Maja Ellmenreich: Hoch oben in den verschneiten Schweizer Bergen auf fast 1.600 Metern über dem Meer – in einer Welt also, die alles andere als leicht zu erreichen ist, unwirtlich und abweisend –, da treffen Menschen ganz unterschiedlicher Couleur auf einander. Sie kämpfen ums Überleben, sie ringen um ihr eigenes Wohl – in Davos. Was für die derzeit 50. Ausgabe des Weltwirtschaftsforums gilt, das sich dem Klimawandel und der Nachhaltigkeit verschrieben hat, das trifft auch auf die sieben Jahre zu, die Hans Castorp in Davos zugebracht hat: nicht im Hochsicherheitsbunker des WEF, sondern im Sanatorium "Berghof", dem Schauplatz von Thomas Manns "Zauberberg". Man trifft sich – wie es bei Mann heißt – in "unangemessenen Sphären" und redet; die einen über körperliches Leiden, die anderen über das Leiden der Welt.
Wieviel "Zauberberg" steckt im Weltwirtschaftsforum? Darüber habe ich mit dem Thomas-Mann-Experten Tilmann Lahme gesprochen. Er ist Professor für Mediengeschichte und kritische Publizistik an der Leuphana-Universität Lüneburg.
Herr Lahme, bei Thomas Mann leidet man in Davos an Tuberkulose; beim WEF von Klaus Schwab am Übel des Klimawandels. Ist das für sie eine stichhaltige Parallele zwischen dem Literaturklassiker und dem gegenwärtigen Treffen von Wirtschaftsbossen und Staatschefs?
Krankheitsbilder der Moderne
Tilmann Lahme: Man könnte sagen, Davos ist immer wieder der Nabel der Welt. Es war es offenkundig in den 20er-Jahren, vor hundert Jahren, und es beschleicht einen gerade das Gefühl: Es geht schon wieder in diese Richtung. Und da ist es vielleicht schon nebensächlich, was denn die genaue Krankheitsdiagnose ist. Das war in den 20er-Jahren, zu Thomas Manns Zeit, die Lungenkrankheit - also auch wirklich ganz real; die war nicht nur in seinem Roman ein großes Problem seiner Zeit, weswegen diese Sanatorien irgendwie wahnsinnig erfolgreich waren. Und wenn wir uns umgucken, dann würden uns auch schon echte Krankheitsbilder der Moderne einfallen, die auch wirklich Krankheitsbilder sind. Aber ich fürchte schon auch, wir können das auch auf diese Fragen, die Sie angedeutet haben, übertragen.
Ellmenreich: Welche Verbindungslinien sehen Sie denn noch zwischen dem Davos 2020 und dem Mannschen Davos vor dem Ersten Weltkrieg?
Lahme: Das unglaublich Aufregende dieses Romans ist ja, dass er so Dinge zusammenbringt, die auf der einen Seite virulent sind und in dieser Zeit spielen und mit dem "großen Donnerschlag", wie das in dem Roman heißt, enden. Das alles führt in den Ersten Weltkrieg, das sind die großen Konflikte dieser Zeit. Das ist nicht nur, dass sich da so ein paar Leute, die so ein bisschen kränklich sind oder auch wirklich krank sind, zusammentreffen und miteinander Zeit verbringen - und wie man merkt, sehr viel Zeit verbringen. Und wenn wir das betrachten, dann merken wir doch auch, dass wir heute ein Thema allesamt zu fassen haben, über das wir uns dann ein bisschen streiten können, ob es wirklich das Thema ist oder ob es ein Thema ist. Aber dass es uns jedenfalls alle bewegt, ist klar - und das alles in dieser Abgeschiedenheit, in Davos.
Wir können da jetzt im Radio schwer für werben, mal eben aus dem Fenster zu schauen und das wahrzunehmen. Aber wir können uns doch alle vorstellen, wie das ist, dass das nicht gerade das Zentrum der Welt ist. Das haben wir alle irgendwie im Blick. Und diese Diskrepanz - einerseits die komplette Zurückgezogenheit von der Welt und dann doch das Thema unserer Zeit dort zu verhandeln -, das ist doch offenkundig.
"Sie reden nicht wirklich miteinander"
Ellmenreich: "Ja, wir hier oben", das sagt Johannes Ziemßen immer wieder im "Zauberberg", der lungenkranke Vetter des "Zauberberg"-Protagonisten Hans Castorp. Also das "In sich Abgeschlossene", das Hermetische: Was macht das mit denen, die in Thomas Manns "Zauberberg" miteinander sprechen? Sprechen die miteinander, sprechen die übereinander, sprechen die aneinander vorbei, wie man beim Weltwirtschaftsforum so den Eindruck gewinnt?
Lahme: Sie können wunderbar reden, zunächst. Sie sprechen überhaupt, das ist ja das Wundervolle überhaupt. Das ist ein einziger, riesiger Kommunikationsroman, in dem wir ganz viele verschiedene Beiträge finden. Allerdings ist die Frage, die Sie da andeuten, durchaus berechtigt: Reden sie eigentlich miteinander? Na ja, die großen Antipoden, die sich um den jungen Hans Castorp bemühen, ihn auf ihre Seite zu ziehen - das ist eben auf der einen Seite so ein liberaler, aufklärerischer, Thomas Mann hätte gesagt: so ein Zivilisations-Literat, der den Namen Settembrini trägt. Und der andere ist der kommunistische Jesuit, wenn es so eine Kombination überhaupt geben kann, mit Namen Naphta. Die reden in der Tat, im Übermaß geradezu. Allerdings: Sie reden nicht wirklich miteinander. Sie reden um Dinge herum. Und ob wir das nicht wirklich übertragen können auf unsere Zeit, wo man sich doch wirklich fragt, wenn wir gemeinsam definieren wollen, was das Thema ist und unser Ziel ist, dann könnten wir ja auch vernünftig darüber reden. Aber was ich bislang auch Davos gehört habe, war schon so, dass ich im Hinterkopf Naphta und Settembrini dachte.
Ellmenreich: Naphta und Settembrini, man könnte sagen Donald Trump und Greta Thunberg, die zwar auch beide zur gleichen Zeit in Davos waren, sich aber nicht in die Augen geschaut haben und nicht miteinander gesprochen haben?
Lahme: Das ist genau dieser Punkt. Wir haben ja so etwas wie Antipoden dort. Aber es wäre ja auch ganz gut, wenn das doch auch zu etwas führen würde, und wenn das nicht einfach diese Gegensätze und Diskrepanzen, die wir da haben und sehen, weiterführen würde. Sonst hat man das Gefühl, dass von Davos ein Signal ausgehen wird, dass von da an alles besser wird. Ich fürchte, auch da sind wir viel enger am Roman, als es uns allen irgendwie lieb sein kann.
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