muss man diese Situation vielleicht wieder mehr in den Blick der Öffentlichkeit rücken, machen da vielleicht auch die Vereinten Nationen was falsch?
    Kleinschmidt: Ich glaube, das ist wirklich ein kollektives Problem. Weltweit fehlt es an Geld für humanitäre Hilfe, die im letzten Jahr nur ein Gesamtbetrag von 24,5 Milliarden Dollar zusammenbekommen hat, das ist für alle Krisen der Welt, für 60 Millionen Flüchtlinge, Kriegsflüchtlinge und natürlich die vielen, die auch immer mehr durch Erdbeben und Überschwemmungen vertrieben werden, und das ist zu wenig und da müssen wir ganz anders und viel robuster uns überlegen, wie man humanitäre Hilfe, Entwicklungshilfe, aber auch Kooperation und Zusammenarbeit ganz anders gestalten kann.
    Armbrüster: Wie sollte man das denn Ihrer Meinung nach machen?
    Kleinschmidt: Natürlich Hilfe spenden, das Überleben von Menschen finanzieren, das ist das erste, aber gleichzeitig Perspektiven zu schaffen, und das ist ja im Augenblick oft einer der großen Gründe, warum die Leute kommen: Es gibt keine Ausbildung, keine Möglichkeit zu arbeiten, das heißt aber auch, das können wir nicht durch humanitäre Hilfe richten, sondern da ist die Wirtschaft gefragt, da braucht es Strukturhilfen für die Länder, die davon betroffen sind. Die meisten Flüchtlinge der Welt sind ja in armen Ländern. Arm plus arm gleich doppelarm.
    "Kinderarbeit ist im Augenblick Realität im Nahen Osten"
    Armbrüster: Und wenn wir zum Beispiel nach Jordanien blicken, da haben Sie ja zuletzt Erfahrungen gesammelt – dürfen die Flüchtlinge dort arbeiten?
    Kleinschmidt: Sie dürfen es nicht, und das führt dazu, dass wenn man natürlich keine Unterstützung, wenn man nicht arbeiten darf und keine humanitäre Unterstützung bekommt, das heißt, keine Lebensmittel und vielleicht auch finanzielle Unterstützung, um auch Mieten zu zahlen, um die Kinder in die Schule gehen zu lassen, dann schickt man die Kinder zur Arbeit. Das ist illegal, aber das ist im Augenblick die Realität für hunderttausende von Kindern im Nahen Osten.
    Armbrüster: Wenn wir uns mal die wirkliche Notversorgung, das wichtigste angucken, was Flüchtlinge haben müssen, egal ob sie nun in Lagern leben oder in privaten Wohnungen – was ist da das, was am meisten Geld verbraucht? Wofür wird am meisten Geld benötigt?
    Kleinschmidt: Im Nahen Osten kostet es einen Dollar pro Tag, einen Menschen zu ernähren. Das sollte eigentlich machbar sein. Natürlich brauchen die Menschen, die gerade nicht in Lagern leben, Geld, um auch Wohnungen zu bezahlen, schlechte Wohnungen, oft haben sie Garagen angemietet oder unfertige Häuser. Sie müssen aber natürlich auch für die Kinder und für ihre Familien alles, was man braucht, kaufen, und das heißt, finanzielle Hilfe ist da schon sehr wichtig, aber das, was ihnen im Augenblick am meisten fehlt, ist die Würde, selber sich um das Leben kümmern zu können, das heißt, arbeiten, auch lernen, studieren.
    Armbrüster: Aber wohnen zum Beispiel, wenn man sich so ein Lager wie Zaatari in Jordanien mal ansieht, das ist durchaus möglich in diesen Lagern?
    Kleinschmidt: Ja, natürlich, das ist möglich. Inzwischen sind diese Lager auch relativ gut ausgestattet, jeder hat inzwischen einen Wohncontainer, aber da geht es dann jetzt darum, dass nach fünf Jahren Krieg eben man sich fragt, was ist denn die Zukunft meiner Familie, wie können wir es verhindern, dass meine Kinder irgendwann mal auch in den Krieg ziehen. Das heißt, viele fragen sich jetzt, wo denn hin.
    "Den Menschen ist wichtig, die Würde zurückzubekommen"
    Armbrüster: Und kann es sein, dass sich viele Menschen auch daran gewöhnen, in solchen Lagern zu leben? Werden das dann richtige Städte?
    Kleinschmidt: Natürlich, und wir müssen auch ganz anders uns überlegen, wie man solche Lager so gestaltet, dass es keine Abstelllager sind, sondern Lebensräume, die auch Chancen bieten, sich weiterzubilden, sich weiterzuentwickeln, auch auf die Zukunft des Herkunftslandes hin zu arbeiten.
    Das ist eigentlich eine Chance, mit Menschen zusammen eine Zukunft für ihre Herkunftsregion zu entwickeln, und das passiert zu wenig, da müssen wir Profis reinbringen, die den humanitären Organisationen entweder helfen zu unterstützen, beizustehen oder das Ganze auch übernehmen und diese Orte als Städte auch managen.
    Armbrüster: Wenn wir uns die Umstände in solchen Lagern ansehen im Nahen Osten, das sind ja sicher Extrembedingungen – können wir in Deutschland daraus irgendetwas lernen, irgendwelche Rückschlüsse ziehen für die Arbeit mit Flüchtlingen hier bei uns?
    Kleinschmidt: Natürlich, wir haben dort gelernt, in Zaatari und in den anderen Lagern, die es gibt, vom Irak bis in die Türkei, was den Menschen wichtig ist, ist doch sich individuell wieder entwickeln zu können, das heißt, die Würde zurückzubekommen, für sich selber verantwortlich zu sein, das heißt, Massenabfertigung ist nicht der Weg nach vorne. Wir müssen so schnell wie möglich es schaffen, Menschen aus Massenunterkünften herauszubekommen. Das ist natürlich einfacher gesagt als getan, aber das ist der erste Schritt für die Menschen, die vor einem Krieg fliehen.
    "Wir sind hier zu sehr mit uns selber beschäftigt"
    Armbrüster: Herr Kleinschmidt, mit Ihrer jahrzehntelangen Erfahrung in solchen Lagern und beim Umgang mit Flüchtlingen – wie verfolgen Sie diese Debatte, die wir zurzeit in dieser Flüchtlingskrise führen?
    Kleinschmidt: Noch mal, ich habe das Gefühl, dass wir hier nur nach Einzellösungen suchen. Es muss ein Gesamtpaket zusammengeschnürt werden. Ich finde das alles etwas mühsam, da zuzuhören, wenn man eben über eine Möglichkeit redet, wir reden entweder darüber, was man hier mit ihnen macht oder dass man im Nahen Osten oder sonst wo mehr helfen soll – das gehört zusammengebracht, da muss eine Gesamtlösung her.
    Das heißt, eine große Bemühung, eine Finanzierung in den Nahen Osten zu bringen ist eins, natürlich auch das verbunden mit legalen Möglichkeiten für Menschen, sich auch global, nicht nur nach Europa, bewegen zu können, das gilt hauptsächlich, finde ich, für Studenten und für arbeitswillige Menschen. Aber es gibt auch die Schutzbedürftigen, die in größeren Zahlen über die Welt umverteilt werden müssen.
    Diese Verbindung zwischen einem Stabilitätsfaktor im Nahen Osten und Nordafrika mit einer legalen Migrationsmöglichkeit, verbunden mit Evakuierung von Schutzbedürftigen, die wirklich eine besondere Betreuung brauchen, das ist eine Gesamtlösung, und da finde ich, da sind wir hier zu sehr mit uns selber beschäftigt.
    Armbrüster: Live hier bei uns im Deutschlandfunk war das Kilian Kleinschmidt, lange Jahre Krisenmanager beim UNHCR, inzwischen freier Berater und Autor des gerade erschienen Buches "Weil es um die Menschen geht". Herr Kleinschmidt, vielen Dank für das Gespräch heute morgen!
    Kleinschmidt: Vielen Dank!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.