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Wem gehört der Kaukasus?

"Der Kaukasus gehört den Kaukasiern": Wenn der Dichter Apti Bisultanov, der international mittlerweile als das literarische Sprachrohr Tschetscheniens gilt, zu seinen weitausholenden, emotionalen Reden ansetzt, spiegelt sich darin der verletzte kulturelle Stolz einer Weltgegend, die Bisultanov als die Wiege der europäischen Zivilisation bezeichnet. Heute jedoch sei der Kaukasus im innersten krank, zerstört. Die über vierzig kleineren und größeren Völker, von den christlichen Georgiern bis zu den turkstämmigen Muslimen der Balkaren, könnten ursprünglich in Frieden miteinander leben, so wie sie es immer getan haben, so der Dichter, der zeitweilig auch dem Schattenkabinett der autonomen tschetschenischen Regierung Maschadows angehörte.

Von Carsten Probst |
    Doch schon Peter der Große habe den Kaukasus Rußland einverleiben wollen. Unter Stalin sind die Tschetschenen, die sich stets dem Vasallentum verweigert haben, als komplettes Volk auf die Krim deportiert worden. Als sie unter Chrustschow zurückkehrten, fanden sie ihre Häuser und Städte besetzt oder zerstört und ihre Bibliotheken und Kulturschätze ausgelöscht vor. Und nun, nach dem Fall des Sozialismus, sei die komplette Region einem internationalen Schacher um Erdöl und strategische Achsen ausgesetzt, der zwischen Amerikanern und Russen entbrannt sei und regionale Konflikte noch weiter anheize. Und auch Europa bekommt sein Fett weg. Denn die gesamte Region empfindet sich als Teil Europas, doch die EU heuchle Unwissenheit, als bekomme sie von all dem nichts mit und decke sogar, wie in Person von Bundeskanzler Schröder, den diktatorischen Kurs von Wladimir Putin, den Schröder erst jüngst wieder als "Demokraten" bezeichnet hat.

    Vieles von Bisultanovs leidenschaftlicher Anklage findet Kopfnicken auf dem Podium und spontanen Applaus unter dem in beträchtlicher Zahl erschienen Auditorium in der Berliner Akademie der Künste. Gut dreihundert Zuhörer verfolgen die Debatte. Für viele von ihnen ist der Kaukasus in der Tat keine ferne Gegend, denn sie haben Angehörige dort. Aber auch viele Deutsche sind im Publikum, die durch die jüngsten Ereignisse wie das Massaker in der Schule von Beslan aufgerüttelt worden sind und sich Antworten erhoffen, wer eigentlich Schuld sei an der gefährlich verworrenen Situation zwischen Schwarzem und Kaspischem Meer.
    Doch ganz so einseitig , wie Bisultanov die Lage darstellt, ist sie am Ende nun doch nicht. Als der Dichter zu einem Lobgesang auf den "kaukasischen Helden", den früheren georgischen Präsidenten Gamsachurdia ansetzt, der Anfang der neunziger Jahre von Russen vertrieben und vermutlich von ihnen auch ermordet wurde, regt sich Widerspruch auf dem Podium.

    Uwe Halbach, Kaukasusexperte der Stiftung Wissenschaft und Politik, erinnert daran, dass Leute wie Gamsachurdia oder auch Dudajew zu jenen Nationalisten gehörten, die auch immer wieder zu ethnischen Säuberungen aufgerufen hätten. Und überhaupt, so ergänzt der georgische Publizist Lasha Bakradze, seien viele Konflikte der Region auch hausgemacht. Er bemängelt die stereotype Medienberichterstattung im Westen, die immer nur dieselben Klischees über die Region reproduziere. Aber wenige Leute wüßten etwas über die einzelnen Warlords in der Region, aber auch über die Konflikte der kaukasischen Völker untereinander, den Hegemonieanspruch Georgiens oder Armeniens über verschiedene Regionen. Der Fall der Sowjetunion sei bei diesen Völkern immer noch nicht wirklich verstanden worden. Über Nacht sei man auf sich allein gestellt gewesen, und in diesem Machtvakuum seien unzählige interne Kämpfe ausgefochten worden.

    Doch immer wieder ist es die Rolle Rußlands, die als angstmachende Größe im Hintergrund steht. Rußland, so der Medienexperte Vicken Cheterian, habe immer ein zutiefst irrationales Verhältnis zum Kaukasus gehabt, weil Rußland sich einerseits noch immer als Großmacht sieht und sich gleichzeitig panisch vor seinen Nachbarn fürchtet. Das erklärt die zutiefst widersprüchliche Politik, auf der einen Seite Tschetschenien wegen seiner Opposition in ein Schlachthaus zu verwandeln, auf der anderen Seite der Opposition in Georgien zur sogenannten Rosenrevolution zu verhelfen. Und unvermeidlich gerät nun ein Staat in den Blick, der geografisch wenig mit dem Kaukasus zu tun hat. Wie wird sich die internationale Gemeinschaft im Fall der Ukraine verhalten. Aber vor allem: wie wird sich Rußland verhalten? In diesen Tagen entscheidet sich, ob ein neues europäisches Pulverfaß gezündet wird.