Die Einzigartigkeit des Menschen steht im Zentrum des Denkens von Hannah Arendt. Jedes Individuum ist für sie ein neuer Anfang. Allerdings schließt sich das Individuum erst auf im Miteinander, im kommunikativen Austausch, im - so ihre Formel - pluralen "Bezugsgewebe".
Die Philosophin Juliane Rebentisch hat Arendts Werke nun auf den Prüfstand gestellt. Mit ihrem Konzept der Pluralität erscheint Arendt ihr als Vordenkerin der inzwischen fast schon unentrinnbaren Botschaft der Diversität.
Unermüdlich variiert Rebentisch auf Arendts Spuren die ethischen Imperative der Pluralität und Perspektiven-Vielfalt: Offen bleiben für das Andere, Fremde, Nicht-Integrierte, Abweichende, Differente und wie all die beliebten und oft etwas beliebigen Begriffe lauten, mit denen nicht erst neuerdings Einspruch erhoben wird gegen den Terror des „Identischen“. Für eine Identitätspolitik der Gruppeninteressen wäre Arendt indes nicht zu haben gewesen, denn gegen kollektive Zuschreibungen war sie allergisch, weil sie als verfolgte Jüdin selbst darunter stark zu leiden hatte.
Hannah Arendts Pluralitätskonzept neu angewandt
Immer wieder bezieht Juliane Rebentisch Arendts Philosophie auf aktuelle Debattenthemen, darunter politischer Populismus, Flucht, Kolonialismus, Rassismus und Antisemitismus. Etwas sonntagsredenhaft klingt es, wenn sie „Pluralität“ beim Umgang mit Geflüchteten einfordert:
"Am Erscheinen eines Fremden entscheidet sich, (…) ob eine politische Gemeinschaft fähig ist, den einzigartigen Weltzugang des Neuankömmlings als potentielle Quelle ihrer eigenen Erneuerung anzuerkennen, oder ob sie ihn im Namen nationaler, ethnischer Gleichförmigkeit in die bloß biologische Verschiedenheit zurückstößt."
Rebentisch kommt auch auf die umstrittenste Theorie Arendts zu sprechen: Ihre Deutung Adolf Eichmanns als Muster für die „Banalität des Bösen“. Arendt hat sich von Eichmanns Selbstinszenierung als mediokrem, pflichteifrigem Beamten täuschen lassen. Als „erschreckend normal“, „gedankenlos“ und „dumm“ hat sie den Holocaust-Organisator beschrieben.
In Wahrheit war er ein fanatischer Antisemit, der an seine Mission glaubte. Rebentisch weist darauf hin, wie verblüfft Arendt war, als der vermeintlich so banale SS-Mann sein Handeln mit Kants Kategorischem Imperativ legitimierte, allerdings in einer stark pervertierten Variante:
„Handle so, dass der Führer, wenn er von deinem Handeln Kenntnis hätte, dieses Handeln billigen würde.“
Rebentisch akzeptiert Arendts Holocaust-These
Gleichwohl verteidigt Juliane Rebentisch Arendts These, dass das Einzigartige des Holocaust in dessen Charakter als „Verwaltungsmassenmord“ liege:
„Die neue Qualität, die für Arendt mit dem Nationalsozialismus in den Völkermord als Verbrechen gegen die Menschheit kommt, ist die seiner administrativen Organisation und damit zugleich der Umstand, dass er sich ‚innerhalb einer legalen Ordnung‘ vollzog.“
Arendts Bild des abstrakten Verwaltungshandelns ist trügerisch, wenn der angeblich „klinische“ und „sterile“ Massenmord gewissermaßen der bürokratischen Moderne selbst angelastet wird. Historiker wie Ulrich Herbert und Michael Wildt haben gezeigt, dass der Holocaust bis 1942 vor allem in Form von geradezu „archaischen“ Massakern hinter der Front stattfand und die sogenannte „kämpfenden Verwaltung“ direkt beteiligt war.
Auf einem anderen Gebiet geht Rebentisch weniger gnädig mit Arendt um. In mehreren Kapiteln beschäftigt sie sich – wie jüngst eine ganze Reihe von Interpreten – mit ihren heiklen Reflexionen über die afroamerikanische Bürgerrechtsbewegung und mit ihrer Theorie über die Entstehung des Rassismus aus den Erfahrungen des Kolonialismus. Die Europäer seien von Entsetzen befallen worden, als sie mit der Bevölkerung Afrikas konfrontiert wurden, schreibt Arendt in ihrem Hauptwerk „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“. Angesichts von Wesen, die „weder Mensch noch Tier zu sein schienen“, zerfiel die Idee des gemeinsamen Menschengeschlechts. Rebentisch kritisiert diese eher spekulativen Herleitungen und beklagt bei Arendt…
„…eine irritierende Empathielosigkeit, ja Kälte gegenüber schwarzem Leid“.
Kritik an einem überheblichen Freiheitsbegriff
Das betrifft auch Arendts Einlassungen zu den schweren Rassenunruhen in der Stadt Little Rock Ende der fünfziger Jahre. Afroamerikanische Aktivisten forderten für ihre Kinder das Recht ein, entgegen der bisherigen Rassentrennung eine High School zu besuchen. Arendt aber wandte sich gegen eine gesetzlich erzwungene Durchmischung. Sie verletze das „in allen freien Gesellschaften“ den Eltern zustehende Recht, „über ihre Kinder zu entscheiden“.
Das Problem der Ausgrenzung und mangelnden Bildungs-Teilhabe der Schwarzen wertete sie offenbar geringer. Arendts politischer Freiheitsbegriff habe etwas Abgehobenes und lasse soziale Benachteiligungen außer Acht, urteilt Juliane Rebentisch – richtig, allerdings auch wenig originell.
Das von solchen Mängeln befreite „Pluralitätsgeschehen“ empfiehlt Rebentisch dennoch als ideale Form eines offenen gesellschaftlichen Miteinanders. Das würde mehr überzeugen, wenn sie nicht so stark dazu neigen würde, abstrakte Begriffe zu langen Satzketten zu verkuppeln.
Dem Buch fehlt Arendts Anschaulichkeit
„Nur ein plural verfasster Raum kommunikativ vermittelter Intersubjektivität generiert die Erfahrung der Einzigartigkeit der jeweiligen Weltzugänge.“
So atmet man bei der Lektüre dieses gewissenhaft und differenziert argumentierenden Buches leider oft eine trockene, ermüdende Seminarluft. Es fehlt das, was Hannah Arendts Texte auszeichnete: das Anschauliche, Provokative, Eigensinnige – Mut zum Irrtum eingeschlossen.
Juliane Rebentisch: „Der Streit um Pluralität – Auseinandersetzungen mit Hannah Arendt“
Suhrkamp Verlag, Berlin
290 Seiten, 28 Euro.
Suhrkamp Verlag, Berlin
290 Seiten, 28 Euro.