Menschen begrüßen sich in jedem Land anders. Die einen senken nur kurz den Kopf, andere geben sich die Hand. Es wird geküsst, geshakert und sich auf die Schulter geklopft.
Mit diesen unterschiedlichen Begrüßungsritualen lädt auch das Museum der Kulturen in Köln die Besucher des Völkerkundemuseums ein.
Die dort gezeigten Menschen aus verschiedenen Regionen der Welt, aus unterschiedlichsten Nationen und aus allen Kontinenten, haben eine Gemeinsamkeit: Sie sind Bürger der Stadt Köln.
Die meisten dieser Neu-Kölner kommen, um hier zu arbeiten oder weil ein Familienmitglied hier arbeitet. Vielleicht sind ihre Landsleute schon hier und haben ein Stadtviertel gefunden, in dem sie leben, zum Beispiel ein Gründerzeitviertel wie Köln-Mühlheim oder eine Hochhaussiedlung wie Köln-Chorweiler. Die meisten von ihnen kommen aus einem Dorf und immigrieren in die Stadt.
"Arrival City", "Ankunftsstadt", nennt der kanadische Migrationsforscher Doug Saunders diese Orte, die auf diese Art weltweit entstehen:
"Das sind die Viertel, wo die Bewohner mit einem Bein noch im Dorf und mit dem anderen in der Stadt stehen. Dazu gehören die Slums, die Barackensiedlungen der entwickelten Welt. Dazu gehören aber auch Stadtteile, wo sich ethnische Gruppen finden wie in Kanada oder den USA: China Town, Little India oder Little Italy. Dazu gehören Orte, die als Gettos bekannt sind. Einige dieser ethnisch geprägten Wohngegenden werden Mittelklasseviertel."
Berlin-Kreuzberg ist ein solches Viertel. Zwar immer noch von Migranten geprägt, zieht dieser Stadtteil aufgrund der zentralen Lage seit der Wiedervereinigung auch die Mittelschicht an. Zu DDR-Zeiten grenzte das Viertel an die Mauer und wurde dadurch unattraktiv für deutsche Bewohner, die Platz schufen für türkische Arbeiter und ihre Familien.
Ob Türken aus Anatolien oder ehemalige chinesische Landarbeiter - sie alle haben ähnliche Motive, ihr Dorf zu verlassen, meint Doug Saunders: Armut und Hungersnöte. Häufig wird zunächst ein Familienmitglied in die Stadt geschickt:
"Es beginnt damit, dass die Menschen saisonal in der Stadt arbeiten. Oft sind es die Frauen, die in die Stadt gehen, um in Haushalten zu arbeiten. Häufig funktioniert Migration so: Sie kommen in die Stadt und gehen nach einiger Zeit wieder in ihr Dorf zurück, hin und her. Nach einigen Jahren gehen die Leute dann ganz in die Stadt und verkaufen ihr Haus im Dorf. Das ist aber nicht notwendigerweise so: Wenn sie sich Italiener in kanadischen Städten anschauen, haben viele noch Kontakt zu ihren Dörfern."
Dieses Phänomen lässt sich auch in Deutschland beobachten: Die ersten Gastarbeiter planten zunächst noch, nach einigen Jahren Arbeit zurück in ihr Dorf zu gehen. Dieses Muster gilt weltweit - so Doug Saunders. Zu Beginn fließt das erarbeitete Geld aus der Stadt zurück ins Dorf, zum Beispiel in den Bau eines Hauses oder in die Unterstützung von Verwandten oder deren Versorgung mit Konsumgütern.
Irgendwann holen die Arbeitsmigranten dann ihre Familien nach. Sind sie erfolgreich, verlassen sie die Ankunftsstädte und ziehen in typische Mittelklasseviertel. Das gilt - wenn es gut läuft - für alle Ankunftsstädte.
Rüdiger Knipp, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutsches Institut für Urbanistik:
"Sie hinterlassen beim Weggang eine Struktur, eine Struktur, die tragfähig ist, auch Zuwanderer wieder zu integrieren. Das ist auch ein Phänomen, was man beobachten kann: Sie fühlen sich auch für die neu Zugewanderten sehr stark verantwortlich. Und so soziale Netzwerke, die in diesen von Saunders beschriebenen Quartieren anzutreffen sind, die sind ja nun wirklich teilweise mit einer Struktur hinterlegt, die es auch Neuzuwanderern ermöglicht, schneller in für sie unbekannte Systeme, sei es nun Arbeitsmarkt oder Sozialversicherungssystem oder so, Zugang zu finden. Der Wegzug heißt nicht Abbruch aller Strukturen, aller Verbindungen in das ursprüngliche Quartier, sondern heißt schon zwar eine persönliche Veränderung, aber die Strukturen bestehen weiter, um auch nachrückende Zuwanderer aufnehmen zu können in die Gesellschaft."
Damit Neuzuwanderer in Quartieren erfolgreich sein können, müssen diese Orte allerdings einige Voraussetzungen erfüllen:
"Ich denke, dass der Zustand der Umgebung eine große Auswirkung haben kann, wie gut die Bewohner dort leben. Die meisten dieser Viertel wurden für die untere Mittelschicht gebaut: große Häuser mit viel Grün drum herum, außerhalb des Zentrums. Die Planung sah verschiedene Bereiche vor zum Wohnen, Einkaufen und Arbeiten. Aber was die Leute wirklich brauchen, wenn sie immigrieren, ist, dass sie Teile von ihrem Haus für ihre Arbeit nutzen können. Sie wollen Flexibilität, vielleicht ein kleines Geschäft gründen. Wir müssen auf die Transportmöglichkeiten schauen. Schon das kann den Unterschied zwischen Erfolg und Misserfolg ausmachen."
Die Möglichkeit, sich zu Beginn selbstständig zu machen, begünstigt Integration, meint auch Rüdiger Knipp. Er sieht drei Faktoren, die dabei eine Rolle spielen:
"Die erste Generation war mit Sicherheit geprägt davon, dass Migranten Nischen besetzt haben, denken Sie an Lebensmittelbereiche, alle Bereiche der Nahversorgung. Da haben sie aber in erster Linie für ihre eigene ethnische Gruppe versucht, ein Angebot bereitzustellen. Das geschah am Anfang, ohne dass es eine Konkurrenzsituation zu deutschen Geschäftsleuten war. Wir erleben das auch jetzt in den weiteren Generationen noch, dass es solche Nischen gibt, die da besetzt werden mit einem sehr, sehr positiven Effekt, wie ich finde, dass es in der Tat zu einer kleinen Wettbewerbssituation führt, wenn Sie zum Beispiel daran denken, dass sie auch in deutschen Gemüseläden plötzlich ein Angebot bekommen, was Sie vor einigen Jahrzehnten oder Jahren auch teilweise noch nicht bekommen haben. Also es belebt auch wirklich schon den Wettbewerb vor Ort."
In dem Fall profitieren Migranten und einheimische Stadtbewohner.
"Der andere Fall ist, dass wir feststellen, dass es unter den Zuwanderern einige Nationen gibt, bei denen es eine ganz andere Mentalität zur Selbstständigkeit gibt, also bei den Griechen und bei den Türken, ist das sehr weit ausgeprägter als bei uns. Die gehen halt eben einfach das Risiko ein, sich selbstständig zu machen. Das ist so ein kultureller Aspekt, der stärker vertreten ist als bei uns."
"Das dritte Modell ist das sogenannte Reaktionsmodell ...."
"... wenn nämlich Zugewanderte erkennen, dass sie aufgrund bestimmter Kriterien auf dem Arbeitsmarkt keine andere Chance haben, als sich selbstständig zu machen, um wirklich auch an der Gesellschaft teilhaben zu können, dann wird dieser Weg gewählt, dass man aus der Not heraus quasi sagt, okay, bevor ich jetzt hier wirklich ausgegrenzt werde, mich ausgrenzen lasse oder mich ausgegrenzt fühle, dann mache ich mich selbstständig."
Ob sogenannte Ankunftsstädte erfolgreiche Startchancen für Migranten bilden oder nicht, hängt von vielen Faktoren ab. Das Gefühl, nicht gewollt und ausgegrenzt zu werden, ist sicherlich nicht hilfreich für eine gelungene Integration. Aber es gibt Städte, in denen Integration scheinbar mühelos gelingt wie in Ontario in Kanada. Die meisten Migranten - wie die Mazedonier in den 1960er-Jahren oder die Lateinamerikaner - siedeln zunächst im Osten der Stadt. Dort gibt es Gemeinschaftszentren, Schulen, in denen die Kinder schnell Englisch lernen und gefördert werden und eine gute Verkehrsanbindung an die Innenstadt, um zu arbeiten.
"Was macht den Unterschied aus zu anderen Vierteln, die als Orte der Kriminalität, der Drogenprobleme und häufigen Polizeieinsätze Schlagzeilen machen? Was macht sie erfolgreich? Die meisten Menschen wollen mehrere Generationen dort bleiben. Und wenn diese Orte in die Kriminalität abdriften, hat das häufig seinen Grund darin, dass Barrieren aufgerichtet wurden, zum Beispiel die fehlende Möglichkeit, ein kleines Geschäft in ihrem Haus zu eröffnen, manchmal auch in der Erreichbarkeit der Innenstadt, sodass es schwierig wird, Arbeit zu finden und gleichzeitig seine Kinder gut aufzuziehen. Manchmal sind es aber auch die Bedingungen, die Staatsangehörigkeit zu erhalten."
Obwohl es faktisch längst so war, hat sich Deutschland Jahrzehnte lang nicht als Einwanderungsland gesehen. Die deutsche Staatsangehörigkeit zu erlangen war schwierig; die Anerkennung ausländischer Berufsabschlüsse auch, sodass qualifizierte Migranten nicht in ihrem Beruf arbeiten konnten. Promovierte Taxifahrer, Maurer mit Ingenieursdiplom, Krankenschwestern als Hilfskräfte im Supermarkt - erst der gefürchtete demografische Wandel brachte auch hier ein Umdenken.
Dr. Hans-Peter Klös, verantwortlich für Bildung und Arbeitsmarktpolitik beim Institut der Deutschen Wirtschaft:
"Hier liegt ein Potenzial, dass viele Menschen bei uns leben, die einen beruflichen Abschluss vorweisen können, dass wir aber bei der Anerkennung dessen, was diese Zertifikate denn nun wirklich besagen, zumindest im beruflichen Bereich noch große diagnostische Lücken haben. Aber die Chance, die damit verbunden ist, ist groß, denn wir reden hier über fast drei Millionen Menschen insgesamt, die in Deutschland leben und einen Abschluss im Ausland erworben haben."
Ein weiteres Problem: Nicht jeder Ausländer, der hier lebt, darf auch arbeiten.
"Es ist sicherlich ein bisschen das Köpenick-Dilemma, dass ohne Erlaubnis der Zugang zum Beruf erschwert wird. Wir würden sehr dafür werben, auch mit dem Instrument der befristeten Erlaubnis zu arbeiten, wenn es denn eine Prognose gibt, dass die Einfädelung in den Beruf gelingen kann. Wenn wir richtig liegen in der Diagnose, haben wir am Arbeitsmarkt Engpassberufe. Hier scheint es mit Blick auf Integrationsbemühungen, glaube ich, ein Gebot der Stunde zu sein, die Bedarfe und die Potenziale, die im Land vorhanden sind, etwas stärker als bisher noch zusammenzuführen und möglicherweise auch im Arbeitserlaubnisrecht eine Möglichkeit zu schaffen, schneller als bisher seine Befähigung unter Beweis stellen zu können."
Erst in den letzten Jahren hat die Politik reagiert. Die Versäumnisse der letzten Jahrzehnte lassen sich allerdings nicht so schnell beseitigen. Doug Saunders zieht für Deutschland eine nüchterne Bilanz: Die Barrieren, die Deutschland errichtete, führten bei vielen Türken zu einer Kombination aus ökonomischer Apathie, religiösem Rückzug und archaischen Praktiken wie der Zwangsheirat. So hätten sich in Deutschland Lebensweisen herausgebildet, die weder dörflich noch ursprünglich sind, sondern - so Saunders - "eine groteske Karikatur des Lebens in der eigenen Heimat" darstellen.
"Länder wie Deutschland, wo Wohngegenden abgedriftet sind, weil Immigranten keine Chance hatten, legal die Staatsangehörigkeit zu erwerben. Sie hatten keinen Grund, etwas in ein Geschäft oder ein eigenes Haus zu investieren. Sie hatten keinen Grund, Teil einer legalen Ökonomie zu werden und wurden so zur Unterschicht. Dieses Risiko sehe ich bei Kanada übrigens auch. Aber es gibt Erfolgsgeschichten, nicht aufgrund guter Planung oder viel Verständnis, sondern durch Glück: Wir hatten die richtigen Häuser, die richtigen Orte, die richtigen Einwanderungsgesetze, und es funktionierte für die osteuropäischen Juden, Italienern, Portugiesen, Chinesen eine lange Zeit. Jetzt ist es allerdings ein bisschen kniffliger."
Kniffliger auch deshalb - so der Migrationsforscher - weil das kanadische Punktesystem eher qualifizierten Ausländern eine Arbeitserlaubnis gibt, aber auch Ungelernte dringend gesucht würden.
Trotz vermeintlicher Defizite sieht Dr. Hans-Peter Klös vom Institut der Deutschen Wirtschaft eher positive Aspekte:
"Insoweit haben wir als Institut stets auch geworben für ein Punktesystem in Form von sogenannten Engpassberufen, und je treffsicherer man in der Diagnose der aktuellen und erwarteten Engpässe am heimischen Arbeitsmarkt ist und je stärker man das in ein Punktesystem überführt, umso zielgenauer kann das Punktesystem tatsächlich auch dann eine Steuerung von Zuwanderung erlauben, die mittelfristig genau passt zu dem Bedarf."
Punktesysteme sind nur ein Schritt, um das Heer der Landflüchtlinge zu kanalisieren und in eine Gesellschaft zu integrieren. Doug Saunders vergleicht in seiner Untersuchung geglückte und missglückte Integration auf fünf Kontinenten. Im Gegensatz zu einigen Wissenschaftlern, die sich theoretisch mit dem Problem der Ankunftsstädte beschäftigen, hat er Feldforschung betrieben und mit den Menschen vor Ort gesprochen.
"Ich würde sagen, offensichtlich ist es so, dass Malton Ontario - ein Ort, der sehr arm, von Migranten geprägt und wo der internationale Flughafen von Toronto angesiedelt ist - also Molton Ontario sollte aus verschiedenen Gründen nicht mit den Slums von Mumbai verglichen werden, aber die wirtschaftliche Entwicklung verläuft gleich. Dieses Muster fiel mir auf, als ich 2006 in den Außenbezirken von Istanbul war und mit den Leuten gesprochen habe, die diese Vororte außerhalb der Stadt bauen. Ich schaute mir die Haushaltsführung und die finanzielle Situation an. Ich denke, so lässt sich feststellen, was mit dem Geld passiert, ob es zurück in das Dorf geht, ob das Geld von einem kleinen Gewerbe kommt, das sie in ihr Haus integriert haben, ob das Geld für die Bildung der Kinder gespart wird. Es war exakt das gleiche, was ich von Italienern, Portugiesen oder Chinesen gehört habe oder in diesen Vororten von Toronto oder nordamerikanischen Städten wie Los Angelos. Die Zuwandererstädte in Nordeuropa und in den USA funktionieren ähnlich wie die Slums in den armen Ländern."
Ist das so? Diese Sichtweise ist neu, die Theorie bestechend - doch trifft sie wirklich auf jeden Ankunftsort der Welt zu?
Wenn die entsprechenden Voraussetzungen gegeben sind, wahrscheinlich.
Der Stadtsoziologe Prof. Hartmut Häußermann sieht das Problem, dass in vielen Metropolen der Welt gar keine Arbeitskräfte mehr gebraucht werden.
Der amerikanische Stadtforscher Mike Davis geht noch einen Schritt weiter: Die großen Zentren hätten in den vergangenen 20 Jahren unter einer massiven Deindustrialisierung gelitten; der absolute Rückgang der Beschäftigungszahlen im produzierenden Gewerbe habe zwischen 20 und 40 Prozent betragen. Konsequent nennt er seine Veröffentlichung "Planet der Slums".
Man kann es aber mit dem amerikanischen Stadtexperten Charles Abrams auch anders formulieren und unterscheiden zwischen "slums of dispair" und "slums of hope".
Literatur zum Thema:
Doug Saunders, Arrival City, Blessing Verlag, München, 2011
Mike Davis, Planet der Slums, Verlag Assoziation A, 2.Auflage, 2011
Bundeszentrale für politische Bildung, Das urbane Millenium - Dossier, Megastädte
http://www.bpb.de/themen/3WPGJL,0,0,Das_urbane_Millenium.html
Mit diesen unterschiedlichen Begrüßungsritualen lädt auch das Museum der Kulturen in Köln die Besucher des Völkerkundemuseums ein.
Die dort gezeigten Menschen aus verschiedenen Regionen der Welt, aus unterschiedlichsten Nationen und aus allen Kontinenten, haben eine Gemeinsamkeit: Sie sind Bürger der Stadt Köln.
Die meisten dieser Neu-Kölner kommen, um hier zu arbeiten oder weil ein Familienmitglied hier arbeitet. Vielleicht sind ihre Landsleute schon hier und haben ein Stadtviertel gefunden, in dem sie leben, zum Beispiel ein Gründerzeitviertel wie Köln-Mühlheim oder eine Hochhaussiedlung wie Köln-Chorweiler. Die meisten von ihnen kommen aus einem Dorf und immigrieren in die Stadt.
"Arrival City", "Ankunftsstadt", nennt der kanadische Migrationsforscher Doug Saunders diese Orte, die auf diese Art weltweit entstehen:
"Das sind die Viertel, wo die Bewohner mit einem Bein noch im Dorf und mit dem anderen in der Stadt stehen. Dazu gehören die Slums, die Barackensiedlungen der entwickelten Welt. Dazu gehören aber auch Stadtteile, wo sich ethnische Gruppen finden wie in Kanada oder den USA: China Town, Little India oder Little Italy. Dazu gehören Orte, die als Gettos bekannt sind. Einige dieser ethnisch geprägten Wohngegenden werden Mittelklasseviertel."
Berlin-Kreuzberg ist ein solches Viertel. Zwar immer noch von Migranten geprägt, zieht dieser Stadtteil aufgrund der zentralen Lage seit der Wiedervereinigung auch die Mittelschicht an. Zu DDR-Zeiten grenzte das Viertel an die Mauer und wurde dadurch unattraktiv für deutsche Bewohner, die Platz schufen für türkische Arbeiter und ihre Familien.
Ob Türken aus Anatolien oder ehemalige chinesische Landarbeiter - sie alle haben ähnliche Motive, ihr Dorf zu verlassen, meint Doug Saunders: Armut und Hungersnöte. Häufig wird zunächst ein Familienmitglied in die Stadt geschickt:
"Es beginnt damit, dass die Menschen saisonal in der Stadt arbeiten. Oft sind es die Frauen, die in die Stadt gehen, um in Haushalten zu arbeiten. Häufig funktioniert Migration so: Sie kommen in die Stadt und gehen nach einiger Zeit wieder in ihr Dorf zurück, hin und her. Nach einigen Jahren gehen die Leute dann ganz in die Stadt und verkaufen ihr Haus im Dorf. Das ist aber nicht notwendigerweise so: Wenn sie sich Italiener in kanadischen Städten anschauen, haben viele noch Kontakt zu ihren Dörfern."
Dieses Phänomen lässt sich auch in Deutschland beobachten: Die ersten Gastarbeiter planten zunächst noch, nach einigen Jahren Arbeit zurück in ihr Dorf zu gehen. Dieses Muster gilt weltweit - so Doug Saunders. Zu Beginn fließt das erarbeitete Geld aus der Stadt zurück ins Dorf, zum Beispiel in den Bau eines Hauses oder in die Unterstützung von Verwandten oder deren Versorgung mit Konsumgütern.
Irgendwann holen die Arbeitsmigranten dann ihre Familien nach. Sind sie erfolgreich, verlassen sie die Ankunftsstädte und ziehen in typische Mittelklasseviertel. Das gilt - wenn es gut läuft - für alle Ankunftsstädte.
Rüdiger Knipp, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutsches Institut für Urbanistik:
"Sie hinterlassen beim Weggang eine Struktur, eine Struktur, die tragfähig ist, auch Zuwanderer wieder zu integrieren. Das ist auch ein Phänomen, was man beobachten kann: Sie fühlen sich auch für die neu Zugewanderten sehr stark verantwortlich. Und so soziale Netzwerke, die in diesen von Saunders beschriebenen Quartieren anzutreffen sind, die sind ja nun wirklich teilweise mit einer Struktur hinterlegt, die es auch Neuzuwanderern ermöglicht, schneller in für sie unbekannte Systeme, sei es nun Arbeitsmarkt oder Sozialversicherungssystem oder so, Zugang zu finden. Der Wegzug heißt nicht Abbruch aller Strukturen, aller Verbindungen in das ursprüngliche Quartier, sondern heißt schon zwar eine persönliche Veränderung, aber die Strukturen bestehen weiter, um auch nachrückende Zuwanderer aufnehmen zu können in die Gesellschaft."
Damit Neuzuwanderer in Quartieren erfolgreich sein können, müssen diese Orte allerdings einige Voraussetzungen erfüllen:
"Ich denke, dass der Zustand der Umgebung eine große Auswirkung haben kann, wie gut die Bewohner dort leben. Die meisten dieser Viertel wurden für die untere Mittelschicht gebaut: große Häuser mit viel Grün drum herum, außerhalb des Zentrums. Die Planung sah verschiedene Bereiche vor zum Wohnen, Einkaufen und Arbeiten. Aber was die Leute wirklich brauchen, wenn sie immigrieren, ist, dass sie Teile von ihrem Haus für ihre Arbeit nutzen können. Sie wollen Flexibilität, vielleicht ein kleines Geschäft gründen. Wir müssen auf die Transportmöglichkeiten schauen. Schon das kann den Unterschied zwischen Erfolg und Misserfolg ausmachen."
Die Möglichkeit, sich zu Beginn selbstständig zu machen, begünstigt Integration, meint auch Rüdiger Knipp. Er sieht drei Faktoren, die dabei eine Rolle spielen:
"Die erste Generation war mit Sicherheit geprägt davon, dass Migranten Nischen besetzt haben, denken Sie an Lebensmittelbereiche, alle Bereiche der Nahversorgung. Da haben sie aber in erster Linie für ihre eigene ethnische Gruppe versucht, ein Angebot bereitzustellen. Das geschah am Anfang, ohne dass es eine Konkurrenzsituation zu deutschen Geschäftsleuten war. Wir erleben das auch jetzt in den weiteren Generationen noch, dass es solche Nischen gibt, die da besetzt werden mit einem sehr, sehr positiven Effekt, wie ich finde, dass es in der Tat zu einer kleinen Wettbewerbssituation führt, wenn Sie zum Beispiel daran denken, dass sie auch in deutschen Gemüseläden plötzlich ein Angebot bekommen, was Sie vor einigen Jahrzehnten oder Jahren auch teilweise noch nicht bekommen haben. Also es belebt auch wirklich schon den Wettbewerb vor Ort."
In dem Fall profitieren Migranten und einheimische Stadtbewohner.
"Der andere Fall ist, dass wir feststellen, dass es unter den Zuwanderern einige Nationen gibt, bei denen es eine ganz andere Mentalität zur Selbstständigkeit gibt, also bei den Griechen und bei den Türken, ist das sehr weit ausgeprägter als bei uns. Die gehen halt eben einfach das Risiko ein, sich selbstständig zu machen. Das ist so ein kultureller Aspekt, der stärker vertreten ist als bei uns."
"Das dritte Modell ist das sogenannte Reaktionsmodell ...."
"... wenn nämlich Zugewanderte erkennen, dass sie aufgrund bestimmter Kriterien auf dem Arbeitsmarkt keine andere Chance haben, als sich selbstständig zu machen, um wirklich auch an der Gesellschaft teilhaben zu können, dann wird dieser Weg gewählt, dass man aus der Not heraus quasi sagt, okay, bevor ich jetzt hier wirklich ausgegrenzt werde, mich ausgrenzen lasse oder mich ausgegrenzt fühle, dann mache ich mich selbstständig."
Ob sogenannte Ankunftsstädte erfolgreiche Startchancen für Migranten bilden oder nicht, hängt von vielen Faktoren ab. Das Gefühl, nicht gewollt und ausgegrenzt zu werden, ist sicherlich nicht hilfreich für eine gelungene Integration. Aber es gibt Städte, in denen Integration scheinbar mühelos gelingt wie in Ontario in Kanada. Die meisten Migranten - wie die Mazedonier in den 1960er-Jahren oder die Lateinamerikaner - siedeln zunächst im Osten der Stadt. Dort gibt es Gemeinschaftszentren, Schulen, in denen die Kinder schnell Englisch lernen und gefördert werden und eine gute Verkehrsanbindung an die Innenstadt, um zu arbeiten.
"Was macht den Unterschied aus zu anderen Vierteln, die als Orte der Kriminalität, der Drogenprobleme und häufigen Polizeieinsätze Schlagzeilen machen? Was macht sie erfolgreich? Die meisten Menschen wollen mehrere Generationen dort bleiben. Und wenn diese Orte in die Kriminalität abdriften, hat das häufig seinen Grund darin, dass Barrieren aufgerichtet wurden, zum Beispiel die fehlende Möglichkeit, ein kleines Geschäft in ihrem Haus zu eröffnen, manchmal auch in der Erreichbarkeit der Innenstadt, sodass es schwierig wird, Arbeit zu finden und gleichzeitig seine Kinder gut aufzuziehen. Manchmal sind es aber auch die Bedingungen, die Staatsangehörigkeit zu erhalten."
Obwohl es faktisch längst so war, hat sich Deutschland Jahrzehnte lang nicht als Einwanderungsland gesehen. Die deutsche Staatsangehörigkeit zu erlangen war schwierig; die Anerkennung ausländischer Berufsabschlüsse auch, sodass qualifizierte Migranten nicht in ihrem Beruf arbeiten konnten. Promovierte Taxifahrer, Maurer mit Ingenieursdiplom, Krankenschwestern als Hilfskräfte im Supermarkt - erst der gefürchtete demografische Wandel brachte auch hier ein Umdenken.
Dr. Hans-Peter Klös, verantwortlich für Bildung und Arbeitsmarktpolitik beim Institut der Deutschen Wirtschaft:
"Hier liegt ein Potenzial, dass viele Menschen bei uns leben, die einen beruflichen Abschluss vorweisen können, dass wir aber bei der Anerkennung dessen, was diese Zertifikate denn nun wirklich besagen, zumindest im beruflichen Bereich noch große diagnostische Lücken haben. Aber die Chance, die damit verbunden ist, ist groß, denn wir reden hier über fast drei Millionen Menschen insgesamt, die in Deutschland leben und einen Abschluss im Ausland erworben haben."
Ein weiteres Problem: Nicht jeder Ausländer, der hier lebt, darf auch arbeiten.
"Es ist sicherlich ein bisschen das Köpenick-Dilemma, dass ohne Erlaubnis der Zugang zum Beruf erschwert wird. Wir würden sehr dafür werben, auch mit dem Instrument der befristeten Erlaubnis zu arbeiten, wenn es denn eine Prognose gibt, dass die Einfädelung in den Beruf gelingen kann. Wenn wir richtig liegen in der Diagnose, haben wir am Arbeitsmarkt Engpassberufe. Hier scheint es mit Blick auf Integrationsbemühungen, glaube ich, ein Gebot der Stunde zu sein, die Bedarfe und die Potenziale, die im Land vorhanden sind, etwas stärker als bisher noch zusammenzuführen und möglicherweise auch im Arbeitserlaubnisrecht eine Möglichkeit zu schaffen, schneller als bisher seine Befähigung unter Beweis stellen zu können."
Erst in den letzten Jahren hat die Politik reagiert. Die Versäumnisse der letzten Jahrzehnte lassen sich allerdings nicht so schnell beseitigen. Doug Saunders zieht für Deutschland eine nüchterne Bilanz: Die Barrieren, die Deutschland errichtete, führten bei vielen Türken zu einer Kombination aus ökonomischer Apathie, religiösem Rückzug und archaischen Praktiken wie der Zwangsheirat. So hätten sich in Deutschland Lebensweisen herausgebildet, die weder dörflich noch ursprünglich sind, sondern - so Saunders - "eine groteske Karikatur des Lebens in der eigenen Heimat" darstellen.
"Länder wie Deutschland, wo Wohngegenden abgedriftet sind, weil Immigranten keine Chance hatten, legal die Staatsangehörigkeit zu erwerben. Sie hatten keinen Grund, etwas in ein Geschäft oder ein eigenes Haus zu investieren. Sie hatten keinen Grund, Teil einer legalen Ökonomie zu werden und wurden so zur Unterschicht. Dieses Risiko sehe ich bei Kanada übrigens auch. Aber es gibt Erfolgsgeschichten, nicht aufgrund guter Planung oder viel Verständnis, sondern durch Glück: Wir hatten die richtigen Häuser, die richtigen Orte, die richtigen Einwanderungsgesetze, und es funktionierte für die osteuropäischen Juden, Italienern, Portugiesen, Chinesen eine lange Zeit. Jetzt ist es allerdings ein bisschen kniffliger."
Kniffliger auch deshalb - so der Migrationsforscher - weil das kanadische Punktesystem eher qualifizierten Ausländern eine Arbeitserlaubnis gibt, aber auch Ungelernte dringend gesucht würden.
Trotz vermeintlicher Defizite sieht Dr. Hans-Peter Klös vom Institut der Deutschen Wirtschaft eher positive Aspekte:
"Insoweit haben wir als Institut stets auch geworben für ein Punktesystem in Form von sogenannten Engpassberufen, und je treffsicherer man in der Diagnose der aktuellen und erwarteten Engpässe am heimischen Arbeitsmarkt ist und je stärker man das in ein Punktesystem überführt, umso zielgenauer kann das Punktesystem tatsächlich auch dann eine Steuerung von Zuwanderung erlauben, die mittelfristig genau passt zu dem Bedarf."
Punktesysteme sind nur ein Schritt, um das Heer der Landflüchtlinge zu kanalisieren und in eine Gesellschaft zu integrieren. Doug Saunders vergleicht in seiner Untersuchung geglückte und missglückte Integration auf fünf Kontinenten. Im Gegensatz zu einigen Wissenschaftlern, die sich theoretisch mit dem Problem der Ankunftsstädte beschäftigen, hat er Feldforschung betrieben und mit den Menschen vor Ort gesprochen.
"Ich würde sagen, offensichtlich ist es so, dass Malton Ontario - ein Ort, der sehr arm, von Migranten geprägt und wo der internationale Flughafen von Toronto angesiedelt ist - also Molton Ontario sollte aus verschiedenen Gründen nicht mit den Slums von Mumbai verglichen werden, aber die wirtschaftliche Entwicklung verläuft gleich. Dieses Muster fiel mir auf, als ich 2006 in den Außenbezirken von Istanbul war und mit den Leuten gesprochen habe, die diese Vororte außerhalb der Stadt bauen. Ich schaute mir die Haushaltsführung und die finanzielle Situation an. Ich denke, so lässt sich feststellen, was mit dem Geld passiert, ob es zurück in das Dorf geht, ob das Geld von einem kleinen Gewerbe kommt, das sie in ihr Haus integriert haben, ob das Geld für die Bildung der Kinder gespart wird. Es war exakt das gleiche, was ich von Italienern, Portugiesen oder Chinesen gehört habe oder in diesen Vororten von Toronto oder nordamerikanischen Städten wie Los Angelos. Die Zuwandererstädte in Nordeuropa und in den USA funktionieren ähnlich wie die Slums in den armen Ländern."
Ist das so? Diese Sichtweise ist neu, die Theorie bestechend - doch trifft sie wirklich auf jeden Ankunftsort der Welt zu?
Wenn die entsprechenden Voraussetzungen gegeben sind, wahrscheinlich.
Der Stadtsoziologe Prof. Hartmut Häußermann sieht das Problem, dass in vielen Metropolen der Welt gar keine Arbeitskräfte mehr gebraucht werden.
Der amerikanische Stadtforscher Mike Davis geht noch einen Schritt weiter: Die großen Zentren hätten in den vergangenen 20 Jahren unter einer massiven Deindustrialisierung gelitten; der absolute Rückgang der Beschäftigungszahlen im produzierenden Gewerbe habe zwischen 20 und 40 Prozent betragen. Konsequent nennt er seine Veröffentlichung "Planet der Slums".
Man kann es aber mit dem amerikanischen Stadtexperten Charles Abrams auch anders formulieren und unterscheiden zwischen "slums of dispair" und "slums of hope".
Literatur zum Thema:
Doug Saunders, Arrival City, Blessing Verlag, München, 2011
Mike Davis, Planet der Slums, Verlag Assoziation A, 2.Auflage, 2011
Bundeszentrale für politische Bildung, Das urbane Millenium - Dossier, Megastädte
http://www.bpb.de/themen/3WPGJL,0,0,Das_urbane_Millenium.html