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Wendemarken der Geschichte

Die Russen wurden nach dem 2. Weltkrieg nie so recht als Befreier Deutschlands empfunden. Eine Aussöhnung wie beispielsweise mit den Franzosen hat es nie gegeben. Eine Zäsur im Bild des Überfalls auf die Sowjetunion vor 70 Jahren 1941 hat die umstrittene erste Wehrmachtsausstellung geliefert. In der Akademie für politische Bildung in Tutzing fand eine deutsch-russische Historikertagung zu zentralen Gedenkorten statt.

Von Niels Beintker |
    Es ist keine neue Erkenntnis, dass die kollektive Erinnerung an wichtige historische Ereignisse wandelbar ist und stets politischen Einflüssen unterliegt. Im Fall des deutschen Angriffs auf die Sowjetunion im Juni 1941 hat es in der Bundesrepublik mehr als 50 Jahre gebraucht, um den damit einhergehenden Krieg endlich realistisch zu benennen: als gnadenlosen, brutalen Vernichtungskrieg. Die umstrittene Wehrmachtsausstellung des Hamburger Instituts für Sozialforschung markiert eine zentrale Zäsur, so Jörg Morré, Direktor des deutsch-russischen Museums in Berlin-Karlshorst und einer der Mitveranstalter der Tutzinger Tagung über drei zentrale Erinnerungsorte des 20. Jahrhunderts.

    "Viele Forscher haben schon vorher die ganzen Dinge, über die wir heute reden, dargelegt. Aber wie das so ist: Es ist nicht wahrgenommen worden. Und erst durch die Überspitzung dieser ersten Wehrmachtsausstellung, mit all den Ungerechtigkeiten, die damit einhergingen, und auch den Fehlern, die dann zu dieser zweiten Wehrmachtsausstellung führten - trotzdem: Sie hat die gesellschaftliche Debatte losgetreten und das ist elementar."

    In Russland wird dieser Krieg noch immer als "Großer Vaterländischer Krieg" beschrieben und gilt, über die Epochengrenze des Jahres 1991 hinweg, als zentraler Bezugspunkt in der politischen Kultur. Zugleich wird in der Öffentlichkeit kaum thematisiert, dass dem deutschen Überfall eine zweijährige Militärallianz von Hitler und Stalin vorangegangen war - unter anderem mit dem Ziel, die polnischen Eliten zu vernichten. Alexander Vatlin, Professor für deutsche Geschichte an der Moskauer Lomonossow-Universität, widerspricht in Tutzing dem Eindruck, die Vorgeschichte des Jahres 1941 werde in Russland verschwiegen.

    "Nein. Es wird sehr viel darüber gesprochen. Wichtig ist, dass wir von diesen politisierten und vereinfachten Deutungen zu mehr fundierten Deutungen kommen. Das ist schwierig, weil das die öffentliche Meinung im gewissen Sinn nicht akzeptiert. Deswegen denkt man eher in den, sagen wir, sozusagen einfachen Gedankengängen."

    Mit dem Schlüsseljahr 1941 aufs Engste verbunden sind die von 1961 und 1991: die Jahre des Mauerbaus und der Auflösung der Sowjetunion. Die russischen und deutschen Historiker, Angehörige eines seit 2005 bestehenden Arbeitskreises, diskutierten über viele Folgen dieser Ereignisse in ihren Gesellschaften. Der inhaltliche Bogen reichte vom Uranbergbau in der Wismut über die Beziehungen von sowjetischen Soldaten zu DDR-Bürgern bis zur noch immer offenen Frage, ob der einstige Verfassungsschutzpräsident Otto John 1954 auf eigenen Wunsch nach Ostberlin ging oder dorthin entführt wurde. Einige neue, in deutsch-russischer Zusammenarbeit entstandene Forschungsergebnisse wurden präsentiert, so mit Blick auf den 50. Jahrestag des Mauerbaus. Die treibende Figur in der Krise um Berlin war Nikita Chruschtschow, sagt der Historiker Manfred Wilke.

    "Nach dem letzten großen Gipfeltreffen zwischen Chruschtschow und Kennedy in Wien, wo klar wurde, die Amerikaner werden nicht abziehen, war die Schließung der Grenze weltpolitisch der Rückzug der Sowjets aus dieser Krise, um die Situation in Berlin zu verändern. Es war die Befestigung des Status quo der Teilung und auf der anderen Seite war es die Sicherung des SED-Staates für 28 Jahre."

    Auch die politische Überwindung der mit der Mauer zementierten Teilung war nur möglich mit der Zustimmung Moskaus. Ohne Gorbatschow, so Alexander Vatlin, wäre die deutsche Einheit undenkbar gewesen. Dem letzten Staats- und Parteichef hat das allerdings viel Kritik im eigenen Land eingebracht. So wirft man ihm vor, er habe die historische Entschädigung für das Leid im Zweiten Weltkrieg preisgegeben. Aus Sicht Vatlins gibt es in Russland das Potenzial für eine neue Bewertung von Gorbatschows Politik. Eine jüngere Generation betrachtet die DDR längst nicht mehr als Faustpfand, sagt der Historiker. Vielmehr denke sie, in einem anderen Sinn, an die Weltgeltung ihres Landes.

    "Es geht um Innovationen, um die Kreativität. Und ich glaube unsere Jugend, auch die Historiker, auch wenn sie nicht gerade zum Stoßtrupp gehören, ist optimistisch eingestellt. Und sie sehen, dass ein Sonderweg Russlands ohne Europa überhaupt nicht geht."

    Das wäre aber schon der Blick in die Zukunft der Erinnerung, ein Sprung weit über den Rahmen einer erkenntnisreichen Tagung in Tutzing. Sie führte auch das vor Augen: Der Blick über die Nationalgeschichte hinweg wird immer wichtiger, gerade beim Nachdenken über die Erinnerung an historische Wendepunkte im 20. Jahrhundert.